Politik: Schulterschluss gegen den Westen?

Handelsabkommen mit den USA und der EU haben Lateinamerika oft geschadet. Der Kontinent wendet sich nun neuen Partnern zu – in Europas Nachbarschaft.

Das Schlüsselwort, um derzeit die Bedürfnisse Lateinamerikas zu beschreiben, lautet: Diversifizierung. In der Region hält man mittlerweile Ausschau nach Partnern jenseits des Globalen Nordens, und so rückt ganz selbstverständlich der Mittlere

Das MERCOSUR-Abkommen von Paraguay, Brasilien, Uruguay und Bolivien

Osten ins Blickfeld. Iran, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und die Türkei (wenn wir sie hier dazurechnen wollen) versuchen, ihre Präsenz in Lateinamerika dauerhaft auszubauen. Die Beziehungen zwischen diesen beiden Regionen zeigen beispielhaft, dass wir heute in einer multipolaren Welt leben.

In ihrer Paranoia gegenüber Peking betrachten die USA Lateinamerika lediglich als verlässlichen Rohstofflieferanten und als Gegengewicht zum gefürchteten Einfluss Chinas. Für die EU hat Mario Draghis aktueller Bericht zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit die strategische Ausrichtung der europäischen Außenpolitik bestätigt: Man benötigt Energie und natürliche Ressourcen. Da viele lateinamerikanische Regierungen inzwischen die politischen Klauseln oder Mandate verweigern, die die Länder des Globalen Nordens früher in Abkommen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit durchgesetzt hatten, erscheint nunmehr der Mittlere Osten als einziger Machtbereich, wo man bereit ist, respektvoll mit Lateinamerika umzugehen und den Partnern dort faire Handelsabkommen ohne große Auflagen anzubieten.

Für Lateinamerika – mit einer geringen Wachstumsrate (nach aktuellen Schätzungen 2,1 Prozent) und starker Abhängigkeit von Rohstoffpreisen – ist Diversifizierung lebensnotwendig. Das gilt für die Region insgesamt, doch hat jedes Land unterschiedliche Interessen, die bestimmte Nationen im Mittleren Osten jeweils als besonders günstige Partner erscheinen lassen.

So schufen die westlichen Sanktionen gegen Kuba, Nicaragua und Venezuela die Grundlage für die iranische Präsenz in Lateinamerika. Nach 1979, dem Jahr der Iranischen Revolution und dem erfolgreichen Aufstand der Sandinisten, begann Teheran, Öl, Treibstoff und Destillationsprodukte nach Kuba und Nicaragua zu liefern, um die US-Sanktionen zu umgehen. Als Hugo Chávez 1999 in Venezuela an die Macht kam, setzte das Ayatollah-Regime auch für Caracas Militär- und Handelsprojekte auf, deren Bedeutung angesichts der aktuellen US-Sanktionen gegen Venezuela weiter gestiegen ist.

Während die Beziehungen der US-amerikanischen und der europäischen Regierungen zu den genannten Ländern, zu denen wir auch Bolivien rechnen können, stark angespannt sind, organisierte der Iran verlässlich hochrangige Staatsbesuche rund um die Bereiche Energiezusammenarbeit, Handel und Verteidigung. Mit Blick auf die Reaktionen der USA und der EU auf die umstrittenen Wahlen in Venezuela ist leicht zu verstehen, warum Caracas – das über die meisten Ressourcen verfügt – stattdessen enge Beziehungen zum Iran pflegt.

Viele lateinamerikanische Regierungen sind in Handelsstreitigkeiten mit US-Firmen verstrickt.

Ein noch schlagkräftigeres Beispiel liefern die Vereinigten Arabischen Emirate. Im Gegensatz zum Iran – dessen Engagement in Lateinamerika bereits 1960 mit der Gründung der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) begann, der auch Venezuela angehört – rückte die Region erst 2005 mit dem von Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva initiierten Gipfel südamerikanischer und arabischer Staaten 2005 in den Fokus der Emirate. Inzwischen haben sich die VAE auf die Süd-Süd-Kooperation eingelassen, für die auch der kolumbianische Präsident Gustavo Petro wirbt, und sowohl mit Kolumbien als auch mit Costa Rica umfangreiche und faire Handelsabkommen geschlossen.

Handelsabkommen Mercosur: Argentiniens Präsident Alberto Fernández und Brasiliens Präsident Lula da Silva am 3.Juli 2023

Es war nicht nur Glück, dass es den Emiraten gelungen ist, sowohl die kolumbianischen und costa-ricanischen Behörden als auch die Menschen vor Ort, die auf eine lange Geschichte negativer Auswirkungen von Handelsabkommen zurückblicken, für sich zu gewinnen. Kolumbien, immerhin Bündnispartner der USA und der NATO, leidet immer noch unter den nachteiligen Folgen seines Freihandelsabkommens mit Washington, das es gern neu verhandeln möchte. Viele lateinamerikanische Regierungen sind in Handelsstreitigkeiten mit US-Firmen verstrickt, die sich aus unfairen Freihandelsabkommen und dem starken Machtgefälle gegenüber multinationalen Konzernen entwickelt haben. Die Freihandelsabkommen begünstigen eher US-Exporte auf lateinamerikanische Märkte, als dass sie die Lieferung lateinamerikanischer Produkte nach Nordamerika ermöglichen. In Costa Rica hat das DR-CAFTA-Abkommen, das Zölle und Handelsbeschränkungen zwischen den USA und Mittelamerika abbauen soll, für beträchtliche Exportdefizite gesorgt.

