Abgang mit Nebenwirkungen

Zwölf Jahre stand er an der Spitze Israels. Nun ist der Weg frei für eine Anti-Netanjahu-Koalition – doch ein Comeback ist nicht ausgeschlossen.

Erstmals seit zwölf Jahren bekommt Israel eine Regierung, die nicht von Benjamin Netanjahu angeführt wird. Nach der Vereidigung der neuen israelischen Regierung mit Naftali Bennett und Jair Lapid an der Spitze ist es Zeit, die Bilanz der zwölf Jahre Netanjahu-Herrschaft zu ziehen. Um zu verstehen, was in Netanjahu vorging und was ihn antrieb, muss zuerst auf die Innenpolitik geschaut werden.

Im letzten Jahr zeigten „Anti-Bibi“-Demonstranten Aufkleber oder Plakate, auf denen nur ein Wort stand: „Geh!“. Sie protestierten gegen Netanjahus Taktik, die verschiedenen Segmente der Gesellschaft gegeneinander aufzuhetzen: Juden gegen Araber, Religiöse gegen Laizisten, Inländer gegen Asylsuchende und so weiter. Er, der Populist, hetzte gegen „die Eliten“. Alle, die ihm im Wege stehen, gelten als Linke, also als Verräter. Für ihn ist kein Preis zu hoch, um politisch zu überleben.

Benjamin Netanjahu ©seppspiegl

Um an der Macht zu bleiben, duldete er unter anderem die Alleingänge seiner ultraorthodoxen Verbündeten und gab ihren Forderungen nach – zum Ärger der säkularen Menschen im Lande. Besonders auffällig wurde dieses Verhalten Netanjahus im letzten Jahr, als sich herausstellte, dass die Ultraorthodoxie die vom Staat vorgegebenen Corona-Auflagen nicht beachtet. Nicht weniger auffällig – sein Umgang mit der Justiz: Er, an der Spitze der Exekutive, versuchte konsequent, die Justiz zu diskreditieren, wo sie sich gegen die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten sowie verfassungswidrige Verstöße der Legislative und Exekutive positionierte.

Sein persönliches Ziel war eindeutig: sich vom gegen ihn geführten Korruptionsprozess zu befreien. Dass Israels Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in zwei Jahren viermal zur Wahlurne gebeten wurden, ist einzig und allein Netanjahus Bestreben zu verdanken, den gegen ihn geführten Prozess zu verhindern. Dass damit die Demokratie in Israel erodiert, schien ihn wenig zu interessieren.

Der Konflikt um Palästina und in Israel nimmt immer mehr religiöse Züge an.

Seit seinem Beginn als Regierungschef 2009 ließ er zudem zu, dass sich die schleichende Annexionspolitik beschleunigte. Die Zahl der „wilden Siedlungen“, in denen die Eiferer der „Hügel-Jugend“ sich niederlassen, stieg in den letzten Jahren rasant. Was das für die Zwei-Staaten-Lösung bedeutet, ist sowohl den Israelis als auch den Palästinensern klar: Sollte die schleichende Annexion die Gründung eines Staates Palästina unmöglich machen, führt kein Weg an einem System der Apartheid vorbei. Vor den letzten Wahlen hatte Netanjahu sogar dafür gesorgt, dass die „Partei der religiösen Zionisten“, die den „Transfer“ der Palästinenser anstrebt und rassistische Ziele verfolgt, in das Parlament kommt, um eine Mehrheit der Rechtsnationalisten in der Knesset unter Führung der Likud zu sichern.

Die Warnung, die bereits vor 50 Jahren ausgesprochen wurde, dass Demokratie unteilbar ist und dass eine nicht demokratische Herrschaftsstruktur in den besetzten Gebieten auch auf das Kernland Israel überschwappen wird, hat sich während der Ära Netanjahu bewahrheitet. Dabei geht es nicht nur um die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser in der Westbank oder in Ost-Jerusalem – wie der Fall der Evakuierung von arabischen Bewohnern des Viertels Scheich Dscharrah zeigt –, sondern vor allem um die israelischen Araber, sprich: Palästinenser, die in vieler Hinsicht Bürger zweiter Klasse sind.

