Türkinnen sind zunehmend Gewalt ausgesetzt. Des Präsidenten altmodisches Frauenbild hat seinen Anteil daran.

Türkische Polizei geht gegen demonstrierende Frauen vor

In der Türkei erzählen die Schlagzeilen oft grausige Geschichten von Gewalt gegen Frauen – auf der Straße, in Bussen und Bahnen und zu Hause. Da war die 20-jährige Studentin, die von einem Busfahrer nach einem Vergewaltigungsversuch verprügelt, verbrannt und in einen Fluss geworfen wurde. Oder die türkische Nachrichtensprecherin, die kurz nach der Geburt ihres Kindes von ihrem Ehemann dermaßen brutal geschlagen wurde, dass sie heute gelähmt ist. Oder die Frau, die in einem Friseursalon von ihrem Mann erschossen wurde; er hatte – soeben erst aus dem Polizeigewahrsam entlassen – sein Kontaktverbot missachtet. Und dann war da Eda Okutge, die von ihrem Ex-Mann auf der Treppe erstochen wurde, während sich ihr kleiner Sohn mehrere Stockwerke weiter oben versteckte.

Eda ist eine von tausenden türkischer Frauen, die in den vergangenen Jahren Mord und Gewalt zum Opfer fielen. In den Jahren 2015 bis 2016 wurden mindestens 414 Frauen getötet – meistens von ihrem Lebensgefährten oder einem Familienmitglied –, während es 2014 noch 294 und im Jahr zuvor 237 waren. Da Zahlen stammen von der landesweiten Organisation „Wir werden die Frauenmorde beenden“, die Morde an Frauen dokumentiert und Gewaltopfer und ihre Familien unterstützt. Aktivistinnen, Anwälte und Überlebende von Gewalt sagen, dass sich die Situation zuspitze, da Frauenrechte und der Schutz für Frauen in besorgniserregendem Ausmaß beschnitten würden. Unter der wachsend autoritären Herrschaft Präsident Recep Tayyip Erdoğans unterdrückt die Regierung abweichende Meinungen und forciert politische Maßnahmen zum Schaden der Frauen. Und das alles geschieht in einem Land, das einst als Modell für eine stabile, moderne islamische Demokratie gepriesen wurde.

Ein Land in Angst

Frauenrechtlerinnen zufolge, sind türkische Gerichte Frauen gegenüber häufig voreingenommen. Richter können das Strafmaß für Mörder und Vergewaltiger nach eigenem Ermessen senken, wenn der Mann die Gewalttat beispielsweise mit der angeblichen Untreue oder unangemessener Kleidung seiner Frau begründet oder wenn er im Gerichtssaal tadelloses Benehmen an den Tag legt.

Eda Okutges Schwestern kämpfen nun schon seit zwei Jahren gegen dieses System. Edas Ex-Mann Buynak sitzt zwar derzeit für den Mord im Gefängnis, hat sich aber einen Staranwalt besorgt, der seine Verurteilung anficht. Buynak macht Unzurechnungsfähigkeit geltend und behauptet, seine Ex-Frau habe ihn mit einer Affäre und ihrer Weigerung des Geschlechtsverkehrs provoziert. Edas Freunde bezeichnen diese Vorwürfe als lächerlich, doch für Buynak sind sie lediglich ein strategischer Schachzug: Wenn das Gericht durch ein medizinisches Gutachten feststellen ließe, dass er zum Zeitpunkt des Verbrechens unzurechnungsfähig war, würde er womöglich aus dem Gefängnis entlassen. Und nach einer relativ kurzen Behandlung in einer psychiatrischen Klinik könnte er wieder auf freien Fuß kommen.

Die türkischen Gesetze sehen recht starke Schutzmechanismen für Frauen vor. Das Problem ist: Viele Gesetze werden schlicht nicht angewandt.

Ismail Altun, der für Edas Fall zuständige Ankläger, hat als Anwalt in den vergangenen 22 Jahren mindestens 40 Fälle misshandelter, vergewaltigter und ermordeter Frauen vertreten. Er kennt das alles.

„Ich glaube nicht, dass die Morde zurückgehen werden“, sagt Altun. Vielmehr belegten die Zahlen von Gruppen wie „Wir werden die Frauenmorde beenden“, dass die Rate steige. Wie viele Frauen in der Türkei tatsächlich misshandelt werden, ist unbekannt. Viele Opfer suchen keine Hilfe, weil sie finanziell nicht auf eigenen Füßen stehen können oder weil sie Angst haben, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten.

