von Marita Bagdahn

Heinrich Winter betrachtete sein zerfurchtes Gesicht im Spiegel, strich über Wangen und Kinn. Musste er sich heute rasieren? Die Bartstoppeln waren fast so lang, dass sie nicht mehr kratzten. Martha würde nicht schimpfen. Sie schimpfte nicht mehr. Früher schon. Früher … gestern … Hatte er sich gestern rasiert? Kam Claudia ihn heute besuchen?

Im Pyjama schlurfte er in die Küche und schaute auf dem Wandkalender nach. Seine Tochter hatte die Tage, an denen sie zu ihm kam, rot umkringelt. Es waren viele Kringel – nur: Was für ein Tag war heute bloß? Dienstag? Freitag?

Vorsichtshalber beschloss er, sich zu rasieren und saubere Kleidung anzuziehen. Ihm entgingen Claudias verstohlene Blicke nicht, wenn sie ihn begrüßte. Er konnte sich noch gut allein versorgen! Es war nur so anstrengend, ihr das immer aufs Neue zu beweisen.

Das Frühstücksgeschirr ließ er stehen, er konnte es später wegräumen. Die Sonne schien verführerisch durchs Küchenfenster. Wer weiß, wie lange noch. Es konnte Regen geben. Heinrich zog die blaue Jacke an, nahm seinen Spazierstock und verließ die Wohnung. Angenehm mild empfing ihn die Luft.

„Na, Herr Winter“, rief ihm Frau Schmittke aus dem geöffneten Fenster zu, „machen Sie Ihren Spaziergang?“

Verhalten antwortete er: „Ja“, und murmelte vor sich hin: „Vielleicht schaffe ich es heute noch bis zum Friedhof.“

„Na, na, lassen Sie das lieber nicht Ihre Tochter wissen.“

Dieses Klatschweib hat Ohren wie ein Luchs! dachte Heinrich.

Das zarte Grün der Bäume und Büsche tat seinen Augen gut, die Bewegung und die frische Luft belebten ihn. Für sein Alter war Heinrich ganz gut zu Fuß, nur die linke Hüfte machte ihm Probleme. Er brauchte seine Spaziergänge; leider wollte Claudia nicht, dass er allein so weit ging.

Er entschied sich für einen kleinen Abstecher zur alten Mauer unweit seiner Wohnung und blieb dort eine Weile stehen. Seine Hand glitt über die Bruchsteine, über die unebene Oberfläche, über die Mörtelzwischenräume, die sie verbanden. Diese Mauern liebte er. Sie strahlten für ihn etwas Beruhigendes aus, sie erinnerten ihn an die Mauer an seinem Elternhaus, an der er so oft gespielt, auf die er geklettert war und die ihm manche Schürfwunde und einen gebrochenen Arm eingebracht hatte. Wie oft hatte er als Kind sein Ohr an die kühlen Bruchsteine gelegt, damit sie ihm ihre Geheimnisse anvertrauten. Man musste warten, Geduld haben. Er hatte Geduld gehabt und gewartet.

Als Heinrich sich satt gesehen und zum Abschied nochmal über die Steine gestrichen hatte, spazierte er weiter zum Park, wo die gelben, blauen und roten Blumen in den Beeten ihm entgegen leuchteten. Die Namen fielen ihm gerade nicht ein, doch das machte nichts. Sie sahen hübsch aus und gaben dem Frühling seine Farbenpracht.

Auf einer sonnigen Bank ruhte er sich aus, beobachtete die Spatzen, die sich auf dem Rasen zankten. Wehmütig schaute er den Spaziergängern hinterher, die zu zweit, zu dritt, zu viert an ihm vorbei schlenderten. Ein vorwitziger Spatz hüpfte auf dem Rasen vor der Bank, stoppte und beäugte ihn. „Na, du Kleiner, auch ganz allein?“, sagte Heinrich. Ein Junge rannte vorbei, und der Vogel flatterte aufgeschreckt davon.

