Fluch und Segen
von Dr. Aide Rehbaum
Trockenes Wüstenklima ist gut verträglich- doch Vorsicht vor Sonnenstich!
Wenn man Altertümer und Wärme liebt, tropisches Klima nicht verträgt und Italien und Griechenland wie seine Westentasche kennt, bietet sich ein Reiseziel an: Ägypten. Abschreckend war der touristische Massenauftrieb der letzten Jahrzehnte gewesen. Würde der Unterschied zu den fünf Wochen geruhsamen Globetrotterns am Beginn des Archäologiestudiums im März 1973 zu krass sein? Als eingefleischte Einzelreisende jetzt eine vierzehntägige Nilkreuzfahrt zum Auftakt des Rentnerdaseins? Allein diese Bedingungen bewirken einen anderen Blick auf eine der ältesten Zivilisationen der Erde.

Gruselig die Vorstellung von Kreuzfahrern: eine ganze Kleinstadt, auf einem Schiff zusammengepfercht, die an jeder Anlegestelle wie ein Heuschreckenschwarm ins Land einfällt. Mit Phoenix, einem Spezialisten für Flussfahrten, auf Agatha Christies Spuren. Das Reisebüro beruhigt, die „HS Nile Vision“ habe nur 54 Kabinen.
Nur ein einziges Passagierschiff kommt zwischen Kairo und Luxor entgegen. Im Grunde sind wir wieder privilegiert, wenn auch auf ganz andere Weise. Wir 93 Passagiere (in drei Gruppen) sind allein in Dendera, Beni Hassan, Kom Ombo, Gebel-el-Tuna oder Amarna. Mit 16 km/h nach Süden tuckernd beobachten wir entspannt das Treiben auf den Feldern, die winkenden und kreischenden Kinder, die Kabine ist ein komfortables Zuhause.
Zudem begeistert uns Skeptiker die vorzügliche Organisation. Alles klappt reibungslos und mit besonders bemerkenswerter Warmherzigkeit. Kann man die so perfekt antrainieren, wenn sie nicht von Herzen kommt? Da hat jemand die geheimsten Sehnsüchte potentieller Gäste gesammelt, um sie vorausschauend zu erfüllen: die gesamte ägyptische Crew ist ein Muster an Freundlichkeit. Jeden Abend liegt auf dem Bett das Programm für den nächsten Tag und, als hätte man Autoren besonders im Auge, einen einfühlsamen Sinnspruch. Der Zimmerservice tobt sich kreativ an den Handtüchern aus. Sogar nachts wird an Land noch ein Optiker rausgeklingelt, um eine Brille zu reparieren. Wetten, dass das auf einer Rhein-Kreuzfahrt nicht gelänge? Geburtstagskinder werden gefeiert: über dem Tisch hängen Wimpel, singend und trällernd präsentiert das Küchenpersonal eine beschriftete Torte und der Suppenkoch wagt ein Tänzchen. Nach jeder Besichtigung erwarten uns die Desinfektion der Hände, ein feuchtes Frotteetüchlein und ein Ingwer-Tee. Wer möchte, kann Hieroglyphen, Arabisch oder einheimisches Kochen lernen und Vorträgen über die politische Entwicklung der letzten hundert Jahre lauschen. Eine Bauchtänzerin, ein Derwisch und nubische Folklore unterhalten abends. Unser humorvoller Reiseleiter Alaa Eldin (einer von drei Germanisten/Ägyptologen) vermittelt pädagogisch versiert den unterschiedlich Vorgebildeten sowohl Kunstgeschichte, über die man auch nachlesen könnte, wie aktuell Hintergründiges, das man als Einzelreisender weniger leicht erfährt.

