Politik: Keine Zeit für Alleingänge
Wer auch immer die US-Präsidentschaftswahl für sich entscheidet: Die EU muss dringend ihre gemeinsame Verteidigung stärken.
Kürzlich hat der französische Präsident Emmanuel Macron gefordert, Frankreich müsse eine „Kriegswirtschaft“ werden. Für dieses Jahr hat er bereits neue Rüstungsaufträge im Wert von 20 Milliarden Euro erteilt und die Rüstungsunternehmen aufgerufen, die Produktion anzukurbeln. Ziel ist es, die Munitionsvorräte aufzufüllen und die Ukraine weiterhin zu unterstützen.
Polen hat sich unterdessen verpflichtet, seine Verteidigungsausgaben auf vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen (auf das Doppelte der von der NATO geforderten Mindestausgaben), während Norwegen ein neues Programm zum Bau von Kriegsschiffen aufgelegt hat, mit dem sich die Militärausgaben bis 2036 verdoppeln werden.
Die Gründe für diesen plötzlichen Anstieg der europäischen Verteidigungsausgaben liegen auf der Hand: So will man nicht nur die Ukraine mit weiterer überlebensnotwendiger Munition und anderem Material versorgen, sondern es verbreitet sich auch langsam die Erkenntnis, dass die USA immer mehr zu einem strategisch unzuverlässigen Verbündeten werden.
Mehrere einflussreiche Personen, von EU-Ratspräsident Charles Michel bis zur estnischen Premierministerin Kaja Kallas, haben die Europäische Union daher aufgerufen, weitere Verteidigungsinvestitionen zu finanzieren. Im vergangenen Monat hat die Europäische Kommission darüber hinaus ihre erste europäische Industriestrategie für den Verteidigungsbereich veröffentlich (die European Defence Industrial Strategy, EDIS).
Die EU-Staaten arbeiten bei ihren Verteidigungsausgaben meist nicht zusammen.
Doch die Herausforderungen sind riesig. Die europäischen Staaten haben in der Vergangenheit stets zu wenig Geld im Bereich Verteidigung ausgegeben. Außerdem sind die jeweiligen Rüstungsindustrien zersplittert und das Kapital für neue Investitionen ist knapp, sodass die europäischen Armeen chronisch von US-Ausrüstung abhängig sind.
EDIS ist zwar äußerst ambitioniert, zeigt dabei aber auch, dass die Bilanz der bisherigen Rüstungsproduktion ernüchternd ausfällt – vor allem im Vergleich zur US-amerikanischen Reaktion auf neue Bedrohungen. Hätten alle EU-Mitgliedstaaten die NATO-Mindestausgaben in Höhe von zwei Prozent des BIP eingehalten, hätten sie zwischen 2006 und 2020 eine Billion Euro zusätzlich ausgegeben, ein Viertel davon für neue Investitionen. Während die Nachfrage nach Munition und neuer Ausrüstung als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine also sprunghaft angestiegen ist, wurden 78 Prozent der europäischen Rüstungsgüter ins Ausland geliefert, davon allein 63 Prozent in die USA.
Ein weiteres Problem: Die EU-Staaten arbeiten bei ihren Verteidigungsausgaben meist nicht zusammen. Nur 18 Prozent der gesamten europäischen Rüstungsbudgets fließen in länderübergreifende Projekte. Das ist gerade einmal die Hälfte der 35 Prozent, die sich die Mitgliedstaaten 2007 als Ziel gesetzt hatten.
Die europäischen Armeen sind in Bezug auf Hightech-Ausrüstung existenziell von den USA abhängig. Darüber hinaus hat sich Südkorea als Lieferant von dringend benötigten, in Massenproduktion hergestellten Panzern und Artilleriewaffen etabliert. Die europäische Rüstungsindustrie hingegen strotzt vor eifersüchtig gegeneinander ins Feld geschickten und geschützten „nationalen Champions“, die wenig Bereitschaft zeigen, proaktiv und in großem Umfang zu investieren. So aufgeblasen diese Unternehmen auch sein mögen, sie sind bestenfalls Nischeninnovatoren, die (im Gegensatz zu ihren US-amerikanischen Konkurrenten) nicht in der Lage sind, bei den Waffensystemen die Generationensprünge zu vollziehen. Diese wären jedoch erforderlich angesichts der Bedrohung durch ein autoritäres Russland und eine chinesische Diktatur, die sich jeglicher regelbasierten und durch universelle Normen zementierten Ordnung widersetzen.