Der Zusammenschluss der BRICS-Staaten bietet im Hinblick auf die Zukunft eine multilaterale Absicherung der Beziehungen Lateinamerikas zum Mittleren Osten. Mehrere Länder, darunter Kuba und Bolivien, möchten dem Staatenbund gern beitreten. Für Brasilien, das als einziges lateinamerikanisches Land zu den BRICS-Gründungsstaaten zählte, ist die begehrte Partnerschaft mit Saudi-Arabien ein Grund, die Beziehungen zwischen dem Golfstaat und Südamerika zu stärken. Lula da Silva intensivierte die profitablen Beziehungen zu Riad so weit, dass Brasilien und Saudi-Arabien inzwischen ein gemeinsames Handelsvolumen von zwei Milliarden Dollar erreichen, wenn wir alle gegenseitigen Im- und Exporte berücksichtigen.

Der Einfluss und die Präsenz von Akteuren aus dem Mittleren Osten in Südamerika sollten in der EU die Alarmglocken schrillen lassen.

Der Einfluss und die Präsenz von Akteuren aus dem Mittleren Osten in Südamerika sollten in der EU die Alarmglocken schrillen lassen. Der Staatenbund Mercosur – dem unter anderem Argentinien, Bolivien, Brasilien, Paraguay und Uruguay angehören – sowie Venezuela (dessen Mitgliedschaft derzeit ruht) fordern seit 20 Jahren ein vernünftiges Handelsabkommen mit der EU. Obwohl der französische Präsident Emmanuel Macron kürzlich in Brasilien weilte, stocken die Verhandlungen auf europäischer Seite aufgrund verschiedener Probleme, wie etwa EU-Klauseln, innenpolitischer Gründe oder einer Mischung aus beiden. Daher haben die Mercosur-Staaten zuletzt deutlich gemacht, dass ihre Geduld nunmehr erschöpft ist, und sich entschieden, dasselbe Angebot unter brasilianischer Führung den Vereinten Arabischen Emiraten zu unterbreiten.

Schließlich verdienen auch die Bemühungen der Türkei in Lateinamerika und der Karibik besondere Aufmerksamkeit. Präsident Recep Tayyip Erdoğan fuhr 2015 auf Staatsbesuch nach Mexiko, Kolumbien und Kuba. Im Anschluss reisten er und seine Außenminister weiter in die Region, wo sie neue Botschaften und Kulturinstitute eröffneten. Das lateinamerikanische Engagement der Türkei unterscheidet sich jedoch von dem der Golfstaaten oder des Iran. Die Türkei möchte keine militärische Zusammenarbeit anbieten und scheint auch nicht an Freihandelsabkommen oder großen Infrastrukturprojekten interessiert. Stattdessen setzt Ankara auf Geschäftsbeziehungen, Diplomatie und kommerzielle Kontakte, und baut mittels Soft Power seine Kapazitäten in Lateinamerika aus. Turkish Airlines ist mittlerweile die wichtigste Fluggesellschaft für lateinamerikanische Reisende, die Afrika und den Mittleren Osten ansteuert. Die türkischen Telenovelas wecken das Interesse junger Menschen, mehr über die Sprache und Kultur der geografisch fern liegenden Türkei zu erfahren. Eine der neuesten türkischen Initiativen ist eine spanische Version des digitalen Nachrichtensenders TRT, nach dem Vorbild der bereits in der Region aktiven russischen und iranischen Staatssender.

Vielleicht werden die USA und die EU endlich verstehen, dass Lateinamerika nicht länger nur ihr „Hinterhof“ oder ein „Rohstoff-Supermarkt“ ist. Die Region ist auch nicht einfach eine potenzielle „chinesische oder russische Kolonie“, sondern ein Kontinent, der eigenständig und rechtmäßig eine Diversifizierung anstrebt. Der westliche Diskurs betont eher die Gefahren des chinesischen oder russischen Imperialismus und Militarismus oder das Risiko einer steigenden finanziellen Abhängigkeit von Peking. Dabei übersieht man aber, dass lateinamerikanische Staaten auch eigene nationale Interessen haben. China, Russland und die Staaten des Mittleren Ostens stellen lediglich weitere Partner für die lateinamerikanischen Regierungen dar, um ihre legitimen Ziele zu erreichen.

Wer auf die Einhaltung von Demokratie, Menschenrechten oder abstrakten Klauseln besteht, wird keine strategischen Partnerschaften mit Lateinamerika schließen können. Zum einen, weil uns die Geschichte lehrt, dass die lateinamerikanischen Staaten nie auf die Einhaltung dieser Prinzipien pochen konnten, wenn der Globale Norden andere geopolitische oder geschäftliche Interessen verfolgte (wie etwa im Kalten Krieg). Zum anderen, weil die (sehr wenigen) bestehenden Abkommen mit den USA und der EU sich schlicht als Fehlschläge erwiesen haben. Deshalb hält Lateinamerika rundum Ausschau und erlaubt es den Staaten des Mittleren Ostens, für seine kostbaren Ressourcen das beste Angebot vorzulegen. 

Aus dem Englischen von Sabine Jainski

Alberto Maresca ist Doktorand und Forschungsassistent am Zentrum für Lateinamerikastudien der Georgetown University.

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