„Und wenn sie zur Polizei gehen, tun die Polizisten es als familiäres Problem ab“, sagt Altun. Im Jahr 2014 kritisierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Türkei eine „strukturelle Passivität der Gerichtsbarkeit bei Vorwürfen häuslicher Gewalt“. Altun zufolge wird es nur noch schlimmer.

Die türkischen Gesetze sehen recht starke Schutzmechanismen für Frauen vor. Das Problem ist, dass viele Gesetze schlicht nicht angewandt werden. Und dies trotz deutlicher rechtlicher Verbesserungen: So dehnte die Türkei im Jahr 2012 ein Gesetz gegen häusliche Gewalt auf unverheiratete Frauen aus. Zuvor waren nur verheiratete Frauen vor häuslicher Gewalt geschützt. Das Gesetz verlieh auch Polizisten mehr Befugnisse im Umgang mit Fällen häuslicher Gewalt. Doch wenn das Recht nicht umgesetzt wird, kann es Frauen wohl kaum schützen.

In den letzten Monaten hat sich die Lage verschärft. Im Januar senkte das Justizministerium die Examensanforderungen für Richter oder Staatsanwälte. Im Zuge des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch im Juli vorigen Jahres hat die Türkei etwa 4000 Richter und Staatsanwälte entlassen und inhaftiert. Ersetzt wurden sie von unerfahrenen Richtern, ausgewählt überwiegend nach ihrer Loyalität gegenüber Erdoğan und seiner herrschenden „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP). „Erdogan nutzt die Säuberungen nach dem Putsch für eine Politisierung der Justiz“, erklärt Soner Cagaptay, Direktor des Forschungsprogramms zur Türkei am Washington Institute.

Die Säuberungen in der Justiz gehen mit einem zunehmend autoritären Führungsstil einher, eine Entwicklung,  die sich seit dem Putschversuch im Juli intensiviert hat.

Die Säuberungen in der Justiz gehen mit einem zunehmend autoritären Führungsstil einher – eine Entwicklung, vor der Kritiker der türkischen Regierung seit Jahren warnen und die sich seit dem Putschversuch im Juli intensiviert hat. Begleitet wird sie von einer religiös konservativen Rhetorik und Politik. Erdoğan hat Abtreibung bereits öffentlich als Verrat gebrandmarkt und mahnt Frauen, mindestens drei Kinder zu bekommen. Er lehnt Kaiserschnitte entschieden ab und deklariert eine arbeitende Frau als „halbe“ Person, weil sie „die Mutterschaft ablehnt und die Haushaltsführung aufgibt“.

Schockiert reagierten viele Türkinnen im Jahr 2014 auf die Aussage des damaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç, Frauen sollten in der Öffentlichkeit nicht lachen, weil dies sich nicht schickte. Viele Frauen posteten daraufhin in sozialen Netzwerken Fotos, auf denen sie der türkischen Regierung ins Gesicht lachten. Im November 2016 brachte die AKP, zum Entsetzen von Menschenrechtsorganisationen, einen umstrittenen Gesetzentwurf ein, nach dem verurteilte Kinderschänder begnadigt werden sollten, sofern sie ihre Opfer heirateten. Als Tausende von Türkinnen und Türken aus Protest gegen diesen Gesetzentwurf auf die Straße gingen, zog ihn die AKP zurück.

Gegenwehr

Am 16. April 2017 nahmen die Türken mit knapper Mehrheit ein Referendum an, das Erdoğan – dem zufolge Frauen weniger wert sind als Männer – als Präsident einen deutlichen Machtzuwachs beschert. Zwar gratulierte US-Präsident Donald Trump Erdoğan zu seinem Sieg, doch das US-Außenministerium und andere ausländische Beobachter äußerten sich besorgt über die zahlreichen Vorwürfe von Unregelmäßigkeiten und Einschüchterungsversuchen bei der Wahl. Erdoğan selbst wies jede Kritik gegen das Referendum zurück und warnte Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), „sie sollen wissen, wo sie hingehören.“ Da ein Führungswechsel eher unwahrscheinlich ist, liegt vor den Türkinnen und Türken, die an vorderster Front für Frauenrechte kämpfen, nun erst recht ein steiniger Weg.

Zurückweichen kommt für viele Frauen in der Türkei aber nicht in Frage. Edas Tod beispielsweise hat Frauen wie ihre Schwester Nazli erst in den Aktivismus getrieben. Nazli glaubt, dass die Gewalt gegen Frauen durch die brisante Haltung der Regierung zu Frauenrechten noch zunehmen wird. Und genau deshalb kämpft sie.

Sophia Jones ist Herausgeberin und Journalisten beim Fuller Project for International Reporting.

Merken

Merken

- ANZEIGE -