Martha lebte schon viele Jahre nicht mehr, und es schien Heinrich, dass sie ihm jeden Tag noch ein bisschen mehr fehlte. Er fasste sich an die Brust. Da war es wieder, das Ziehen. Und dieser Druck, als spannte sich unter seinen Rippen ein eisernes Band. Er zwang sich, tief und ruhig zu atmen und wartete, dass es nachließ.

Ja, er fühlte sich allein. Vor allem, seitdem auch noch Wolfram Blömer von gegenüber weggezogen war. Claudia kam, so oft es ging, aber das war etwas anderes.

Ein leichter Windstoß glitt durch Heinrichs noch volles, weißes Haar. Es war bestimmt schon spät, und er stemmte sich hoch. Aus welcher Richtung war er bloß gekommen? Von rechts? Von links? Unschlüssig drehte er sich um. Die Wege glichen sich, jetzt wo das frische Blätterwerk der Bäume die Sicht in die Ferne verdeckte. Welchen Weg musste er gehen? Er wusste es nicht mehr.

Sein Atem ging kurz und schnell.

Von rechts näherte sich eine junge Frau mit Kinderwagen. Das Gesicht, umrahmt von den pechschwarzen Haaren, kam ihm bekannt vor. War das die Verkäuferin in der Bäckerei? Oder eine neue Nachbarin im Haus?

Ein Lächeln überzog ihr schmales Gesicht, als sie neben ihm anhielt. „Sind Sie auch auf dem Nachhauseweg? Herr Winter, nicht wahr?“ Sie stutzte. „Erkennen Sie mich nicht? Ich bin Frau Resch, aus dem dritten Stock. Wenn Sie möchten, können wir zusammen gehen.“

Heinrich nickte eifrig. „Ja. Ja, gern, Frau … äh. Ich bin nur nicht ganz so schnell zu Fuß wie Sie.“

Frau Resch machte eine wegwerfende Handbewegung, vergewisserte sich kurz, dass das Baby noch schlief, und gemeinsam verließen sie den Park.

„Sie glauben gar nicht, wie wohl ich mich in hier fühle“, plapperte die Nachbarin los. „Erst dachte ich, diese Gegend …“ Ihre Stimme klang angenehm, erstaunlich tief und beruhigend, und Heinrich ging schweigend neben ihr und dem Kinderwagen her.

Als sie zu Hause in den Aufzug stiegen, dachte Heinrich: Den Weg hätte ich auch allein gefunden, aber mit der Nachbarin war es netter. Vielleicht kann ich sie ab und zu abpassen, wenn sie losgeht.

 

Nach dem späten Mittagessen legte er sich aufs Sofa, und erst der schrille Ton der Wohnungsklingel riss ihn aus dem Schlaf. Gleich darauf hörte er, wie sich ein Schlüssel im Türschloss drehte.

„Hallo Paps“ – Claudias Stimme flog durch den Flur – „ich bin’s.“

Heinrich rappelte sich auf, strich träge seine Haare glatt und schob die Füße in die Pantoffeln. Schon stand seine Tochter vor ihm. Heinrich spürte mehr den kurzen Blick, mit dem sie ihn musterte, als dass er ihn sah. Es war nur ein kurzer Moment; es war immer nur ein kurzer Moment, kaum wahrnehmbar. Rasch stellte Claudia den Einkaufskorb ab, beugte sich zu ihm hinab und gab ihm einen Kuss auf seine glatt rasierte Wange.

„Uff, dieser Job macht mich noch fertig“, schnaufte sie und ließ sich neben ihn auf die Couch fallen. „Du hast es furchtbar warm hier.“

„Ich habe geschlafen“, sagte er gereizt. Sie wusste, dass er leicht fror.