Die europäischen Armeen sind in Bezug auf Hightech-Ausrüstung existenziell von den USA abhängig.
Die USA machen derweil schnelle Fortschritte. In der National Defense Industrial Strategy, die Ende letzten Jahres veröffentlicht wurde, wird ein gänzlich anderes Problem diagnostiziert als in der EU: eine stark monopolisierte Verteidigungsindustrie, die sich auf große Systemhersteller wie Lockheed Martin und General Dynamics konzentriert. Dies lasse wenig Raum für kleine und mittelgroße Unternehmen sowie Technologie-Start-ups, die neue Impulse auf den Markt bringen könnten. Stattdessen seien die fünf großen Rüstungsunternehmen in einer Position, in der sie ihren Markt mehr oder weniger selbst gestalten können.
Als Reaktion darauf versprach die US-Regierung, den heimischen Rüstungsmarkt für ausländische „Partnerschaften“ (statt für Wettbewerb) zu öffnen und die eigenen Einkäufe in einem breiter aufgestellten, heimischen Anbieternetzwerk zu tätigen. Dadurch sollen kleine und mittlere Unternehmen sowie digital orientierte Technologieunternehmen direkteren Zugang erhalten – und die Gatekeeper-Rolle der fünf Großkonzerne soll beseitigt werden.
Die USA zeigen sich also entschlossen, ihre Rüstungsproduktion „umzuschichten“ und deutlich mehr staatliche Vorgaben zu machen (ähnlich wie es die EU auch tun möchte). Indes ist schwer vorstellbar, dass die Europäer ohne eine aggressivere Herangehensweise das Maximum für sich herausholen können. Zwar setzt EDIS ehrgeizige Ziele: So sollen die EU-Mitgliedstaaten bis 2030 50 Prozent und bis 2035 60 Prozent ihres Verteidigungshaushalts in Europa ausgeben, wobei 40 Prozent der Ausgaben bis 2030 auf länderübergreifende Zusammenarbeit entfallen sollen. Es dürfte jedoch schwierig sein, diese Ziele zu erreichen.
Was die heutigen Militärtechnologien angeht, so hat Europa tatsächlich einige großartige Nischenanbieter. Als man im Vereinigten Königreich beispielsweise merkte, dass man schnellstmöglich Kriegsschiffe braucht, die andere Kriegsschiffe versenken können, kaufte man in aller Eile200 Marineflugkörper (Naval Strike Missiles) von der norwegischen Firma Kongsberg. Diese Flugkörper gelten als herausragende Waffe in ihrer Klasse. Die französischen Rafale sind bewährte Kampfflugzeuge, die unter anderem von der ägyptischen und indischen Luftwaffe eingesetzt werden und für die es zahlreiche weitere Produktionsaufträge gibt. Der deutsche Schützenpanzer Puma gilt ebenfalls als weltweit führend, wenn auch als teuer.
Das Problem ist aber zunächst, dass Europas derzeitige Erfolgsgeschichten im Bereich der Verteidigungstechnologie in Europa selbst nur selten große Verbreitung finden. Jedes Land hat seine eigene Variante eines Schützenpanzers, und jedes Land hat seinen eigenen traditionellen Lieferanten von Kleinwaffen.
Wenn Europa ein eigenes Kampfflugzeug der sechsten Generation entwickeln will, muss es gemeinsam einen „Champion“ auswählen.
Das größere Problem sind aber Maßstab und Tempo bei Innovationen. Der Eurofighter Typhoon, ein wirklich paneuropäisches Projekt, ist ein zuverlässiges Kampfflugzeug der viereinhalbten Generation, ebenso wie die Rafale. Die USA haben allerdings zwei Kampfflugzeuge entwickelt, die dank ihrer Tarnkappen- und digitalen Sensortechnologien schon zur fünften Generation des Luftkampfs gehören: die Modelle F-22 und F-35. Letzteres ist auch für europäische Kunden zum bevorzugten Mehrzweckflugzeug geworden. Diese Kampfflugzeuge sind bereits in Großbritannien, Italien und Norwegen im Einsatz, Finnland hat ebenfalls eine große Bestellung aufgegeben.
