Mein Arzt, der Wald

1982 regte die staatliche japanische Forstbehörde an, Ausflüge in den Wald als Bestandteil eines guten Lebensstils zu integrieren. Japanische Wissenschaftler haben mittlerweile anhand verschiedener Studien entdeckt, dass der Aufenthalt im Wald wie eine Art Aromatherapie wirkt, die für die Gesundheit förderlich ist. Längst ist „Shinrinyoku“, zu Deutsch „Waldbaden“, in Japan auch zu einer anerkannten Stress-Management-Methode avanciert und wird vom japanischen Gesundheitswesen gefördert.
Wälder gegen Krebs
Im Jahr 2004 wurden die wohltuenden Auswirkungen des Waldbadens in einem medizinischen Experiment nun auch wissenschaftlich konkretisiert und bewiesen. Gemeinschaftlich hatten die japanische Behörde für Forstwirtschaft, das Forschungsinstitut für Wald und Waldprodukte und das Zentrum für Medizin Nippon eine Studie in die Wege geleitet, mit der die physiologischen Effekte des Waldbadens näher erforscht werden sollten.
Dr. Qing Li, Assistenzprofessor am Institut für Hygiene und Öffentliche Gesundheit im Zentrum für Medizin Nippon, fasste begeistert die Resultate dieser Untersuchung zusammen. Spazierengehen im Wald fördere sowohl die Entstehung von drei verschiedenen Anti-Krebs-Proteinen als auch die Bildung ungewöhnlich hoher Mengen natürlicher Killerzellen (NK-Zellen), die ebenfalls dafür bekannt sind, Krebszellen aufzuspüren und diese zu attackieren.
„Ruhe und Entspannung sollten jedoch für jeden Menschen zugänglich sein – nicht zuletzt, da sie für einen gesunden Lebensstil unabdinglich sind.“
Dr. Li erklärte, dass Pflanzen bestimmte Stoffe – sog. Phytonzide – bildeten, mit deren Hilfe sie sich selbst vor Bakterien und Insekten schützten. Diese Phytonzide würden an die Luft abgegeben. Wenn nun Menschen in der Natur und insbesondere im Wald spazieren gingen und diese Phytonzide einatmeten, dann führte das zu einer deutlichen Vermehrung der NK-Zellen im Körper.
Dr. Li beobachtete zwölf Männer im Alter von 37 bis 55 Jahren, die unter einer starken Stresssituation litten und zum Spazierengehen in den Wald geschickt wurden. Bereits am ersten Tag hatte sich die Aktivität ihrer NK-Zellen um 26,5 Prozent erhöht, am zweiten Tag schon um sagenhafte 52,6 Prozent.
Wälder senken Blutdruck und Puls
In einer weiteren Studie mit 280 Teilnehmern schickte man die Hälfte für einige Stunden in den Wald und die andere Hälfte in die Stadt. Anschliessend wurden beide Gruppen untersucht und was stellte man fest? Die Waldmenschen erfreuten sich im Gegensatz zu den Stadtmenschen eines auffallend niedrigen Blutdruckes, eines niedrigen Stresshormonspiegels und eines niedrigen Pulses.
Der blosse Anblick eines Waldes beruhigt und reduziert Stresshormone
Im Wald begegnet man natürlich nicht nur den Phytonziden, die ja eher unbewusst aufgenommen werden. Sobald man den Wald betritt und in das satte Grün der Bäume und Wiesen eintaucht, duftet es nach Blumen, Kräutern und dem feuchten Waldboden. Das Laub raschelt unter den Füssen, Vögel singen, Bäche plätschern, Flüsse rauschen und die Sonne schickt einzelne Strahlen durch das dichte Blätterwerk. Allein das Licht-und-Schattenspiel der Sonne auf den Blättern habe eine ungemein beruhigende Wirkung, so Yoshifumi Miyazaki, der Direktor des Zentrums für Umwelt, Gesundheit und Agrarwissenschaft von der Universität Chiba.
Als Japans führender Wissenschaftler im Bereich der Waldmedizin fand Miyazaki heraus, dass der Stresshormonpegel bei Menschen, die einen Wald nur anschauten, bereits um 13,4 Prozent niedriger war als zuvor. „Wir wurden so geschaffen, dass wir in eine natürliche Umgebung passen“, fasste Miyazaki seine Erkenntnisse zusammen. „Wenn wir uns inmitten der Natur aufhalten, werden unsere Körper wieder zu dem, was sie einmal waren.“
Ob man nun an die heilsame Wirkung eines Waldbads glauben oder es doch eher als Esoterik-Mumpitz abtun möchte: Eine Pause von Stadt und Schreibtisch kann alleine schon wegen der Entschleunigung und der Ruhe der Natur nicht schaden.
Sepp Spiegl