„Konzentrieren Sie sich doch bitte auf die Schönheit der Landschaft und die fröhlichen Menschen. Die Ermahnung ist berechtigt, das Stöhnen im Bus unüberhörbar. Selbst Schwarzafrikaner auf Heimaturlaub brauchen eine Woche, um den Anblick wieder zu ertragen: Müll, wohin das Auge schaut. Die Problemlösung fange neuerdings in der Kinderstube an, beruhigt uns Alaa Eldin, und hänge natürlich eng von der Infrastruktur ab. Als sei es ein Beweis, zeigt er in El Balyana auf einen einzelnen Müllwagen europäischen Standards. Wo mag der das Zeug abladen? An irgendeine Kanalböschung?
Ein Land zehrt vom Ruf der Jahrtausende
Abgesehen davon hat sich Ägypten in den zurückliegenden sechsundvierzig Jahren stark gewandelt. Seit Napoleon waren die Ruinen Hauptanziehungspunkt. Das wollte der Staat ab 1974 ändern. Der Erfolg bedeutete Fluch und Segen zugleich. Zwar gibt es immer noch keine Bikinimädchen, die an den Pyramiden ihre Morgengymnastik absolvieren, aber sterile Reservate am Roten Meer für Kulturverweigerer, die nur preisgünstiger als auf Sulawesi Korallentauchen wollen. Unter Mubarat, der ausschließlich den Tourismus förderte, versank die Bevölkerung in Lethargie. Korruption wurde alltäglich. Heute soll der Export von Baumwolle, Textilien und Lebensmitteln ein weiteres Standbein sein.
Faruks Sahara City, zu der ich den Ritt meines Lebens unternahm, ist spurlos verschwunden. Wo konnte man nur seinerzeit versteinertes Holz gesammelt? Geplant sind auch in Giza Sightseeingbähnchen wie im Tal der Könige und in Der-el-Bahari. Nördlich der Pyramiden von Giza ragt eine von acht Trabantenstädten wie eine Fata Morgana aus dem frühmorgendlichen Dunst. Zwei Millionen Ägypter sollen dort schon leben, so genau weiß das keiner. Der Stadtrand, der sich bis an die Sphinx heranschiebt, wird als nächstes abgerissen. Die Bevölkerungsexplosion ist ein kaum lösbares Problem. Viele Hochhäuser, die der Staat ursprünglich für die Unter- und Mittelschicht plante, haben chinesische Investoren übernommen und an Betuchte verkauft. Saudis reservieren sich Sommerdomizile. Illegale Bauten schießen über Nacht in die Höhe. Aus den Emiraten und dem Irak zurückkehrende Gastarbeiter kaufen vorsorglich mit günstigen Krediten halbfertige Wohnungen für ihre Kinder. Überall sieht man deshalb leere Fensterhöhlen, Armierungseisen ragen aus Betonpfeilern für zukünftige Stockwerke, Zwischendecken sind schon wieder heruntergebrochen. Wäsche und Teppiche baumeln mittendrin über Balkonen von schon bezogenen Wohnungen. Auf den Flachdächern leben Menschen mit Ziegen und Hühnern in Bretterverschlägen. Hütten auf fruchtbarem Boden reißt die Polizei erbarmungslos nieder. Wohin mit all den Menschen?
Von Terror und Gewalt

1973 schützten Sandsackwälle die Vitrinen in den Museen vor Splitterbomben. Von Kairo nach Luxor oder Assuan kam man ausschließlich per Bahn oder Flugzeug. Dahshur war nur eines von vielen militärischen Sperrgebieten. Der zu befürchtende Krieg dezimierte damals die Touristenzahlen, aktuell ist es der Terrorismus. Die Trümmer des Bombenanschlags von Dezember 2018 in der Nähe der Sphinx liegen noch da. Seit 2013 Präsident Mohammed Mursi gestürzt und die Muslimbruderschaft wieder entmachtet wurde, kämpft das Land gegen Islamisten, die am liebsten sogar die Pyramiden sprengen würden. In Europa registrierte man eines der mehr als 2200 Attentate nur, wenn es Ausländer oder Christen getroffen hatte. Kein Wunder, dass man auf unsere Sicherheit zu Wasser und zu Land sehr bedacht ist. Während auf gepanzerten Wagen Maschinengewehre installiert sind, begleitet uns bewaffnete Polizei auf Motorrädern und Geheimdienst zu Fuß und sperrt die sechsspurige Uferstraße nur wegen unseres Abendspaziergangs. Der siebzigjährige Wolfgang meint: „So viel Polizeischutz hatte ich das letzte Mal bei einer Studentendemo gegen die Pershing-Stationierung.“ Das mulmige Gefühl legt sich jedoch genauso wie die Idee von Extratouren. Wir fühlen uns sicher, aber wenn es einer wirklich auf uns abgesehen hätte… Obwohl wir ein Verkehrshindernis darstellen, jubelt die Bevölkerung, als käme der Prinzenwagen im Karnevalszug.
Selbst zehn Tage Zeit sind für Luxor knapp bemessen. Das Hotel Marsam, meine alte Unterkunft, die der berühmtesten Grabräuberfamilie des 19. Jahrhunderts gehört, gibt es noch immer. Gleichzeitig mit mir logierten hier auch etliche Ausgrabungsleiter, nach Feierabend erfuhr man aus erster Hand von Neufunden. Heute weiß Alaa Eldin aus dem Internet, was tags zuvor entdeckt wurde. Zum Glück habe ich mit Fahrrad oder Esel alle Gräber von Pharaonen, Königinnen und Beamten auf dem Westufer besucht, denn im Tal der Könige werden nur noch wenige abwechselnd geöffnet. Die Malereien bröckeln unter dem Kondenswasser der Besuchermassen.
Wüstenkultivierung und Bevölkerungsexplosion

