Revolte gegen die Vernunft

Der Verdruss an der Eliten-Politik ist nachvollziehbar. In den Protesten gegen Impfung und Corona-Regeln schlägt er jedoch in völlige Verrücktheit um.

Die Diagnose einer „Spaltung“ der Gesellschaft, einer politischen „Polarisierung“, gehört heute zum begrifflichen Grundbestand gängiger Analysen: Gesellschaften seien gebeutelt von wachsender Gereiztheit und sich vertiefenden Spaltungen. Die Diagnosen weichen in Details voneinander ab, aber in einigen Grundannahmen herrscht Einigkeit. Erstens: Es gibt zunehmend gereizte, gehässige Auseinandersetzungen, weitgehend entlang – aber auch jenseits – einer traditionellen Links-Rechts-Achse. Bei diesen Auseinandersetzungen geht es in aller Regel um Fragen, die man mit dem Begriff der „Kulturkriege“ bezeichnen könnte: um Gender, Rassismus und Antirassismus, Einwanderung, um die Frage, wer zum „Wir“ dazu gehört – ja, sogar um Lebensstilfragen. Gerne wird davon gesprochen, dass manche Gesellschaften geradezu in zwei verfeindete „Stämme“ zerfallen.

© ThomasWolter/pixabay.com

Zweitens ist man sich einig, dass es gerade in unterprivilegierten Bevölkerungsteilen, der alten Arbeiterklasse oder auch der an den Rand gedrängten unteren Mittelschicht eine wachsende Entfremdung vom traditionellen politischen System gibt. Eine Wut, eine Enttäuschung darüber, dass „die sich für uns gar nicht interessieren“. Oft ist dann zu hören, dass man in einer entsolidarisierten Gesellschaft, in der die Sicherheit gerade für die materiell Unterprivilegierten immer prekärer wird, auf „niemanden mehr zählen kann“. In einer Art negativem, depressiven Individualismus sagen viele Menschen: „Ich kümmere mich nur noch um mich selbst.“ Diese gesellschaftlichen Milieus sind besonders empfänglich für rechte Populisten und Extremisten, die gleichsam bekunden: „Ja, niemand hört auf Dich. Aber ich bin Deine Stimme.“

Bei diesen Auseinandersetzungen geht es um Fragen, die man mit dem Begriff der „Kulturkriege“ bezeichnen könnte: um Gender, Rassismus und Antirassismus, Einwanderung, um die Frage, wer zum „Wir“ dazu gehört.

Für traditionelle Arbeiter- und Linksparteien und progressive politische Parteien ist dies eine besondere Herausforderung. Denn einerseits haben gerade Linksparteien viel Solidarität mit Revolten und Aufbegehren aus dem Volk gegen herrschende Eliten. Über viele Jahrzehnte ihres Bestehens waren sie sogar die Träger solcher Revolten. Andererseits stellen sie nun fest, dass sie in den Augen vieler, die sich enttäuscht abwenden, selbst als Teil jenes „Establishments“ und jener „Elite“ angesehen werden, die für die Enttäuschungen gesorgt haben. Linke sehen sich gerne als Teil der Lösung, müssen dann aber erstaunt bemerken, dass sie für einen Teil ihrer potentiellen Wählerschaft Teil des Problems sind.

Das soll keineswegs heißen, dass die Anhänger rechter Anti-System-Parteien vornehmlich Teile einer heimatlos gewordenen Arbeiterklasse sind. Aber die Anhängerschaft kommt eben auch aus dieser Gruppe. Wer ökonomisch unter Druck ist, wer mit Arbeitsplatzunsicherheit kämpft, wer mit stagnierenden Löhnen konfrontiert ist und sich als „Verlierer“ ökonomischer Transformationen sieht, fühlt sich leicht nicht mehr repräsentiert und zugleich abgewertet und als Opfer von Ungerechtigkeit. Rechte Populisten schaffen es, die traditionellen „Werte“ der arbeitenden Klassen geschickt zu instrumentalisieren.

Die linken und progressiven Parteien haben das Problem natürlich längst erkannt und versuchen auf die unterschiedlichsten Weisen darauf zu reagieren – manchmal mit einem Linksruck, manchmal mit einem Rechtsruck. Manchmal löst all das heillose Strategiedebatten aus, die nur zu weiterer Handlungsunfähigkeit führen. Anderen gelingt eine allmähliche Kurskorrektur. Dass die deutschen Sozialdemokraten mit dem Slogan „Respekt“ in die Wahl zogen, ist dieser Diagnose geschuldet und hat immerhin dazu geführt, dass die SPD Platz eins und das Kanzleramt zurückeroberte. Obwohl sich politische Kulturen und Traditionen weltweit unterscheiden, ähneln sich diese Diskurse und Rhetorik auf bemerkenswerte Weise. Der technologische Strukturwandel von Öffentlichkeit durch Internet und Social Media trägt hierzu massiv bei. Er verändert praktisch alles und wird doch in der Analyse oft dramatisch unterschätzt.

Rechte Populisten schaffen es, die traditionellen „Werte“ der arbeitenden Klassen geschickt zu instrumentalisieren.

