Politik: Mit Trump wächst die Einsicht

Europa muss sicherheitspolitisch eigenständig werden. Doch wie realistisch ist ein Neustart für die NATO?

NATO-Militärübung im Mittelmeer: Wie geht es weiter mit der Sicherheit Europas?

Die NATO als Wertegemeinschaft ist offenbar hirntot. Jetzt muss die Stabilisierung der Allianz als wirkungsvolle Zweckgemeinschaft in den Mittelpunkt rücken. Wer nach dem Eklat im Weißen Haus glaubt, die europäischen NATO-Staaten könnten sich zügig von den USA abkoppeln, der irrt gewaltig und ergeht sich in Größenfantasien ohne reale Grundlage. Der Aufbau einer hinreichenden europäischen Verteidigungsfähigkeit ohne wesentliche militärische Kräfte und Fähigkeiten der USA wird viele Jahre dauern.

Die aktuelle Debatte über Feuerpausen und Friedenspläne für die Ukraine überlagert noch die gravierenden grundsätzlichen Fragen zum weiteren transatlantischen Verhältnis. Der näher rückende NATO-Gipfel in Den Haag Ende Juni 2025 wird das wichtigste Treffen der Staats- und Regierungschefs der Allianz seit dem Ende des Kalten Krieges sein. Die Europäer müssen sich auf diesen Gipfel besser vorbereiten als auf alle anderen Gipfel zuvor. Die Zeit drängt. Es stehen Weichenstellungen an, die bisher nicht vorstellbar waren. In den laufenden Sondierungen und den wahrscheinlich nachfolgenden Koalitionsverhandlungen zwischen der CDU/CSU und der SPD sollten operationalisierbare Grundlinien für die deutsche Positionierung unter den europäischen Bündnispartnern abgestimmt werden. Dabei geht es um weit mehr als die weitere Unterstützung der Ukraine. Die bisherige westliche Sicherheitsarchitektur in und für Europa steht auf dem Spiel und muss tragfähig gestaltet werden.

Es ist schon fast eine Binsenwahrheit, dass die Europäer künftig die größte Last der konventionellen Verteidigungsfähigkeit in der NATO stellen müssen. Der Aufbau leistungsfähiger europäischer Streitkräfte in der NATO geschieht nicht von heute auf morgen. Er ist nur als Prozess vorstellbar, der vermutlich bis weit in die 2030er Jahre hinein dauern wird. Die künftigen, massiv zu erhöhenden Verteidigungshaushalte sind dafür eine wichtige Grundlage. Maßgeblich für die europäische Verteidigungsfähigkeit wird aber sein, welche Kräfte die Europäer der NATO letztendlich konkret für die Operationsplanung zur Verfügung stellen.

Die Ausgangslage ist in allen Ländern mangelhaft.

Die Ausgangslage ist in allen Ländern mangelhaft. Frankreich und Großbritannien verfolgen weiterhin den Plan einer europäischen Friedenstruppe in der Ukraine, obwohl ihre Armeen ausgelaugt sind. Die Landstreitkräfte beider Atommächte sind noch „blanker“ als das deutsche Heer. Andere Staaten wie Polen und die baltischen Länder gehen, gemessen an ihrer Wirtschaftskraft, mit großem Engagement voran. Als größte Nettoempfänger des EU-Haushalts können sie dies jedoch finanziell leichter umsetzen. Deutschland hingegen, als größter Nettozahler der EU, verfügt trotz hoher finanzieller Belastungen über eine vergleichsweise geringe Staatsschuldenquote. Dies eröffnet die Möglichkeit, mehrere hundert Milliarden Euro für die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr zu schultern. Um die von der Bundesregierung zugesagten NATO-Forderungen zu erfüllen, wird die Bundeswehr über die bisherigen Planungsziele hinaus auf eine Truppenstärke von 250 000 Soldaten anwachsen müssen. Dies ist jedoch nur mit der Einführung eines Dienst- oder Wehrpflichtsystems realisierbar.

