In Schockstarre

Die Taliban wollen mit ihrer Offensive nach dem NATO-Abzug in Afghanistan Fakten schaffen. Die Regierung hat ihnen bislang wenig entgegenzusetzen.

 
Über 400 Distrikte des Landes haben die Taliban inzwischen eingenommen

Parallel zum Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan, der mittlerweile praktisch abgeschlossen ist, haben die Taliban in den vergangenen Wochen gut 200 der etwa 400 Distrikte des Landes eingenommen. Den überwiegenden Teil davon können sie bislang halten. Die Soldaten der Regierung schienen in entfernt gelegenen Distrikten buchstäblich auf verlorenem Posten zu kämpfen und sahen sich angesichts ausbleibender Nachschublieferungen zum Aufgeben gezwungen. Anfang Juli flohen mehr als 1 000 afghanische Soldaten über die Grenze nach Tadschikistan. Verheerende Bilder für die Regierung von Präsident Ashraf Ghani. Auch Wochen nach der Ankündigung des Abzugs durch die Biden-Administration scheint die Regierung in einer Schockstarre zu verharren und außer Durchhalteparolen  hat sie nur wenig zu bieten. „Wir hatten mit Frieden gerechnet, nicht mit Krieg“ – mit diesen Worten versuchte der Nationale Sicherheitsberater Hamdullah Mohib Anfang Juli die dramatischen Gebietsverluste der Armee zu erklären.

Die militärische Strategie der Taliban zielte darauf ab, durch rasche Erfolge im Norden im ersten Schritt einer umfassenden Mobilisierung der ehemaligen „Nordallianz“ durch die Regierung zuvorzukommen und das Grenzgebiet zu Zentralasien, ein potenzieller Rückzugs- und Versorgungsraum tadschikischer und usbekischer Anti-Taliban-Milizen, zu neutralisieren. Regierungsvertreter und einflussreiche Politiker verkündeten erst nach dem Beginn der Taliban-Offensive eine „nationale Mobilmachung“. Und obwohl die Zahl und Stärke der Milizen zunehmen, gelang es bisher nicht, das Blatt zu wenden. Gleichzeitig sind die Berichte über Zwangsrekrutierungen und Menschenrechtsverletzungen durch diese Milizen, die von der Regierung kaum kontrolliert werden können, besorgniserregend.

Die Regierung von Präsident Ashraf Ghani scheint auch Wochen nach der Ankündigung des Abzugs in einer Schockstarre zu verharren und hat außer Durchhalteparolen nur wenig zu bieten.

In einem zweiten Schritt nahmen die Taliban einige der wichtigsten Grenzübergänge zum Iran, zu Pakistan und den zentralasiatischen Staaten ein. Auch auf Druck der eigenen Wirtschaft sahen sich Iran und Pakistan gezwungen, die Grenzübergänge, die aufgrund der Gefechte zunächst geschlossen worden waren, nach kurzer Zeit wieder zu öffnen. Für die afghanische Regierung führte der Verlust der Grenzübergänge zu einem dramatischen Einbruch der ohnehin knappen Staatseinnahmen. Allein im Juli gingen Kabul mehr als 33 Millionen US-Dollar verloren – für die Taliban ein Prestigegewinn und eine zusätzliche Einnahmequelle. Bislang kontrolliert die Regierung alle 34 Provinzhauptstädte. Deren Besetzung kann den Taliban in vielen Fällen – wenn überhaupt – nur unter enormen Verlusten gelingen. Die Versorgungslage in den urbanen Zentren könnte sich jedoch bald zuspitzen.

Neben ihren militärischen Vorstößen gehen die Taliban auch in die diplomatische „Charme“-Offensive. Ihre Botschaft, die Rückkehr zur Macht nach dem US-Abzug sei keine Frage des Ob, sondern nur noch des Wann, verfängt bei vielen Beobachtern. Taliban-Sprecher Suhail Shaheen nutzt die Plattformen, die der US-amerikanische Fernsehsender CNN oder auch der türkische Staatssender TRT der Gruppe bieten, um für ein Ende der Isolation zu werben. Im Interview mit dem Deutschlandfunk forderte er gar einen „Marshallplan für den Wiederaufbau Afghanistans“. Delegationen der Taliban reisten in den letzten Wochen nach Moskau, Teheran, Peking und in die turkmenische Hauptstadt Aschgabat, um dort ihr Bekenntnis zur gemeinsamen Bekämpfung des internationalen Terrorismus sowie zur Grenzsicherheit und wirtschaftlichen Kooperation zu unterstreichen.

Neben ihren militärischen Vorstößen gehen die Taliban auch in die diplomatische „Charme“-Offensive.