„Jeder, der einsehen und beobachten konnte, was die F-35 wirklich können, kauft sie,“ heißt es in Branchenkreisen. Doch es gibt einen Haken: Offenbar hält die US-Regierung die Upgrade-Möglichkeiten und die Programmcodes der Flugzeuge eisern unter Verschluss und wird das auch weiterhin tun. Wenn Europa in Zukunft eine Art militärische „strategische Autonomie“ anstreben will, muss es in der Lage sein, diese neue Art von Verteidigungstechnologie zu produzieren. Dabei geht es weniger um klassische „Plattformen“ – wie Flugzeuge und Schiffe – als vielmehr um „Systeme“: digitale Sensoren und KI-Fähigkeiten, die über Netzwerke an Land, auf See, in der Luft und im Weltraum eingesetzt werden.
Hier kommt der Staat als Lenker ins Spiel. Laut dem australischen ASPI-Institut, das den technologischen Wettbewerb beobachtet, ist China in 37 von 44 „kritischen Zukunftstechnologien“ führend. Diese Position sichert sich das Land durch sieben streng geheim agierende Militäruniversitäten, deren Forschung staatlich gelenkt wird und deren Absolventen drei Viertel der in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern ausgebildeten Arbeitskräfte der chinesischen Rüstungsindustrie stellen.
Wenn Europa ein eigenes Kampfflugzeug der sechsten Generation entwickeln will – es ist noch unklar, ob es sich dabei noch um ein bemanntes Flugzeug oder schon um eine Cloud aus autonomen Überschalldrohnen handeln würde –, muss es gemeinsam einen „Champion“ auswählen und die verfügbaren Fachkräfte und Kompetenzen entsprechend koordinieren. Stattdessen gibt es jedoch zwei Konkurrenten: das Future Combat Air System – eine Kollaboration zwischen Frankreich, Deutschland und Spanien – und das Global Combat Air Programme, an dem das Vereinigte Königreich, Italien und Japan beteiligt sind. Bei beiden Projekten gibt es Probleme mit der Finanzierung und der Arbeitsteilung.
Arbeitsplätze im Verteidigungsbereich sind gut bezahlt und können auch in strukturschwachen Regionen angesiedelt werden.
Eine Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Regierungen, die es mit Chinas technologischer Vormachtstellung bei hochentwickelten Waffen aufnehmen könnte, ist in einem Hochschulsektor, der sich als „Markt“ versteht, wie beispielsweise im Vereinigten Königreich, einfach nicht möglich. Wenn Labour die kommenden Parlamentswahlen gewinnen und ihr Vorsitzender Keir Starmer sein Versprechen einlösen sollte, einen Sicherheitspakt mit der EU zu unterzeichnen, wäre ein naheliegender nächster Schritt, dass Großbritannien und die EU eine strategische Partnerschaft im Bereich der Verteidigungstechnologien eingehen. Da die Labour-Partei eine Industriestrategie nach europäischem Vorbild verspricht, sollte tatsächlich als Erstes das Verhältnis Londons zu einer stärker staatlich gelenkten europäischen Wirtschaft ausgelotet werden.
Für die EU kommt nun in jedem Fall ein entscheidender Moment. Wenn Donald Trump die US-Präsidentschaftswahlen im November gewinnt und sich von der NATO entfernt oder das Bündnis ganz aufgibt, müssen wir uns möglicherweise auf Ausgaben von über vier Prozent des BIP für die Verteidigung Europas einstellen. Und selbst wenn Joe Biden im Weißen Haus bleiben sollte, zeigen die jüngsten Unzuverlässigkeiten der USA mit Blick auf die Ukraine, dass Europa strategische Autonomie und technologische Souveränität in Sachen Verteidigung braucht.
Dies zu erreichen, könnte große Vorteile bringen: Arbeitsplätze im Verteidigungsbereich sind gut bezahlt und können auch in strukturschwachen Regionen angesiedelt werden. Darüber hinaus hat Forschung im Verteidigungsbereich in der Regel positive Auswirkungen auf den zivilen Sektor. Die Problematik ist klar: Ein kleinteiliger Etatismus in der Rüstung und Verteidigung auf rein nationaler Ebene muss der Vergangenheit angehören. Europa muss sich kontinentweit wappnen – nicht nur mit Eurobonds, um neue Investitionswellen zu finanzieren, sondern auch mit der Zusammenführung der einzelnen nationalen Produktionsstandorte zu einer „Kriegswirtschaft“, die über die bisherigen rhetorischen Beteuerungen hinausgeht.
Aus dem Englischen von Tim Steins.
Paul Mason ist Autor und Fernsehjournalist. Sein Buch Postkapitalismus: Grundrisse einer kommenden Ökonomie erschien 2016, Klare, lichte Zukunft – Eine radikale Verteidigung des Humanismus erschien 2019.
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