Politik: Macht in Gefahr
Die Golfmonarchien haben in den letzten zehn Jahren gewaltig an globalem Einfluss gewonnen. Doch der eskalierende Krieg in Nahost bedroht ihre Ziele.
Nach den politischen Umstürzen im Zuge der sogenannten „Arabischen Umbrüche“ vor mehr als einem Jahrzehnt durchläuft die arabische Welt einen fundamentalen Wandel und ordnet sich neu. Ehemals einflussreiche Machtzentren wie Ägypten, Syrien oder Irak sind seitdem durch interne Kriege, Krisen und Konflikte geschwächt und ausgehöhlt und haben damit ihre einstige Vormachtstellung in der Region verloren.
Stattdessen drängten sich die öl- und gasreichen Monarchien am Golf, vor allem Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Katar, im vergangenen Jahrzehnt in den Vordergrund und füllten das entstandene Machtvakuum durch den Wegfall der traditionellen Kräfte in Kairo, Bagdad oder Damaskus. Die letzten zehn Jahre können daher auch als Dekade des golfarabischen Aufstiegs beschrieben werden.
Am Golf hat sich eine neue Generation von Herrschern etabliert, denen es gelingt, mit einer Kombination aus kompromissloser Machtpolitik, ehrgeizigen Zielen zur Diversifizierung der Wirtschaft, gesellschaftlicher Liberalisierung und knallharter Repression nicht nur ihren eigenen Status als unumstrittene Führungsfiguren zu konsolidieren, sondern auch ein Geschäftsmodell zu entwickeln, welches weltweite Strahlkraft entwickeln soll. Angetrieben durch die hohen Einnahmen aus den Öl- und Gasgeschäften konnte sich in den vergangenen Jahrzehnten ein Wirtschaftsmodell entwickeln, welches auf dem Prinzip der Rentenvergabe beruhte: Die Herrscherdynastien waren mithilfe der Einnahmen aus der Öl- und Gasproduktion in der angenehmen Lage, ihren Gesellschaften ein umfangreiches Wohlfahrtssystem anbieten zu können, in dem kostenlose Gesundheitsversorgung und Steuerfreiheit als Gegenleistung für politische Loyalität bereitgestellt wurden.
Die letzten zehn Jahre können als Dekade des golfarabischen Aufstiegs beschrieben werden.
Doch dieses System steht vor dem Kollaps: Die Ölressourcen gehen zur Neige und die globale Energiewende in Zeiten des Klimawandels lässt sich zwar verzögern, aber nicht aufhalten. Dies hat man auch am Golf begriffen und handelt dementsprechend. In Saudi-Arabien drängt eine junge Bevölkerung auf den Arbeitsmarkt und kann nicht mehr ausschließlich von den Öleinnahmen alimentiert werden. Daher wird unter dem mächtigen Kronprinzen Mohammed bin Salman eine wirtschaftliche Diversifizierung forciert, die darauf abzielt, sich unabhängiger vom Erdöl aufzustellen, neue Wirtschaftssektoren zu fördern und für die junge Generation Arbeitsplätze zu schaffen. Dafür werden Milliardensummen in Gigaprojekte – wie die künstliche Technologiestadt Neom am Roten Meer –, in den Tourismus, die Unterhaltungsbranche oder die Sportindustrie investiert, um verstärkt Jobs zu schaffen, den Arbeitsmarkt zu nationalisieren und eine einheimische Wirtschaft aufzubauen.
Der mächtige saudische Entwicklungsfond PIF (Public Investment Fund), der vom Kronprinzen geleitet wird, ist in dieser Strategie zu einem wirkmächtigen Instrument der saudischen Investitionsoffensive auf der ganzen Welt geworden. 2022 verfügte der PIF über ein Vermögen von 776 Milliarden US-Dollar und steigerte damit seine Einlagen um zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Im selben Zeitraum gründete der PIF 25 Unternehmen neu oder erwarb Firmenanteile. Dazu gehören nicht nur saudische Unternehmen wie der Ölgigant Aramco, sondern auch Facebook, Disney, die E-Gaming-Riesen EA Sports und Konami, der Flugzeughersteller Boeing oder die Bank of America – mittlerweile gehört der PIF zu den fünf finanzstärksten Fonds der Welt.
Mithilfe des PIF und im Rahmen des ambitionierten Modernisierungsprogramms „Vision 2030“ will Saudi-Arabien zu einer Drehscheibe des globalen Handels, einem lukrativen Investitionsstandort und einer attraktiven Tourismusdestination werden. Diese Ziele werden vom Kronprinzen mit aller Macht verfolgt, der sich als „Architekt eines neues Saudi-Arabiens“ präsentiert und vielen jungen Menschen eine Perspektive bietet, aus dem verkrusteten patriarchalischen Patronagesystem der früheren Jahrzehnte auszubrechen und sich neu zu erfinden. Diese Strategie beruht auf einer Kombination aus gesellschaftlicher Öffnung und politischer Repression, werden doch Widerworte und Kritik an der Agenda der saudischen Führung nicht geduldet, während gleichzeitig vor allem Frauen mehr Rechte und Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt erhalten und sich junge Menschen im Gegensatz zu früher unternehmerisch, künstlerisch oder sportlich verwirklichen können – solange sie das politische System nicht in Frage stellen.
Im Rahmen der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan konnte die katarische Führung die Evakuierung internationaler Einsatzkräfte organisieren.