Innerhalb der afghanischen Grenzen zeigt sich ein anderes Bild. Gegen die Darstellung, die Taliban hätten die eroberten Gebiete quasi kampflos einnehmen können, sprechen dramatische Zahlen der Vereinten Nationen: Mehr als 2 300 Zivilistinnen und Zivilisten wurden allein im Mai und Juni getötet oder verwundet. Afghanistan wird zudem von einer schweren Dürre geplagt sowie von einer besonders ausgeprägten dritten Corona-Welle, die das Gesundheitssystem weiter belastet. Menschenrechtsorganisationen und Journalistinnen berichten von Machtdemonstrationen der Taliban wie Massenverhaftungen, Hinrichtungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten, Körperstrafen und der Zerstörung von kritischer Infrastruktur.

Innerhalb des Landes sind seit Januar fast 300 000 Menschen vertrieben worden – mehr als 3,5 Millionen Afghaninnen und Afghanen gelten heute als Binnenvertriebene. Innerhalb der letzten vier Jahre hat sich ihre Zahl verdoppelt. Sie leiden besonders unter der Armut und den dynamischen Fronten des Konfliktgeschehens. Der Internationalen Organisation für Migration zufolge beläuft sich die Zahl der Afghanen, die im Juni und Juli Afghanistan auf dem Landweg verlassen haben, auf 20 000 bis 30 000 Personen pro Woche. Halten Gewalt und Verzweiflung weiter an, könnte ihre Zahl im Laufe des Jahres auf 1,5 Millionen Menschen steigen.

Die meisten Afghaninnen und Afghanen suchen wie auch schon in den letzten Jahrzehnten Zuflucht in Iran, Pakistan und in den zentralasiatischen Ländern. Doch deren politische und wirtschaftliche Aufnahmefähigkeit scheint schon heute erschöpft zu sein. Pakistans Nationaler Sicherheitsberater Moeed Yusuf verkündete am 13. Juli, dass Pakistan keine weiteren Geflüchteten mehr aufnehmen könne. Flüchtlingslager sollten auf der afghanischen Seite der mittlerweile gut gesicherten Grenze errichtet werden. Mehr als 600 000 Afghaninnen und Afghanen sind in letzter Zeit – möglicherweise unter Zwang – aus dem Iran zurückgekehrt. Obwohl die iranischen und türkischen Sicherheitsbehörden bereits Hunderte Afghanen verhaftet haben oder versuchen, sie gewaltsam an der Ein- und Weiterreise zu hindern, überqueren derzeit täglich mehr als 1 000 Afghanen die iranisch-türkische Grenze.

Sowohl Angela Merkel als auch ihr österreichischer Amtskollege Sebastian Kurz haben deutlich gemacht, dass sie an umfänglichen Resettlementvorhaben für afghanische Geflüchtete aus der Türkei oder anderen Transitstaaten nach Europa wenig Interesse haben. Sie wollen stattdessen die „Bedingungen vor Ort“ verbessern. Mit welchen Hebeln dies angesichts der aktuellen Dynamik geschehen soll, ist dabei völlig unklar.

Viel von dem, was auch mit westlicher Hilfe in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut wurde, steht nun auf dem Spiel. Schulen, Straßen und Elektrizitätswerke drohen bei Gefechten zerstört zu werden oder können nicht weiter betrieben werden. Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, Menschenrechtler und Medienschaffende geraten von allen Seiten unter Druck. Viele fliehen in die (noch) sichere Hauptstadt oder gar ins Ausland. Weiterhin unsicher ist die Zukunft des internationalen Flughafens, der seit 2014 von der Türkei im Rahmen der Resolute Mission der NATO abgesichert wurde. Ankara hat eine Fortsetzung des türkischen Engagements über das Ende des NATO-Einsatzes hinaus in Aussicht gestellt. Von den Taliban wird dies jedoch als „Bruch des Abzugsversprechens“ gesehen und sie drohen mit Angriffen auf zurückbleibende Soldaten.

Viel von dem, was auch mit westlicher Hilfe in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut wurde, steht nun auf dem Spiel.

Die Verschlechterung der Sicherheitslage, Einschränkungen im Flugverkehr, die Einnahme weiterer Grenzübergänge durch die Taliban und die kontinuierliche Reduzierung des internationalen (Botschafts-)Personals könnten den Zugang internationaler Hilfsorganisationen und die Fortsetzung der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit zunehmend erschweren. Viele Organisationen sorgen sich um die Sicherheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – erst am 30. Juli geriet bei Gefechten um die westliche Provinzhauptstadt Herat der Compound der Vereinten Nationen unter Granatenbeschuss.

Bei der letzten Geberkonferenz im November 2020 hat die Bundesregierung zugesichert, die Regierung in Kabul weiterhin finanziell zu unterstützen, und hat dies nach der Abzugsankündigung durch Biden bekräftigt. Auch den Friedensprozess in Doha wolle man weiter diplomatisch unterstützen. Die Entwicklungen der vergangenen Wochen haben deutlich gemacht, wie schwierig es sein wird, diese Zusagen einzuhalten und überhaupt zu einer aktiven Afghanistan-Politik zurückzufinden, die über die Unterstützung der Ortskräfte, den Schutz kritischer Infrastruktur in Kabul und die Bewältigung der neuen Flüchtlingskrise hinausgeht.

Dr. Magdalena Kirchner leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Afghanistan.

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