Verborgene Schönheit in der Eifel
St. Martin in Kirchsahr mit Flügelaltar und Türkenmadonna
Von Gisbert Kuhn
Es sind – links und rechts der großen Verkehrswege – oft die kleinen Seitentäler, die mit Überraschungen und unerwarteten Kleinodien aufwarten Von „hidden beauties“ sprechen in solchen Fällen gern die Engländer – von „verborgenen Schönheiten“. Kirchsahr gehört dazu, ein idyllisches Dörfchen, eingeklemmt zwischen steilen Berghängen in der Nordeifel. Genaugenommen gilt die Aufmerksamkeit der kleinen, inmitten des Ortes auf einer Anhöhe stehenden unscheinbaren Bruchsteinkirche St. Martin. Beanspruchen schon die Suche der Nebenstrecke und die Fahrt durch das enge Tal des sich dahin schlängelnden Bächleins Sahr die volle Aufmerksamkeit des Besuchers, so nimmt er am Zielort besonders gern den Kirchturm in den Blick, der ihm wie ein erhobener Finger anzeigt: „Hier bin ich“.
Um es kurz zu machen, das kleine Gotteshaus birgt in seinen Mauern eine große Kostbarkeit und eine – sagen wir – kuriose Rarität. Wenn der Besucher das Bauinnere betritt, wird er sofort in den Bann gezogen von dem farbenprächtigen Flügelaltar. Wer das grandiose Werk des Meisters Matthias Grünwald kennt – den im Museum Unterlinden von Colmar stehenden „Isenheimer Altar“ -, dem wird es nicht als ungebührliche Übertreibung klingen, wenn im verborgenen Eifeldorf die bemalten Tafeln von Kirchsahr gern als eine kleine Widergabe des weltberühmten Werks im Elsass gerühmt werden.
Tryptichon aus der „Kölner Schule“
Es ist ein so genanntes Tryptichon, das da hinter dem steinernen Altar aufgebaut steht. Also ein beinahe quadratischer Mittelteil und zwei Flügeltüren. Der (aus Sicht der Betrachter) linke Flügel enthält sechs Szenen aus dem Leben Christi von der Verkündigung bis zur ersten Begegnung des Heilands mit den Schriftgelehrten. Die große, zentrale Tafel zeigt an den Seiten in einer Art Miniaturen je drei Passionsszenen einschließlich Grablegung und Auferstehung sowie im Zentrum die Kreuzigung Jesu. Um einen Blick auf die Außenseiten der Flügeltüren zu werfen, müssen sich die interessierten Besucher freilich schon um den Gesamtaltar herum bemühen. Oder aber während der Fastenzeit das Kirchlein besuchen. Denn von Aschermittwoch bis Ostersonntag werden die Flügel geschlossen. Dann „empfangen“ der Apostel Petrus, der Ordensgründer Benedikt sowie die Patrone der Stiftskirche des nahegelegenen Bad Münstereifel, Chrysantus und Daria, die Gläubigen.
Der (oder die) Maler des Altarbilds ist (sind) nicht bekannt. Als sicher gilt, dass es im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts als Auftragswerk für das Stift Münstereifel in der Kölner “Meister-Wilhelm-Schule“ entstand. Gesichert scheint auch, dass es 1782 aus der vergleichsweise pompösen Münstereifeler Stiftskirche in die Verborgenheit der Dorfkirche von Kirchsahr gelangte. Um den genauen Hergang freilich ranken sich Legenden. Die am liebsten gebrauchte lautet so: Der damalige Pfarrer von Kirchsahr, Johannes Cremer, ein offensichtlich wortgewaltiger Herr, habe einst die Stiftsherren in Münstereifel mit einer Predigt so beeindruckt, dass sie ihm einen Wunsch frei stellten. Er habe daraufhin den Dreiflügelaltar gewählt.
Großzügig, oder „Krempel entsorgt“?
