Sprengpotenzial

Warum Europa den Schulterschluss mit Ostasien suchen sollte, um eine Nachrüstung von INF-Waffen zu verhindern.

Bei der ballistischen Interkontinental-Rakete RS-28 Sarmat, die in Russland entwickelt wird, fliegen die manöverfähigen Gefechtsköpfe voraussichtlich schneller im Vergleich zu ihren Vorläufern. ©Ministry of Defence of the Russian Federation

Für Europa ist das Ende des INF-Vertrags äußerst problematisch. Wieder steht der Kontinent an der Schwelle zu einer Nachrüstungsdebatte. Um die erneute Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen zu verhindern, lohnt sich ein Blick nach Fernost – denn auch Amerikas Verbündeten in Asien droht eine Nachrüstung. Und auch sie haben wenig Grund, sich neue amerikanische Raketen herbeizuwünschen.

Um diese Entwicklung zu erfassen, sollte man zunächst die Interessen und Motive Washingtons genauer betrachten. Sowohl in Europa, als auch in Asien sieht sich die aktuelle amerikanische Regierung einem aggressiven Ringen mit revanchistischen Großmächten ausgesetzt. In beiden Fällen drohen – so die jüngsten US-Strategiedokumente – die USA militärisch ins Hintertreffen zu geraten.

In Europa hat sich aus amerikanischer Sicht die Bedrohungslage seit dem russischen Einmarsch auf der Krim signifikant verändert: Russland ignoriert internationale Regeln und zögert nicht vor direkter Gewaltanwendung. Im Zweifelsfall – so die Befürchtung vieler amerikanischer Sicherheitsexperten – könnte Russland auch den offenen Konflikt mit der NATO suchen, da Moskau über deutlich mehr Nuklearwaffen in Europa verfügt als die USA. Dass Russland nun zusätzlich verbotene INF-Raketen mit Reichweiten zwischen 500  und 5.500 km produziert und damit Amerikas Verbündete bedroht, ist nur Wasser auf die Mühlen derer, die dem Kreml sinistere Motive unterstellen und Amerikas Fähigkeit zur Abschreckung in Gefahr sehen.

Während die meisten europäischen NATO-Partner absolut keinen Appetit auf neue amerikanische Mittelstreckenwaffen in Europa haben, sehen einige östliche Länder das komplett anders.

Mit Blick auf Asien wiederum warnen Amerikas Militärplaner vor dem wachsenden Raketenarsenal Chinas, welches zu über 90 Prozent im Reichweitenspektrum des INF-Vertrags liegt. Richtig ist, dass China keine INF-Vertragspartei ist und in den vergangenen Jahren massiv in landgestützte Raketen zur sogenannten Bereichsverweigerung (Anti-Access/Area Denial) investiert hat. Mittels dieser Waffen, so die amerikanischer Befürchtung, könnte Peking die überlegene amerikanische Seepräsenz von den umstrittenen Inselgebieten des südchinesischen Meeres fernhalten. Die Bewegungsfreiheit amerikanischer und anderer Schiffe in den Gewässern Ostasiens wäre zunehmend in Frage gestellt.

Amerikas Antwort auf diese verschiedenartigen Herausforderungen in Europa und Ostasien ist nun der Ausstieg aus dem INF-Vertrag. Bevor eine erneute Nachrüstungsdebatte und ein weiterer Raketenwettlauf europäische Realität werden, müssten neue amerikanische INF-Raketen zunächst entwickelt und gebaut werden. Dies würde schätzungsweise zwei bis drei Jahre dauern; ein entsprechendes Forschungsprogramm des Pentagons wurde bereits 2018 angestoßen. Erst dann käme die heikle Frage der Stationierung.

Während die meisten europäischen NATO-Partner – darunter vor allem Deutschland – absolut keinen Appetit auf neue amerikanische Mittelstreckenwaffen in Europa haben, sehen einige östliche Länder das komplett anders. Der jüngste polnische Vorstoß für die Errichtung eines „Fort Trump“ genannten zusätzlichen US-Stützpunkts in Polen zeigt, dass Warschau durchaus auch außerhalb des NATO-Konsenses zu handeln bereit ist. Sollten aber einige Bündnisländer eine Nachrüstung vehement ablehnen und andere diese vorantreiben, wäre das für die NATO fatal und für Putin ein Fest.

