Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

In erstaunlich vielen (vor allem TV- und Rundfunk-) Kommentaren klingt in diesen Wochen entweder die Forderung oder zumindest Empfehlung durch, man müsse – „bei natürlich aller Kritikwürdigkeit im Einzelnen“ –  doch auch Verständnis aufbringen für die Menschen, die es „nach so vielen Monaten des Eingesperrtseins“ in die „wiedergewonnene Freiheit“ ziehe. Gemeint sind, klar, nicht nur, aber vor allem die jungen Leute, die – zuvorderst in den großen Städten – hauptsächlich an den Wochenenden zu Tausenden ohne jede Vorsichtsmaßnahme gegen das Corona-Virus und damit ohne jede Rücksichtnahme auf die anderen Mitmenschen auf Straßen, Plätzen und in Parks fröhliche Parties feiern. Interessanterweise zeigen viele Teilnehmern dieser von Alkohol, wummernder Musik und Tanz, doch auch Schlägereien und Gewalt begleiteten Sinnesfreuden in Interviews, dass ihnen die damit verbundenen Risiken und gesundheitlichen Gefahren durchaus bewusst sind.

Warum also sollte man für ein solches Verhalten Verständnis aufbringen? Dass das Sonnenbad im Grünen, die Abkühlung bei Hitze an Flüssen, Seen und Meeresstränden die Lebensqualität erhöhen – geschenkt. Dass es zudem erheblich größeren Spaß bereitet, mit Freunden zu trinken, zu tafeln und zu lachen oder in großer Runde Familienfeste zu zelebrieren, als daheim in Langeweile zu versinken – ebenfalls geschenkt. Und dass es, anders als in manchen asiatischen Ländern, in unseren Breitengraden eher nicht zur Verhaltenskultur gehört, mit Gesichtsmasken den Alltag zu gestalten, ist natürlich genauso unbestritten. Außerdem: Wurde uns denn nicht von kleinauf an beigebracht, dass Freiheit im ziemlich weiten Sinne zu den unveräußerlichen Menschenrechten zählt? Na also.

Alles richtig, wahr und unwidersprochen. Und dennoch – nein, es gibt kein Verständnis für ein Verhalten, das bedenkenlos Gesundheit und Wohlergehen von Millionen Anderer sowie das wirtschaftliche Gefüge ganzer Gesellschaften einzig dem eigenen Lebensgefühl unterordnet. Womit also haben wir es in dieser Zeit zu tun?  Ganz offensichtlich mit einem gesellschaftlichen Problem. Jeder einzelne weiß schließlich, dass nicht nur unser Land, sondern praktisch der ganze Erdball, nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie anders geworden ist. Wissen heißt jedoch offensichtlich nicht unbedingt zugleich Begreifen – also Verinnerlichen. Mit anderen Worten: Um die Seuche wirklich in den Griff zu bekommen, ist jeder Einzelne gefordert – mithin die Gesellschaft.

Gesellschaft aber bedeutet Gemeinschaft. Bedeutet Familie, Kommune, Staat. Bedeutet, nicht zuletzt, das zu praktizieren, was zwar gemeinhin in aller Munde ist, tatsächlich jedoch in Normalzeiten bei weitem nicht immer und überall umgesetzt wird. Nämlich Solidarität. Nun gab (und gibt) es immer wieder Beweise, dass wir – also unsere Gemeinschaft – durchaus dazu in der Lage sind. Außerordentlich eindrucksvolle Belege sogar. Nämlich meistens dann, wenn sich irgendwo hierzulande oder auch in der Welt eine Katastrophe ereignet hat und die Kameras darauf gerichtet wurden. Hungersnöte in Afrika etwa, Erdbeben oder – erst jüngst – die gewaltige Explosion in Beirut. Nicht zuletzt hier in Deutschland ist die Spenden- und technische Hilfsbereitschaft dann beeindruckend groß.

Und jetzt? In Zeiten der Corona-Krise? Keine Frage, im Vergleich zu anderen Regionen in Europa ist unser Land, sind demnach wir alle, bislang noch recht glimpflich davongekommen. Natürlich auch wegen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, nicht zu vergessen ebenfalls wegen des vorbildlichen Gesundheits-Systems. Aber auch wegen der – anfangs – außerordentlich rühmlichen Disziplin der Bevölkerung. Die Mahnungen aus der Politik wurden weitgehend befolgt und den Empfehlungen der Experten wurde im Wesentlichen Folge geleistet. Auch, wenn diese mit Unannehmlichkeiten und misslichen Einschränkungen des Lebens für praktisch jeden und jede verbunden waren. Und, vielleicht mehr noch, obwohl hunderttausende von Existenzen direkt oder auf Sicht bedroht waren. Und es noch immer sind. Denn „Corona“ ist bei Weitem noch nicht überwunden und wird mit Sicherheit selbst dann noch lange nachwirken, wenn wirklich einmal Impfstoffe dagegen entwickelt sein werden.