Zeit und Personen stimmen unzweifelhaft. Nicht ganz eindeutig ist dagegen bis heute, ob die hohen Herren von Münstereifel tatsächlich so großzügig waren – oder ob sie sich nicht vielmehr eines „altmodischen“ Krempels entledigen wollten, für den es keinen Bedarf mehr gab. Denn in jener Zeit hatte sich schließlich auch der Zeitgeschmack deutlich verändert. Schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte das Stift mit der barocken Umgestaltung seiner Kirche begonnen und in diesem Zusammenhang auch einen entsprechenden Hochaltar in Auftrag gegeben. Entsprechend wurde das alte, spätgotische und der „Kölner Malerschule“ entstammende Bild auf den Speicher entsorgt. Immerhin aber war es noch gut genug, um nach Kirchsahr entsorgt zu werden.
Die wahre Bedeutung und den Wert des gotischen Flügelaltars erkannte man erst im 19. Jahrhundert wieder, als sich die Romantik in einer idealisierten Rückschau dem Mittelalter und damit auch gotischen Stilrichtungen zuwandte. 1862/63 erfolgte eine erste Instandsetzung – freilich mit nur mäßigem Erfolg. Erst seit einer wirklich gründlichen Überarbeitung vor einigen Jahren erstrahlt das Kunstwerk in seiner ursprünglichen Schönheit. Kunstkenner zählen die beteiligten Maler zur einer der ersten deutschen Künstlergenerationen, die sich von der seinerzeit üblichen, starren Fächenmalerei byzantinischen Stils zu lösen begann und Anfänge von Raumtiefe und Landschaftsdarstellungen erkennen ließ. Laut Expertenmeinung entstand das Bild zwischen 1400 und 1408.
Ein abgeschlagener Kopf
Längst hat der Besucher natürlich an der linken Wandseite die eindrucksvolle, 1,65 Meter große, auf einem Halbmond stehende Madonna im Strahlen- und Rosenkranz entdeckt. Man kennt solche Darstellungen vor allem aus dem süddeutschen und österreichischen Raum. So wie dort hat Maria auch hier das Jesuskind auf dem auf dem linken Arm. Doch ansonsten unterscheidet sich diese Figur fundamental von den zumeist bekannten Statuen. Denn erstens trägt die Gottesmutter in der Kirche von Kirchsahr in der rechten Hand ein Schwert, und zweitens hält das Christuskind in seiner linken Hand an einem Mittelzopf den – abgeschlagenen Kopf eines türkischen Kriegers. Leicht erkennbar an dem für die damalige Zeit üblichen langen Schnurrbart.
Es handelt sich um eine so genannte Türkenmadonna. Die figürliche Darstellung lässt leicht Rückschlüsse auf das Alter der Figur zu. Solche – auch und gerade im religiösen Bereich üblichen – Werke fanden als Votivgaben nach der erfolgreichen Abwehr der Türken vor Wien 1683 und dem Zurückdrängen der Osmanen vor allem durch Prinz Eugen weite Verbreitung. Und Maria galt als Patronin im Kampf gegen die bis Mitteleuropa vorgedrungenen türkischen Heere. Auch die „Trophäe“ in der Hand des Christuskindes war (und ist) aus der damaligen Sicht nichts Ungewöhnliches. Dahinter steht der einstmals grausame Brauch, dem getöteten Feind den Kopf abzuschlagen. Der einstmals grausame Brauch? Sind nicht erst vor gar nicht langer Zeit entsetzliche Bilder von Enthauptungen durch „Gotteskrieger“ des so genannten Islamischen Staates rund um die Welt gegangen…?
Wie erwähnt, die kleine Kirche von Kirchsahr bietet Kostbarkeit und Kuriosität. Und, nicht zu vergessen, auch ihre Orgel geht auf das 17. Jahrhundert zurück. Von den äußersten Pfeifen sagt man, sie stammten sogar schon aus dem 15. Jahrhundert.
Besuchern sei freilich empfohlen, nicht aufs Geradewohl den Weg ins Eifeldorf zu nehmen, sondern sich zuvor anzumelden. Denn im Normalfall ist die Kirche geschlossen.
Schlüssel zur Kirche:
Frau Irene Mahlberg
Tel: 02643 903504
Anfahrt:
A 61 Ausfahrt Bad Neuenahr oder vom Meckenheimer Kreuz
B 257 Richtung Adenau/Nürburgring bis Kreuzerg (erkennbar an der Burg)
L 76 nach Kirchsahr
Einkehr:
Gasthaus und Hotel :
Zum Sahrtal Kirchsahr
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