„Warum nimmst du nicht die Decke?“

Heinrich stemmte sich aus dem Sofa hoch. „Wollen wir Kaffee trinken?“ Auch Claudia machte Anstalten aufzustehen; er hielt sie zurück. „Bleib sitzen, ich kann das noch. Ruh´ du dich erst mal aus. Du hast es nötig.“

Claudia hatte bei der Arbeit viel um die Ohren. Irgendwas mit Computern, er konnte sich die Einzelheiten nie merken, all dieser neumodische Kram. Sie trug ihren eleganten blauen Hosenanzug, hatte wohl einen wichtigen Termin gehabt. Vor allem wollte Heinrich verhindern, dass sie seine Küche inspizierte, dass sie anhand der Mineralwasserflaschen kontrollierte, ob er genug getrunken hatte. Das hier war sein Reich; er war zwar alt, aber noch fit.

Als er mit der Kanne zurückkam, war der Tisch schon gedeckt, wie immer mit dem Blümchengeschirr von Villeroy und Boch. In der Mitte stand ein Gugelhupf. Schon lange bat sie ihn nicht mehr, Kuchen einzukaufen, sondern brachte immer welchen mit, auch wenn sie selbst kaum davon aß. Doch dass sie beim ersten Schluck Kaffee den Mund verzog, ärgerte ihn. Sie goss so viel Milch in die Tasse, dass sie fast überlief, und nahm zwei Stück Zucker. Sonst knauserte sie mit jeder Kalorie.

Der Kaffee war heute allerdings wirklich sehr stark geraten, musste Heinrich zugeben.

„Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Claudia.

„Natürlich, … Was hast du gerade gesagt?“

Sie schaute in seine Richtung, doch ihr Blick ging durch ihn hindurch. Sie räusperte sich zweimal und fixierte ihn wieder. „Ich habe gesagt, dass ich dich heute Morgen im Sankt-Marien-Heim angemeldet habe.“

„Was hast du?!“ Heinrich setzte die Tasse so heftig ab, dass der Kaffee überschwappte und auf dem Unterteller eine Lache bildete.

Claudias rechtes Augenlid begann zu zucken. „Wir haben vorgestern darüber gesprochen. Erinnerst du dich nicht?“

„Spar dir deinen belehrenden Ton!“ Heinrich war aufgesprungen, lief durchs Zimmer wie ein Raubtier im Käfig auf der Suche nach einer Lücke zwischen den Gitterstäben. „Und ob ich mich erinnere! Und ich habe gesagt, dass ich dort nicht hin gehe. Ich lasse mich nicht in ein Altenheim sperren. Basta!“ Abrupt blieb er stehen und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

Hinter ihren Brillengläsern schimmerten Tränen in Claudias grünbraunen Augen. „Glaubst du … es macht mir Spaß, dich dort unterzubringen, wo du hier bleiben möchtest. Im Moment gibt es keine andere Möglichkeit!“ Mit einer eigenartigen Mischung aus Entschlossenheit und Bitten sah sie ihn an. „Und wenn ich nicht gleich zugegriffen hätte, hätte es Monate dauern können, bis wieder ein Platz frei ist. Du hast dich dort auf die Warteliste setzen lassen.“

„Nur, weil du mich unter Druck gesetzt hast“, fauchte Heinrich.

Jetzt wurde Claudias Stimme ganz klein. „Du kannst nicht mehr alleine leben. Doktor Schröder sagt …“

„Doktor Schröder! Was der Quacksalber sagt, ist mir egal!“

 

Als Claudia ihn verließ, sackte Heinrich auf der Couch zusammen. Demenz … Jedes Mal fing sie damit an. Er wollte davon nichts hören! Er war ein bisschen vergesslich, na und?

Er hatte nicht derartig aufbrausen wollen, auf die heutige Wendung war er allerdings nicht gefasst gewesen.

Ein Pflegeheim, das kam nicht in Frage! Hier ging es ihm doch gut. Unwillkürlich fiel ihm Wolfram Blömer ein. Er war sein letzter Skatpartner gewesen und vor ein paar Wochen nach Hamburg gezogen. Zu meinen Kindern, hatte Wolfram tatsächlich beim Abschied gesagt. Lächerlich! In ein Altenheim hatten sie ihn verfrachtet. So war das.