Damit sind wir wieder bei der Frage: Warum jetzt das stellenweise ja nachgerade demonstrative Nachlassen der Disziplin? Warum das erschreckende Fehlen von Solidarität feierwütiger Gruppen gegenüber der Gesundheit ihrer Mitbürger? Warum dieses Herausstellen der eigenen „Freiheit“ trotz der damit für jedermann erkennbaren gesellschaftlichen Gefährdung? Warum diese unglaublich dämlichen Massen-Demonstrationen zur angeblichen Verteidigung der verfassungsmäßigen Grundrechte? Demos, zu denen mittlerweile vereinzelt sogar schon zum „bewaffneten Widerstand des Volkes“ aufgerufen wird? Wie viele Zeitgenossen mögen darunter sein, die wahrscheinlich nach staatlicher Unterstützung rufen und gleichzeitig überzeugt sind, von Bill Gates und den „Illuminaten“ bedroht oder im Auftrag von Angela Merkel belogen zu werden?

Das führt fast automatisch nach der Rolle des Staates, an den sich hierzulande nicht erst in der gegenwärtigen Notlage sehr rasch der Ruf nach Hilfe richtet. „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Diese Weisheit kannte man schon im alten Rom lange vor Christi Geburt. Sie ist, im Prinzip, auch richtig. Aber eben offensichtlich immer nur im Prinzip. Denn längst hat sich im Land zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz eine Auffassung breit gemacht, dass – in welcher Form auch immer – der Staat bei allen Schwierigkeiten oder auch nur Unannehmlichkeiten für Abhilfe zu sorgen hat. Dies ist, im Zuge der Corona-Krise, ohne Frage auch dringend notwendig, wenn der Schaden für das Land und seine Bürger wirtschaftlich und gesundheitlich in möglichst engen Grenzen gehalten werden soll. Aber entbindet das die Menschen von der Pflicht, sich durch ihr persönliches Mitwirken und vernünftiges Verhalten mit allem Einsatz an diesem Gemeinschaftswerk zu beteiligen?

Nochmals nein, das tut es nicht. Womit wir wieder bei jener Solidarität, gegenseitigen Hilfe und Rücksichtnahme auf andere wären. Ein Problem bei der Corona-Bekämpfung ist natürlich, dass das Virus unsichtbar ist. Das verführt leicht dazu, die unverändert vorhandene Gefahr zu unterschätzen. Mögen wir alle, auch die Unvernünftigsten, davor bewahrt bleiben, dass das öffentliche, wirtschaftliche und private Leben ein weiteres Mal heruntergefahren werden muss. Möglicherweise vielleicht sogar deshalb, weil ein paar Leute ihren Verstand nicht einzusetzen und ihren „Freiheitsdrang“ nicht zu zügeln wussten. Nein, es gibt kein Verständnis für Verstandlose.

 

Für Kommentare: gisbert.kuhn@rantlos.de

 

Leserbrief von Walter Schmitz, Bonn:

Nach meiner Überzeugung sind die Ausführungen von Gisbert Kuhn ein Volltreffer. Über 90% unserer Bevölkerung dürften dem zustimmen.

Als Jurist muss ich allerdings ergänzend in diesem Zusammenhang auch an meine Zunft ein „Stirnrunzeln“ loswerden. Hohe Richter neigen offenbar gelegentlich dazu, der ebenfalls an das Recht gebundenen Legislative in den  Rücken zu fallen. (Immerhin müssen sie die Rechtmäßigkeit ihrer Entscheidungen überprüfen).       

Selbst wenn die in diesem Sachverhalt bemühten Verwaltungsrichter in Berlin nicht zu den von Gisbert Kuhn apostrophierten „Verstandlosen“ zu  zählen sein sollten –  ignorant muss man ihre Entscheidung jedenfalls nennen. Entgegen allen Erkenntnissen und Erfahrungen haben sie unterstellt, dass die Demonstranten sich an Recht und Ordnung halten werden.

Da machen die Richter es sich zu einfach! Die Legislative muss ihre Entscheidungen vorausschauend treffen. Diese Richter hielten sich streng an den Satz des alten Römischen Rechts: „da mihi facta, dabo tibi ius“. Also: erst wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, habe ich einen Tatbestand – und für dessen Beurteilung ist dann die Strafjustiz zuständig. Die Verwaltungsjustiz ist dann aus dem Schneider!

Es geht um Freiheit, aber nicht um die grenzenlose – ein Blick ins Grundgesetz bestätigt dies. Die Freiheit ist mit Vernunft zu gebrauchen. Diese Empfehlung von Georg Friedrich Wilhelm Hegel gilt auch nach mehr als 200 Jahren für Demonstranten und Verwaltungsrichter – und für uns alle.

                                                                                                                                                                                      

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