Dieser Tage wird die Diagnose von „Spaltung“ und „Polarisierung“ noch in einem anderen Zusammenhang beinahe täglich bemüht: im Zusammenhang mit den Anti-Covid-19-Maßnahmen. Mit den Auseinandersetzungen um Lockdowns, der Ablehnung der Impfung, der Leugnung der Pandemie beziehungsweise deren Gefährlichkeit – und dem Aufkommen von Verschwörungsnarrativen. Auch das ist ein globales Phänomen, aber dennoch gibt es bemerkenswerte nationale Unterschiede. In den USA ist die Ablehnung der Anti-Covid-Maßnahmen eine gemeinsame Parole der radikalen Rechten unter ihrer Führungsfigur, dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump. In anderen Ländern ist dies weniger ausgeprägt. Auch die Skepsis und Ablehnung gegenüber der modernen Medizin – und damit gegenüber der Impfung – variiert sehr. Portugal hat eine Impfquote von beinahe 90 Prozent, Dänemark von fast 87 Prozent. Unter den traditionell „westeuropäischen“ EU-Staaten haben dagegen Deutschland, Österreich und die Schweiz die niedrigsten Impfquoten. In diesen Ländern gibt es rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien, die gegen die Impfung mobilisieren.

Dieselben Gruppen, die auch in anderen „Kulturkampf“-Fragen mit der Behauptung punkten, sie seien die Stimme des einfachen Volkes, des kleinen Mannes, sagen nun: „Die Eliten, die Regierung, sie wollen euch mit einem Impfstoff vergiften.“ Die Regierung etabliere einen Impfzwang, eine Corona-Diktatur, sie sei von Big Pharma gekauft, sei Büttel sinisterer Weltherrscher, und nütze eine erfundene – oder übertriebene – Krankheit aus, um endgültig die Freiheit zu untergraben und das normale Volk zu kujonieren. Das Erstaunliche ist, dass ihnen ein nicht unerheblicher Teil ihrer Anhängerschaft bei dieser völlig verrückten Argumentation folgt. Gewiss ist der Teil jener, die den radikalen Unsinn tatsächlich glauben, eher klein. Aber eine durchaus signifikante Gruppe hat Zweifel an der medizinischen Wissenschaft. Statt den Experten zu glauben, wenden sie sich Leuten zu, die im Internet dozieren und mit einem „Wissen“ prahlen, das der breiten Bevölkerung angeblich vorenthalten werde. Was passiert da?

Es gibt einen massiven Vertrauensverlust in das gesamte politische System. Niemandem wird mehr Glauben geschenkt, der als Teil des Establishments wahrgenommen wird.

Es gibt offenbar einen massiven Vertrauensverlust in das gesamte politische System. Niemandem wird mehr Glauben geschenkt, der als Teil des Establishments wahrgenommen wird. Wie entfremdet und frustriert müssen Menschen sein, dass sie offiziellen Stellen nichts mehr glauben und im Gegenteil dazu bereit sind, für bare Münze zu nehmen, was auf „Widerstands-Kanälen“ auf Telegram oder WhatsApp lesen? Rebellion geht üblicherweise mit Emanzipation einher. Aber hier erleben wir geradezu eine Revolte gegen die Vernunft.

Nun waren progressive und linke Parteien immer Bewegungen im Traditionsstrom der Aufklärung und des Rationalismus. Sie waren nicht zuletzt auch Bildungsbewegungen. Zugleich gab es in ihrer Anhängerschaft auch anti-rationalistische Strömungen, anti-aufklärerische Tendenzen, all jene Spielarten von Simplifizierungen und Verschwörungsideen, die jemand einmal den Anti-Kapitalismus „der dummen Kerls“ genannt hat.

Gerade in den deutschsprachigen Ländern, in denen die Aufklärung und ihr Rationalismus weniger tiefe Wurzeln geschlagen hat, die Romantik mit ihrem Anti-Rationalismus umso mehr, ist Wissenschaftsfeindlichkeit wahrscheinlich noch weiter verbreitet als in anderen Kulturen. Der Nationalsozialismus mit seinem Hang zum Okkulten und Obskuren und seiner Ablehnung des westlichen Rationalismus hat in dieser Hinsicht vielleicht tiefere Spuren hinterlassen, als man gemeinhin annimmt.

Dieser Verdruss war schon vor der Pandemie da, macht jetzt aber die Bekämpfung der Pandemie schwieriger.

Und schließlich hat auch die Umwelt- und Ökologiebewegung, die für viele primär als „alternativ“ und als „Resultat der 1960er-Jahre-Gegenkultur“ gilt, eine nicht ganz ungefährliche Schlagseite. Sie hält das „Natürliche“ und das „Gefühl“ hoch, das Leben in „Balance mit der Natur“ und hat eine Skepsis gegen die rationale Vernunft von Wissenschaft und Technik. Naturheilmethoden und Alternativmedizin sind hier durchaus beliebt und werden einer „Schulmedizin“ entgegengestellt, die angeblich primär Chemie in die Menschen hineinstopfen will.

Wenn wir diese aktuellen, noch extrem unübersichtlichen Geschehnisse wenigstens im Ansatz verstehen wollen, dann tun wir gut daran, ein paar Elemente zusammenzudenken: Es gibt einen Verdruss am politischen System von Menschen, die sich – oft zu Recht – nicht mehr vertreten und wahrgenommen fühlen. Dieser Verdruss war schon vor der Pandemie da, macht jetzt aber die Bekämpfung der Pandemie schwieriger. Der Zuspruch zu Rechtspopulismus und -extremismus ist durchaus eine Revolte mit berechtigten Aspekten, aber in perversen Formen. Wie tief der Vertrauensverlust geht, zeigt sich auch in den anti-rationalistischen Revolten gegen das Pandemiemanagement und in Aufständen gegen die medizinische Wissenschaft. Jene, die in die Fänge einer solchen Ideologie geraten, verstricken sich in ein ganzes System der Falschinformation und sind bald bereit, die absurdesten Dinge zu glauben. Sie geraten in eine Dynamik der Selbstradikalisierung. Und diese kann sehr schnell sehr gefährlich werden.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Robert Misik lebt und arbeitet in Wien als Autor, Essayist, Ausstellungsmacher, Theaterarbeiter und Veranstaltungskurator.

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