Auch in Ostasien droht ein Rüstungswettlauf. An Land stationierte amerikanische Raketen würden den militärischen Handlungsspielraum Washingtons gegenüber China zunächst deutlich erweitern. Doch auch in der Ostasienregion sind Amerikas Verbündete alles andere als begierig auf diese Waffen. Südkorea würde sich unter keinen Umständen den vorsichtigen Frühling im bilateralen Verhältnis zum Norden von neuen Raketen kaputtmachen lassen. Australien oder die Philippinen würden sich regional durch eine Stationierung isolieren. Selbst Japan – von vielen in Washington als willigster Helfer gegen die Volksrepublik eingeschätzt – hat vor einem möglichen Rüstungswettlauf gewarnt und das Weiße Haus aufgefordert, nicht aus dem INF-Vertrag auszusteigen. Stationierungseuphorie sieht anders aus.

Braucht es also stärkere Drohungen, auch aus Deutschland, beispielsweise im Hinblick auf die Pipeline „Nordstream 2“?

Diese Länder haben guten Grund zur Skepsis. Denn selbst wenn Japan oder vielleicht auch weitere Länder in der Region einer Stationierung zustimmen würden, wäre dies vor allem zu ihrem eigenen Nachteil, da China eine militärische Auseinandersetzung mit den USA zwangsläufig auf die Territorien dieser Staaten ausdehnen müsste. Hinzu kommt, dass es im Ernstfall sehr schwierig für das amerikanische Militär wäre, zwischen nuklearen und nicht-nuklearen chinesischen Zielen einwandfrei zu unterscheiden. Neue INF-Waffen in Ostasien würden dieses Unterscheidungsproblem nur noch verschärfen. Denn mit ihnen stiege das Risiko der vertikalen Eskalation, da China im Zweifelsfall gezwungen wäre, seine Nuklearwaffen früh in einem möglichen Konflikt einzusetzen – qua Motto: Lieber die nukleare Schwelle überschreiten, solange man noch kann. Mögliche chinesische Nuklearschläge würden dann wohl vor allem gegen solche Verbündete erfolgen, die amerikanische INF-Raketen beherbergen.

Die Entwicklung neuer amerikanischer INF-Waffen steht und fällt ultimativ mit der Frage ihrer Stationierung. Sollten (fast) alle Verbündeten Washingtons abwinken, würde wohl auch der Kongress keine Gelder bewilligen. Damit entsteht durchaus ein Anreiz, eine breite, transregionale Koalition der Stationierungsunwilligen zu schmieden. Doch ein solcher Ansatz birgt Risiken. Einzelne Länder wie Polen, Großbritannien oder Japan könnten ausscheren. Washington könnte militärischen und wirtschaftlichen Druck ausüben. Hinzu käme, dass sich Amerikas Verbündete gegen den eigenen Schutzpatron wenden würden, statt russisches und chinesisches Fehlverhalten abzustrafen.

Dabei wird gerade gegenüber Russland mehr statt weniger Härte wohl unabdingbar sein. Öffentliche Appelle an Moskau, doch bitte zum Vertrag zurückzukehren, werden nicht ausreichen. Auch ein neues Rüstungskontrollregime – eventuell unter Einbeziehung dritter Staaten –, wie zu Recht von Außenminister Maas gefordert, ist ohne Druck auf Moskau nur schwer vorstellbar. Das Problem ist, dass das stärkste Druckmittel – die Stationierung neuer US-Raketen – den eigenen Interessen (noch) zuwider läuft. Bliebe also wieder nur das Mittel der wirtschaftlichen Sanktionen. Aber auch hier wäre der Erfolg alles andere als sicher. So haben die bisherigen Sanktionen der EU dem Minsker Prozess noch zu keinem Durchbruch verholfen. Braucht es also stärkere Drohungen, auch aus Deutschland, beispielsweise im Hinblick auf die Pipeline „Nordstream 2“?

Sollten die kommenden Monate keinen unerwarteten diplomatischen Durchbruch bringen, müssen sich die Europäer auf turbulente Jahre einstellen. Neben der eigenen innereuropäischen Solidarität sollten sie dabei auch die maximal mögliche Nähe zu den ebenfalls betroffenen Verbündeten in Ostasien suchen, um den ‚worst case‘ – eine erneute Nachrüstung – zu verhindern.

Dr. Ulrich Kühn ist Senior Research Associate am Vienna Center for Disarmament and Non-Proliferation und Nonresident Scholar am Carnegie Endowment for International Peace.

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