Vor diesem Hintergrund zurück zu den anstehenden transatlantischen Konsultationen: Die militärische US-Präsenz in Europa war nie eine selbstlose Aktion, wie Trump es darzustellen versucht. In den internationalen Beziehungen gibt es keinen Altruismus. Die USA unterhalten starke militärische Kräfte in Europa, weil es ihrem nationalen Interesse dient – insbesondere ihrem geopolitischen Einfluss auf dem europäischen Kontinent. Die Schutzfunktion, die Washington gewährt, basiert daher nicht nur auf Solidarität, sondern immer auch auf strategischem Eigeninteresse. Zugleich war diese Sicherheitsgarantie stets mit einem gewissen Misstrauen gegenüber europäischer sicherheitspolitischer Eigenständigkeit verbunden – insbesondere seit den Bemühungen um eine eigenständige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik etwa seit dem Jahr 2000.

Dennoch verfolgen die USA seit der Präsidentschaft Barack Obamas das Ziel, ihre militärische Präsenz in Europa schrittweise zu reduzieren. Vor dem NATO-Gipfel in Den Haag könnten die Europäer Washington daher einen Transformationsfahrplan vorschlagen, mit dem sie ihre militärischen Fähigkeiten systematisch ausbauen – einschließlich eigener Enabler wie weltraumgestützte Aufklärungs- und Führungssysteme, strategischer Lufttransport und Luftbetankung. Idealerweise könnte dieser Ausbau in einem NATO-Pool organisiert werden. In dem Maße, in dem europäische Kapazitäten wachsen, könnten die USA ihre Truppenpräsenz entsprechend verringern.

In dem Maße, in dem europäische Kapazitäten wachsen, könnten die USA ihre Truppenpräsenz entsprechend verringern.

Frankreich und Deutschland haben im bilateralen Aachener Vertrag (Artikel 4) festgelegt, dass ihre „Sicherheitsinteressen untrennbar miteinander verbunden sind“ und dass sie im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete wechselseitig jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung leisten, einschließlich militärischer Mittel. Auf dieser Grundlage könnte ein politischer Prozess eingeleitet werden, der über eine französisch-deutsche nuklearstrategische Zusammenarbeit zu einer eigenständigen europäischen atomaren Abschreckungskapazität in einer Koalition der Willigen führen kann. Frankreich nutzt auf seinen Atom-U-Booten die in erster Linie zusammen mit Deutschland im Rahmen der Airbus-Group entwickelte Ariane-Raketentechnik. Großbritannien hingegen nutzt auf seinen alternden U-Booten der Vanguard-Klasse amerikanische Trident-Raketen und ist damit von den USA abhängig. Dennoch sollte London in diesen Prozess eingebunden werden und eine Rolle im künftigen europäischen Abschreckungsspektrum spielen.

All diese Überlegungen sollten nach dem NATO-Gipfel in ein neues strategisches Konzept einfließen, das die veränderte Gewichtsverlagerung innerhalb des Bündnisses konkretisiert. Eine glaubwürdige Abschreckung muss dabei mit diplomatischen Ansätzen für eine stabilisierende Rüstungskontrolle verbunden werden. Denn nach wie vor gilt es, eine für Europa verheerende militärische Auseinandersetzung mit Russland zu verhindern. Die künftigen politischen Beziehungen zu Russland werden maßgeblich davon abhängen, ob und auf welche Weise Putins Aggression gegen die Ukraine endet. Für absehbare Zeit scheint das Verhältnis zu Russland lediglich als eine Form kalter Koexistenz denkbar.

Was kann die Europäische Union zur Sicherheit Europas beitragen? Nur noch vier EU-Staaten – Irland, Malta, Österreich und Zypern – sind nicht Mitglied der NATO. Die Verteidigung Europas sollte weiterhin die Kernaufgabe der NATO bleiben, jedoch mit einem zunehmend eigenständigen europäischen Pfeiler. Die EU sollte sich vorrangig auf die Koordinierung und Integration einer gemeinsamen, effizienteren Rüstungspolitik konzentrieren. Ein solcher Anpassungsprozess würde letztlich auf eine schrittweise Europäisierung der NATO hinauslaufen, in der die europäischen Staaten mehr Eigenverantwortung übernehmen.

Amerikanische Transatlantiker der alten Schule dürften Trump vor diesem Prozess warnen – schließlich war eine stärkere europäische Autonomie, wie sie Frankreich seit Langem propagiert, in Washington nie erwünscht. Doch nun könnten sie ihm mit einem ironischen Seitenhieb entgegnen: „Hey, be careful what you wish for.“

Helmut W. Ganser, Brigadegeneral a.D., war Stellvertretender Leiter der Stabsabteilung Militärpolitik im Verteidigungsministerium, Strategie-Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr und militärpolitischer Berater bei der NATO und bei der UN.

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