Auf einmal fühlte Heinrich sich unendlich müde. Er stützte die Ellbogen auf seine Knie und bettete den Kopf in die Hände. Der Regen platschte gegen die Fensterscheibe des Wohnzimmers. Wo Martha nur blieb. Warum war sie nicht da, wenn er sie brauchte! Wo steckte sie, gerade bei diesem Wetter?

Irgendwann blitzte der Gedanke auf: Sie war weg, schon lange … Heinrich hob langsam den Kopf und betrachtete das Acrylgemälde von Norderney, das sie zur Silberhochzeit bekommen hatten. Wie ein Pfeil schoss ein weiterer Gedanke aus den Winkeln seines Hirns hervor: In zwei Wochen, hatte Claudia gesagt.

Heinrich griff nach der Medikamentenschachtel auf dem Tisch, die sie ihm für die nächsten Tage vorbereitet hatte, und ließ die Tabletten langsam in ihren Fächern hin und her kullern.

 

Die nächsten beiden Wochen waren ausgefüllt mit Aufräumen, Aussortieren und Packen, fast jeden Nachmittag kam Claudia nun.

„Hast du dir frei genommen?“, fragte Heinrich.

Sie schüttelte unwirsch den Kopf und fischte einen Kochtopf aus dem Karton, den sie schon zur Hälfte mit Büchern gepackt hatten. „Das brauchst du dort nicht.“

Dort sagte sie nur, nahm das Wort Heim nicht mehr in den Mund, so als ob sie sich daran verbrennen würde. Wie oft sagte sie: „Du kannst nicht alles mitnehmen, du hast dort nicht so viel Platz wie hier.“

Heinrich argumentierte, wehrte sich, an einem Nachmittag brüllte er sie sogar an, spie ihr all seine Hilflosigkeit und Wut entgegen. Egal, wie er sich verhielt, er kam nicht an sie heran, es war, als ob sie eine Mauer um sich herum aufgebaut hätte.

Anfangs hatte er gefragt, was mit den Möbeln, die er zurücklassen sollte, passieren würde. Claudia hatte sich in Ausflüchte gerettet. „Du hast einen großen Wandschrank, deinen Kleiderschrank kannst du dort nicht unterbringen. Und dein Bett ist zu alt.“

„Gib zu, dass du alles auf den Sperrmüll bringen willst!“, stieß er hervor, entsetzt über diese plötzliche Einsicht. „Das wird Mama nie zulassen, niemals!“

Claudia knallte das Lexikon, das sie in der Hand hielt, in den Karton und lief ins Bad, und ihr Schluchzen drang durch die Tür. Verwirrt setzte Heinrich sich in seinem Lieblingssessel und stierte vor sich hin. Hatte er wieder von ihr gesprochen?

Als Claudia zurückkam, ignorierte er ihre roten Augen geflissentlich.

 

Eines Vormittags blickte Heinrich durchs Fenster und überlegte, welche Jacke er zum Spaziergang anziehen sollte. Er stutzte, denn unten an der Straße stand Claudia neben ihrem roten Golf. War es nicht zu früh für ihren Besuch? Gleich dahinter parkte ein weißer Lieferwagen, und Claudia ging zu den zwei jungen Burschen, die ausstiegen.

Langsam, ganz langsam, sickerte die Erkenntnis in Heinrichs Bewusstsein. Seine Muskeln spannten sich wie bei einem Tiger, der zum Sprung ansetzt. Er eilte zur Wohnungstür und drehte den Schlüssel um. Fieberhaft überlegte er, wo Claudia nur den anderen Schlüssel verstaut hatte, der für den zusätzlichen Sicherheitsbalken an der Tür. Mit wenigen Schritten war er in der Küche, riss die große Schublade der Anrichte auf und durchwühlte sie. Nichts.

Wie ertappt hielt er inne, als es klingelte, lauschte, wie Claudia alarmiert „Paps?“ rief. Ein Schlüssel drehte sich im Türschloss, und es knackte.