Vor diesem Hintergrund brachen in den letzten Wochen der Netanjahu-Regierung pogromartige Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern in Israels Städten aus. Spätestens mit der Verabschiedung des Nationalstaatsgesetzes 2018 war die formale Grundlage für eine Diskriminierung der nicht jüdischen Bevölkerung im Lande geschaffen. Außerdem zeigte Netanjahus Schulterschluss mit Rassisten, die für die Ausweisung zehntausender Asylbewerber aus Afrika plädieren, dass nach seiner Meinung der jüdische Charakter des Staates nicht nur über den Kontrast zu „den Arabern“ beziehungsweise Muslimen zum Ausdruck kommen muss.       

Und auch das ist eine Hinterlassenschaft der Ära Netanjahu: Der Konflikt um Palästina und in Israel nimmt immer mehr religiöse Züge an. Juden gegen Muslime und vice versa. Es war Netanjahu, der die Anerkennung Israels durch die Palästinenser als „Staat der jüdischen Nation“ zur Bedingung für ein Abkommen mit den Palästinensern machte. Nicht nur die Palästinenserinnen und Palästinenser wissen, welche jüdisch-religiösen Vorstellungen sich hinter dieser Bedingung verbergen.

In der Ära Netanjahu ist die Allianz zwischen dem radikalen jüdischen Nationalismus und der Ultraorthodoxie, anders als im traditionellen Zionismus, sehr eng geworden. Die größten Siedlungen in der Westbank sind ultraorthodoxe Siedlungen. Als machtvolle Partner in Netanjahus Regierungen konnten die religiösen Parteien ihre Politik der „Religionisierung“ der Gesellschaft intensivieren und ihren Status als Exklave untermauern.

Als machtvolle Partner in Netanjahus Regierungen konnten die religiösen Parteien ihre Politik der „Religionisierung“ der Gesellschaft intensivieren.

Die Ära Netanjahu hinterlässt auch paradoxe Spuren. Als er 2020 nach den dritten Wahlen einen taktischen Befreiungsschlag probte, um eine Regierung zu bilden, in der er – der stets gegen die arabischen Parteien in Israel wetterte – eine arabische Partei als Partner zu gewinnen versuchte, ahnte er nicht, dass er mit diesem Tabubruch seinen Gegnern aus der Sackgasse half. Er rechnete auch nicht damit, dass seine ehemaligen politischen Konkurrenten innerhalb der Likud-Partei – Naftali Bennett, Gideon Sa’ar und Avigdor Liebermann –, die er bekämpft und erniedrigt hat, sich in einer Koalition gegen ihn zusammenfinden und ihn nun vom Podest stürzen. Aber auch innerhalb seiner Partei gehen bereits weitere Diadochen in Stellung. Der Kampf um den Platz des Alphatiers des Likud ist bereits im Gange.

Auf dem Feld der Außenpolitik scheint für Bibi-Anhänger die Bilanz der letzten zwölf Jahre durchweg positiv auszufallen. Das Abraham-Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten im September 2020 gilt nicht nur als Durchbruch in den Beziehungen zwischen Israel und der arabischen Welt. Es schien auch zu zeigen, dass eine Normalisierung der Beziehungen nicht mehr vom Fortschritt in den Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern abhängig sein muss. Netanjahus Bar-Ilan-Rede 2009 zur Zwei-Staaten-Lösung blieb toter Buchstabe.

Aus Sicht der israelischen Nationalisten zahlten sich Netanjahus offene Ablehnung der Politik Obamas und die enge Freundschaft mit Präsident Trump aus. Die USA haben die Souveränität Israels auf den Golanhöhen anerkannt und ihre Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt – zwei für die Mehrheit der Israelis willkommene, symbolträchtige Entscheidungen, die bis dato unvorstellbar waren. Trump teilte auch Netanjahus Ansicht, dass der Atomwaffen-Deal mit dem Iran 2015 untauglich sei, und kündigte diesen auf. Israels Kampfansage an den Iran – mit der Unterstützung von Trump und den USA – erklärt wiederum auch die Bereitschaft einiger Golfstaaten, die sich vom Iran bedroht fühlen, ihre Haltung gegenüber Israel zu revidieren.

