Massenekstase in Himmelblau
Ganz Argentinien liegt sich in den Armen – doch der Zorn über die soziale Misere ruht nur. Kann der WM-Triumph die gespaltene Nation einen?
Eine Explosion der Gefühle und kollektive Ekstase nach über 120 Minuten Anspannung – der letzte Elfmeter-Schuss von Gonzalo Montiel sitzt und innerhalb von einer Sekunde kennt der Freudentaumel keine Grenzen, weder auf dem Rasen von Katar noch in den argentinischen Haushalten, Bars und Public-Viewing-Sites auf der anderen Seite der Erde. Tränen der Freude fließen bei den Spielern und ihren Fans. 45 Millionen Argentinierinnen und Argentinier sehen ihre Träume erfüllt. 36 lange Jahre hat man warten müssen, doch nun kommt die „Copa“ wieder heim. Und Diego schaut vom Himmel aus zu.
Hier in Argentinien fand keine Winter-WM statt. Endlich einmal gab es die Weltmeisterschaft in der schönsten Sommerzeit des Jahres. In den letzten vier Wochen wurde in Buenos Aires, in Salta und in Patagonien unter freiem Himmel oder mit der Familie Fußball geschaut, kollektiv mitgefiebert, gefeiert und geweint. Politische Debatten über die Menschenrechtssituation in Katar: Fehlanzeige. Nicht, weil das Thema nicht relevant wäre. Argentinien ist sehr stolz auf seine jüngere Geschichte, in der Menschenrechte eine nationale und internationale Priorität sind.
Aber 2022 braucht Argentinien Ablenkung und ganz dringend gute Nachrichten. Es ist diese WM, das wunderschöne Fußballspiel von Messi, di Maria und Co. und natürlich der glückliche Sieg, die Balsam für das krisengeschüttelte Land und seine tief verletzte Seele sind. Und es erklärt den Freudentanz von Millionen Menschen rund um das Wahrzeichen der Stadt Buenos Aires, den Obelisken, am selbigen Nachmittag und Abend.
Der Monat Dezember gilt in Argentinien als politisch extrem schwieriger Moment: Am Jahresende, in der Sommerhitze, detonierte in der jüngeren Geschichte häufig der Zorn über die soziale Misere und wachsende Verarmung der Gesellschaft, löste sich der aufgestaute Frust in Form von Massenmobilisierungen und Protesten. Man erinnere sich an Dezember 2001, als innerhalb von wenigen Tagen ein Präsident per Hubschrauber aus dem Präsidentensitz flüchten musste und danach innerhalb von wenigen Tagen fünf Präsidenten verschlissen wurden.
Am Jahresende detonierte in der jüngeren Geschichte häufig der Zorn über die soziale Misere.
Die soziale Lage ist heute im Jahr 2022 ebenfalls sehr brenzlig, denn Argentinien ist seit 2018 erneut hochverschuldet, allein 2022 liegt die Jahresinflation bei fast 100 Prozent. Ein doppelter Wechselkurs verzerrt die Preise, die Pandemie bremste das eh schon langsame Wachstum aus, das Misstrauen der Märkte ist hoch und die Armut liegt bei mittlerweile über 40 Prozent. Die extreme innenpolitische Polarisierung, die in Verachtung des politischen Gegners umschlägt und leider von den meisten Medien zelebriert und weiter vorangetrieben wird, bohrt weitere Gräben, statt Lösungen anzubieten. Der politische Riss geht tief durch Familien und Freundschaften.
Daher war jedes argentinische Tor in dieser WM, jedes bezaubernde Dribbling von Messi und jede Parade des Torhüters „Dibu“ Martínez Kit für den Zusammenhalt der Nation. Argentinien ist fußballverrückt, Fußball ist Religion und Leidenschaft, das hellblau-weiße Trikot das wichtigste Nationalsymbol. Und gerade weil die soziale Lage so am Anschlag ist, konnte man während dieser WM von einem besseren Land träumen, davon, die Nummer 1 zu sein, weltweit etwas besser als alle anderen. Obwohl man als Land weder über Geld, über Macht noch über Einfluss verfügt. Auch wenn die meisten argentinischen Spieler in Europa reich geworden und natürlich Teil des immensen FIFA-Profitgeschäfts sind, zählten während der letzten Tage die Farben des Heimatlandes und der Stolz so viel mehr als der Beruf, den sie in ihren europäischen Clubs ausüben.
Der Sieg des peripheren Argentiniens ist auch ein Sieg der vielen nicht-europäischen Länder, die ärmer oder unbedeutender sind und bei internationalen Events häufig leer ausgehen: Bangladesch feierte Argentiniens WM-Titel als wäre es der eigene, viele lateinamerikanische Präsidenten zelebrieren den argentinischen Sieg als einen Lateinamerikas, der „Patria Grande“, und in Südindien streichen einige sogar ihre Häuser in Hellblau-Weiß vor lauter Begeisterung. Es war daher auch ein Sieg gegen die häufig im Globalen Süden so empfundenen selbstgefälligen Europäer.
WM-Titel schaffen die real existierenden Probleme nicht aus der Welt.
Diese WM stoppte in Argentinien den sogenannten Dezember-Effekt, ja sie konnte den sozialen Frieden von Sieg zu Sieg aufrechterhalten. Selbst die Verurteilung der aktuellen Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner am 6. Dezember (zwischen den Spielen gegen Australien und die Niederlande) zu sechs Jahren Haft brachte die Argentinier nicht vom kollektiven Wohlgefühl des Fußballs ab. Und der so ersehnte Weltmeister-Titel wird noch Tage, bis Weihnachten, bis Neujahr und über die dann folgende Sommerpause dieses Wir-Gefühl erhalten können. Messi hat es geschafft und wird nun wie Maradona als Retter und Rächer der argentinischen Nation sowie als Fußball-Gott verehrt. In der Nacht zum Dienstag ist das Team in Buenos Aires angekommen – die Regierung verkündete kurzfristig einen Feiertag, will man doch etwas vom Ruhm aufsaugen und möglichst politisches Kapital daraus schlagen.
Spätestens im März 2023, wenn das politische Leben in die Hauptstadt zurückkehrt und der Präsidentschaftswahlkampf beginnt, wird das Land aufwachen. Denn dann wird es ernst. Da steht man wieder auf entgegengesetzten Seiten des politischen Spielfeldes. WM-Titel schaffen die real existierenden Probleme nicht aus der Welt. Im Wahlkampf geht es dann nicht mehr um eine banale Feiertagsfrage, sondern um die vielen ungeklärten Fragen der argentinischen Politik, ohne dass es einen Minimalkonsens gibt: Wie soll man die Schulden bedienen? Wie die Märkte überzeugen zu investieren? Wie können gute Arbeitsplätze generiert werden? Wie kann die Inflation gestoppt werden? Welche Steuern benötigt das Land, um eine gerechte Umverteilung zu erlangen? Was tun gegen die Armut? Wie eine unabhängige Justiz erschaffen?
Ultralibertäre und ultrarechte Kräfte greifen bereits seit einigen Jahren die Institutionen und das „System“ mit einfachen Parolen an und dringen in das politische Spielfeld ein. Wenn von diesem WM-Wir-Gefühl auch etwas in die Politik schwappen würde, mit kluger Spielführung und Mannschaftsgeist, es täte der Zukunft des Landes mit den vielen Herausforderungen gut.
Dr. Svenja Blanke ist Herausgeberin der Zeitschrift Nueva Sociedad und Leiterin des FES-Büros in Argentinien. Von 2014 bis 2019 war sie Leiterin des Referats Lateinamerika/Karibik der FES in Berlin.