Die Aufbruchstimmung nach der Revolution von 2011 hält noch an. In den entferntesten Bauernhöfen informiert man sich via Satellitenschüssel. Während den Jungen die Demokratisierung zu langsam geht, fassen sich die Alten in Geduld, denn endlich bewegt sich überhaupt etwas. Shadufs und Sakiyas, die hölzernen Schöpfgeräte, sind restlos von Motorpumpen abgelöst. Riesige Areale in der Wüste werden aufwändig bewässert und Schlamm dorthin transportiert. Ohne die jährliche Nilschwelle gibt es zwar mehrere Ernten im Jahr, aber nur mit Hilfe von Kunstdünger. Und die Salze spült das Flusswasser nicht mehr weg. Wie lange wird das gutgehen?
Den Tempel von Philae besichtigte man 1973 noch vom Boot aus, Spundwände wurden gerade in den Grund getrieben, um das Wasser abpumpen zu können. Seit 1980 stehen die Gebäude versetzt auf einer Nachbarinsel. Ein Grund stolz zu sein über die Leistung auch in Abu Simbel, denn hier fällt die Sonne genau wie ursprünglich zum Geburtstag (22. Februar) und am Krönungstag (22. Oktober) von Ramses II. ins Allerheiligste.
Vermittler contra Verfälscher?

Sympathisch, dass auch ein Reiseveranstalter Eigeninitiative fördern möchte. In Assuan bringt uns ein Boot durch den traumhaft schönen Katarakt, vorbei an dösenden Wasserbüffeln und Kamele, begleitet vom Gezwitscher der Vögel im Schilf, bis zu einem Dorf, in dem vom Stausee vertriebene Nubier siedeln. Der Sheikh schlendert mit uns durch die Gässchen, zeigt die schlicht ausgestattete Krankenstation, die eine einheimische private Stiftung initiiert hat und finanziert, eine sinnvolle Gelegenheit die Spendenkasse zu füttern. Im Kindergarten ertönt ohrenbetäubender Sprechgesang zur Begrüßung. Die Erzieherin freut sich über Kulis oder Hefte. Die Grundschule verfügt über einen Computerraum mit alten Röhrenmonitoren, benutzbar, sobald es denn Strom gibt. Neuerdings leiht der Staat kostenlos jedem Kind ein Tablet für die Dauer der Schulzeit, um den Mangel an Büchern auszugleichen.
Unser Führer bittet, im Dorf keine Andenken zu kaufen. Das verführe nämlich bald dazu, statt auf dem Feld zu arbeiten Basteleien anzufertigen und damit Besucher lästig zu bedrängen. Sobald das eintritt, wird ein anderes Dorf gesucht. Die Crew der Feluke darf jedoch aus Sandelholz geschnitzte Tiere, sowie Schmuck aus Kamelknochen und getrockneten Früchten im Boot beiläufig ausbreiten. Auf diese zurückhaltende Art finden sich problemlos Liebhaber.
Handwerker erlebten wir nur im Souk in Kairo. Sicher wäre es interessant, beim Besuch kleiner Produktionsstätten mehr Einblick in den Alltag zu gewinnen. Etwas spärlich waren die Hinweise an Bord zu dem, was am Ufer zu sehen war. Wir sind zwar keine überzeugten Pauschalurlauber zu Wasser geworden, aber die Ermunterung zu genießen war unnötig. Eine Nilkreuzfahrt ist der reine Genuss.