Schon stand Claudia im Flur und starrte ihn durch die offene Küchentür an, kreideweiß im Gesicht. „Warum hast du denn abgeschlossen?“

Als er sie stumm ansah, trat sie näher und umarmte ihn steif; eine eigentümliche Kälte ging von ihr aus. Heinrich kannte seine Tochter gut genug um zu wissen, dass sie innerlich zitterte. So wie er.

Erst jetzt bemerkte Heinrich die beiden jungen Männer, die ebenfalls in den Flur getreten waren und ungeduldig neben den gestapelten Bücherkartons warteten.

Seine Kraft verließ ihn.

Claudia stellte ihm die Fremden vor, doch Heinrich wandte sich wortlos ab.

Er trottete ins Wohnzimmer, hörte, wie Claudia sich für ihn entschuldigte, dann schimpfend die Bücher, die Heinrich aus dem obersten Karton ausgepackt hatte, zusammensuchte und gleichzeitig den Männern Anweisungen gab. Von der Couch aus lauschte er, wie sie die Kartons hoch wuchteten, hörte das Klacken der Wohnungstür, die sich schloss, hörte Claudias Schritte durch die Wohnung tapsen. Nach einer Weile steckte sie ihren Kopf durch die Wohnzimmertür, versuchte ein Lächeln, die Wangen rosig vom geschäftigen Treiben. „Komm rüber. Ich koche uns gleich einen schönen Kaffee.“

Die Männer trugen seinen Sessel hinunter, den Fernseher, den kleinen Sekretär mit Stuhl, das Bücherregal und die Stehlampe, die er zum 80. Geburtstag bekommen hatte, und die Bilder.

In Heinrichs Kopf wirbelte alles durcheinander. Er wollte ins Bett, schlafen und erst aufwachen, wenn es vorbei war, wenn hier Ruhe und Ordnung eingekehrt wäre. Er stütze sich am Couchtisch auf, rappelte sich hoch, schlurfte zum Schlafzimmer. Dort standen seine beiden großen Reisekoffer, seit Jahren unbenutzt. Wer hatte sie gepackt? Er selbst?

Er zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seine Schultern legte. Behutsam drehte Claudia ihn um und lotste ihn in die Küche. Er ließ es geschehen. Es roch nach Kaffee, und auf dem Tisch stand dampfend seine Tasse. Heinrich ließ sich auf die Bank fallen, legte die zittrigen Hände auf der Tischplatte ab. Die Tasse rührte er nicht an. Ernst und eingehüllt in einen unsichtbaren Schleier hockte Claudia ihm gegenüber, rührte in ihrem Kaffee, sagte „Nun mach nicht solch eine Gesicht“, stand auf, um den beiden Männern auch die Koffer anzuvertrauen, und setzte sich schweigend zurück.

Irgendwann sagte sie: „Komm, Paps, es wird Zeit. Wir müssen rechtzeitig vor dem Mittagessen dort sein.“ Sie nahm seinen Arm und führte ihn zum Abschied noch einmal in jedes Zimmer; Heinrichs waren Beine schwer. Er fühlte sich um Jahre gealtert.

„Wir können nicht ohne Mama wegfahren“, stieß er hervor, als seine Tochter die Wohnungstür öffnete.

Claudia biss sich auf die Unterlippe, und eine kalte Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Dann straffte Claudia sich und sagte, etwas zu laut: „Sie weiß Bescheid, mach dir keine Sorgen. Komm jetzt.“

An der Haustür trafen sie eine schwarzhaarige Frau mit Kinderwagen „Hallo, Herr Winter“, sagte sie „machen Sie einen Ausflug mit Ihrer Tochter?“

Heinrich zuckte mit den Achseln und setzte sich schweigend auf den Beifahrersitz in Claudias Wagen.

„Dieses Heim habe ich mir nicht ausgesucht!“, protestierte Heinrich, als sie die breite Auffahrt entlang fuhren.