Damit kopiert Saudi-Arabien in einigen Bereichen die Geschäftsmodelle der kleineren golfarabischen Nachbarn Katar und VAE: Dort begann die Erfolgsgeschichte des globalen Aufstiegs bereits Anfang der 2000er Jahre. Seitdem hat sich Dubai als Finanz- und Tourismushochburg etabliert, während der emiratische Präsident und Herrscher von Abu Dhabi Mohammed bin Zayed Al Nahyan als einflussreicher Strippenzieher mit exzellenten Beziehungen die VAE zu einem „kleinen Sparta“ und einem „modernen Venedig“ entwickelt hat. Unter ihm ist es den Emiraten gelungen, als militärische Macht in Regionalkonflikten wie Libyen oder Jemen nationale Interessen zu verfolgen und umstrittene Akteure zu unterstützen. Gleichzeitig haben die VAE ein weltweit verzweigtes Netzwerk in der maritimen Logistik aufgebaut, welches vom Golf über das Mittelmeer bis nach Lateinamerika reicht. Mit der Durchführung der EXPO 2020 oder der UN-Klimakonferenz im November/Dezember 2023 präsentieren sich die Emirate außerdem als Plattform des internationalen Dialogs und als Champion des technologischen Fortschritts und der Energiediversifizierung.
Auch Katar hat unter Emir Tamim bin Hamad Al Thani sein Geschäftsmodell perfektioniert und sich als Netzwerker, Vermittler und Partner etabliert. Der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung war sicherlich die Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft 2022, die trotz aller Kritik und Kontroversen in Katar als durchschlagender Erfolg und Manifestierung des eigenen Höhenflugs betrachtet wurde. Die WM zeigte, dass es Katar trotz seiner geringen Größe mittlerweile gelungen ist, im Konzert der Großen mitzuspielen, sich als Ausrichter von internationalen Sportgroßveranstaltungen, als verlässlicher Gaslieferant oder als Vermittler in regionalen Konflikten einen Namen zu machen.
Im Rahmen der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan konnte die katarische Führung aufgrund seiner konzilianten Beziehungen zu den neuen Machthabern in Kabul die Evakuierung internationaler Einsatzkräfte organisieren. Und während der aktuellen Gewalteskalation zwischen der palästinensischen Hamas und Israel vermittelt Katar bei der Freilassung von Geiseln. Immerhin verfügt die Hamas seit Jahren über ein Büro in Katar, und einer ihrer Anführer, Ismael Haniyya, lebt in der katarischen Hauptstadt Doha. Solche Beispiele zeigen, dass Katar eine Strategie verfolgt, mit allen zu sprechen, um damit in Krisenfällen unersetzlich zu werden. Zwar werden die engen Beziehungen zwischen Hamas und Katar kritisiert, doch um die Geiseln auszulösen, braucht nicht nur die deutsche Bundesregierung die katarische Vermittlerrolle.
Allerdings droht die aktuelle Gewalteskalation in Nahost den golfarabischen Pragmatismus zu gefährden.
Allerdings droht die aktuelle Gewalteskalation in Nahost den golfarabischen Pragmatismus zu gefährden. Um die ehrgeizigen Ziele der wirtschaftlichen Diversifizierung erfolgreich umsetzen zu können, benötigen die Herrscher am Golf regionale Stabilität. Der Krieg zwischen Hamas und Israel bedroht diese Ambitionen, sodass die Golfstaaten großes Interesse daran zeigen, eine weitere Eskalation zu verhindern und den Konflikt einzudämmen. Doch dieses Vorgehen gleicht einem Drahtseilakt: Zum einen positionieren sich die Regierungen der meisten Golfmonarchien als Unterstützer Palästinas und kritisieren Israel in der Öffentlichkeit. Zum anderen haben Bahrain und die VAE ihre Beziehungen zu Israel jedoch im Jahr 2020 normalisiert, während Saudi-Arabien in den letzten Monaten gemeinsam mit den USA über eine Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel diskutierte.
Diese Annäherung war Teil eines Deeskalationsprozesses innerhalb der Region: Saudi-Arabien verstärkte nicht nur die (inoffizielle) Zusammenarbeit mit Israel, sondern suchte auch die taktische Verständigung mit dem ärgsten regionalen Rivalen Iran, was in der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen beider Staaten im März 2023 nach sieben Jahren führte. Gleichzeitig entspannte sich das komplizierte Rivalitätsverhältnis innerhalb der Golfstaaten, welches 2017 zu einer mehrjährigen Blockade Katars durch das saudische Königreich, die VAE, Bahrain und Ägypten geführt hatte, die erst im Januar 2021 beendet wurde.
Dieser Trend weg von Diffamierung, hin zu Deeskalation war Ausdruck eines neuen Pragmatismus, der auf taktischem Konfliktmanagement beruhte. So sollte mit der regionalen Annäherung das Investitionsklima verbessert und die eigenen Geschäftsmodelle sollten gestärkt werden. Doch diese Strategie könnte durch eine Ausweitung des Nahostkonflikts gefährdet werden, weswegen die Golfstaaten vor der delikaten Herausforderung stehen, neue Wege zur regionalen Stabilisierung zu finden, um ihre nationalen Interessen weiterverfolgen zu können.
Dr. Sebastian Sons ist Wissenschaftler am Forschungsinstitut CARPO und forscht vor allem zu Wirtschafts-, Außen-, Gesellschafts-, Entwicklungs- und Sportpolitik der arabischen Golfmonarchien.