Netanjahu-Anhänger verzeichnen auch seine Europapolitik als Erfolg. Er hat es geschafft, in die EU, die viele Israelis mit Skepsis betrachten, einen Keil zu treiben, indem er besonders enge Beziehungen zu den Visegrad-Staaten und zu rechtskonservativen Politikern knüpfte, was dabei half, manche antiisraelischen Beschlüsse zu blockieren. In der Ära Netanjahu verließ Israel darüber hinaus die propagandistische Defensive und ging zur Offensive über. Statt für die Vereitelung der Zwei-Staaten-Lösung Abbitte zu leisten, bezeichnete Netanjahu die Kritik an Israel als Ausdruck von Antisemitismus. Der Bundestagsbeschluss vom Mai 2018 zur Bekämpfung der propalästinensischen Bewegung „Boycott, Divestment, Sanctions“ als angebliche Speerspitze des Antisemitismus in Deutschland markierte einen Höhepunkt in der angeblich erfolgreichen Spießumdrehung. Für Bibi-Fans galt auch der Applaus von außerhalb Europas, aus Brasilien, Indien oder den Philippinen, als Gewinn.

Die Hoffnung Netanjahus, dass die Palästinafrage einfach „verschwindet“, ist verpufft.

Ob das alles tatsächlich als Erfolg zu bewerten ist, ist jedoch sehr fraglich. Die Ereignisse im Mai 2021 sprachen eine deutliche Sprache. Die Hoffnung Netanjahus, dass die Palästinafrage einfach „verschwindet“, ist verpufft. Der neue Gazakrieg und die Unruhen im Kernland Israel zeigten mit Nachdruck, dass Netanjahus Plan nicht aufgegangen ist.

Auch der Schulterschluss mit Trump ist nach Januar 2021 keine Erfolgsgarantie mehr. Im Gegenteil: Bidens Erfolg in den USA war nicht nur für Trump eine Niederlage, sondern auch für Netanjahu eine herbe Enttäuschung. Die USA bemühen sich derzeit um die Wiederbelebung des Atomwaffen-Deals mit dem Iran, wie auch um den Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern, der zur Zwei-Staaten-Lösung führen könnte.

Netanjahus einseitige Parteinahme zugunsten der Republikaner führte zum Konflikt mit der Demokratischen Partei und ihrem neuen Präsidenten Joe Biden. Netanjahus Absicht, auch gegen den Willen des neuen amerikanischen Präsidenten eine eigene Iran- und Palästinapolitik zu betreiben, weist nicht nur auf seinen Größenwahn hin, sondern auch auf seine absurde Bereitschaft, eine Konfrontation mit dem wichtigsten Verbündeten Israels zu riskieren. Und in der Post-Trump-Ära ist die Nähe zu konservativen Politikern weltweit, wie Orban, Bolsonaro, Duterte, Modi und Putin, keine unbedingte Empfehlung für den Staat Israel.

Was die neue Regierung zusammenhält, ist zweifellos die Person Netanjahu. Solange er nicht aus der Politik ausscheidet, kann dieses Parteien-Sammelsurium die Regierung führen und sich um die Sanierung der israelischen Demokratie bemühen. Man darf jedoch nicht vergessen: Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler sowie der Abgeordneten steht rechts.

Eine rechte Koalition ohne Bibi ist nun vorstellbar. Ebenso ist auch eine Rückkehr Netanjahus nicht auszuschließen. Denn in Israel ist das Comeback nach einem politischen Abgang keine Seltenheit. Bibi schied bereits 1999 als Regierungschef aus, konnte jedoch 2009 das Amt wieder erobern. Die Ära Netanjahu für vollständig abgeschlossen zu halten, wäre also doch verfrüht. Der Rückblick auf die zwölf Jahre seiner Herrschaft muss daher vorsichtshalber als „Zwischenbilanz“ gelten.

Shimon Stein war Israels Botschafter in Deutschland (2001 bis 2007) und ist derzeit Senior Fellow am Institute for National Security Studies (INSS) an der Universität Tel Aviv.

Moshe Zimmermann ist ein israelischer Historiker und Antisemitismusforscher. Er ist Autor mehrerer Bücher und Emeritus der Hebrew University Jerusalem.

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