Claudia antwortete mit wackeliger Stimme: „Nun warte erst mal ab, bis wir drin sind. Du wirst es schon wiedererkennen.“

Nichts erkannte Heinrich, gar nichts, und das machte alles noch schlimmer. Er schnaubte. Die Brünette am Empfang, die so nett tat, als sei er ein lang erwarteter Hotelgast, hätte seine Enkelin sein können. Claudia führte ihn ins Büro der Leiterin, die ihn mit einem festen Händedruck begrüßte. Die hagere Frau stellte sich als Frau Pitzke vor und setzte, ohne Atem zu holen, zu ihrer Willkommensrede an. Heinrich, in der Sitzecke neben Claudia im plüschigen Sessel versunken, hörte schon nach dem ersten Satz nicht mehr hin. Er musterte die Kakteen auf der Fensterbank und daneben das Gemälde mit den grellen Farbklecksen an der Wand; nur ab und zu schielte er zu Claudia und Frau Pitzke hinüber. Die Leiterin wandte sich mehr und mehr an seine Tochter, die sich ihrerseits an deren Lippen klammerte, als gäbe ihr das Halt.

Beinahe atmete Heinrich auf, als sie ihn zu seinem Zimmer brachten. Apartment, nannten sie es, und sein neues Zuhause.

Es lag im zweiten Stock. Durch einen Vorraum mit großem Wandschrank und einer Tür, die vermutlich zum Bad führte, betrat man das eigentliche Zimmer. Dort warteten seine Sachen schon auf ihn.

„Sie werden sich hier sehr wohl fühlen“, beschwor ihn die Leiterin, deren Namen Heinrich wieder entglitten war. Sie machte eine ausladende Handbewegung zur Fensterfront. „Das ist eine der Wohnungen mit der schönsten Aussicht. Sie haben wirklich Glück, Herr Winter.“ Dieses Glück garnierte sie mit einem verbindlichen Lächeln.

Ob man hier für das Lächeln auch bezahlen muss? schoss es Heinrich durch den Kopf.

Sein schwarzer Ledersessel und seine Stehlampe standen am Fenster, in einer Ecke des großen Zimmers drängten sich seine restlichen Möbelstücke, die drei Bilder und die aufeinander gestapelten Bücherkartons. Daneben hatten sie seine Koffer abgesetzt.

„Bald hast du es ganz gemütlich hier“, sagte Claudia.

Die Frau nickte wie der Wackeldackel auf der Ablage von Heinrichs Mercedes, den er vor ein paar Jahren hatte abgeben müssen. An der gegenüber liegenden Wand befanden sich die Möbel, die offenbar zur Einrichtung gehörten: ein Bett mit Nachtschränkchen und ein niedriges Sideboard.

Heinrich atmete tief durch, als die Heimleiterin endlich das Zimmer verließ.

Claudia trat ans Fenster. „Es ist schön hier“, sagte sie, nach draußen gewandt.

„Es ist ein Käfig“, sagte er, „ein kleiner goldener Käfig.

 

Bagdahn
Foto: Fotostudio Sachsse, Bonn

 

Marita Bagdahn, waschechte Ostwestfälin, die es ins Rheinland verschlagen hat;gelernte Dipl. Verwaltungswirtin;
nach 14 Jahren im Ausland wieder nach Bonn zurückgekehrt;
arbeitet seit 2007 freiberuflich als Poesiepädagogin (Schreibkurse und -workshops) und Autorin (vor allem Kurzprosa, Aphorismen, Kindergeschichten und Lyrik); Veröffentlichungen in Anthologien, Literaturzeitschriften und im Internet;
Preisträgerin bei Schreibwettbewerben;
Website: www.wort-und-stift.de

„Heinrich“ veröffentlicht in: „Schattenzeit-Erzählungen“, Hrsg. Barbara Ter-Nedden, Kid-Verlag, Bonn: 2015
ISBN: 978-3-929386-52-3

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