Wie Labours Problem mit Antisemitismus den Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn beschädigt.

Demonstrationen vor der Labour-Zentrale in London im April

Ausgerechnet in dem Moment, in dem die konservative Regierung im Streit um den Brexit immer weiter auseinanderfällt und die Torys sich gegenseitig zerfleischen, lässt die britische Labour Party ihre eigene interne Krise hochkochen und verschafft der Regierung damit eine Atempause. Worum geht es bei dieser Krise zur absoluten Unzeit überhaupt? Um die Haltung der Linken zum Brexit, um Wahlkampfstrategien, um die von der neuen Technologie ausgehende Gefahr für Arbeitsplätze und Löhne oder vielleicht auch um den Umgang mit dem Klimawandel, während das Land unter der Hitzewelle ächzt? Nein, unglaublich, aber wahr: Die Krise dreht sich um das Ausmaß des und die Reaktion auf den Antisemitismus innerhalb der Labour Party.

Seit Jeremy Corbin 2015 zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, kommt es immer wieder zu Kontroversen über antisemitische Äußerungen in den Reihen der Partei, wobei die gegenseitigen Anschuldigungen immer lautstarker vorgetragen werden. Die Aussage des früheren Vertreters des linken Parteiflügels Ken Livingston über eine Verbindung zwischen Zionismus und Nazismus führte zu einem langandauernden Streit. Schließlich trat Livingston aus der Partei aus. Die Zahl jüdischer Proteste gegen immer anstößigere Beiträge und Kommentare im Internet nahm zu. Die jüdischen Labour-Abgeordneten fühlten sich immer mehr unter Beschuss. Vor dem Parlament fand eine pro-jüdische Demonstration statt, und 68 Rabbiner schrieben einen Protestbrief an Jeremy Corbyn. Die drei führenden jüdischen Tageszeitungen Großbritanniens veröffentlichten auf ihren jeweiligen Titelseiten einen gemeinsamen Kommentar, in dem es hieß, dass jüdisches Leben in Großbritannien existentiell bedroht würde, wenn Labour an die Regierung käme. Die Partei hatte zwar die international anerkannte Definition von Antisemitismus übernommen, allerdings vier Unterpunkte ausgelassen. Das hat den neuen Ärger ausgelöst und die Frage aufgeworfen, ob dies nicht weiteren Spielraum für vermehrten Antisemitismus eröffne.

Die Krise gipfelte darin, dass gegen zwei Labour-Abgeordnete Disziplinarverfahren eingeleitet wurden, weil sie den Parteivorstand als rassistisch bezeichnet hatten. Das Verfahren gegen eine der beiden, Margaret Hodge, wurde mittlerweile eingestellt, und Corbyn schrieb kürzlich nicht nur einen Artikel im Guardian, sondern schickte auch ein Video herum, in dem er sich für all die verursachten Verletzungen entschuldigte und versprach, hart gegen antisemitische Äußerungen vorzugehen. Das hat die Krise etwas abklingen lassen, aber sicherlich nicht beendet.

Es besteht kein Zweifel, dass einige der Parteirechten sich das Problem des Antisemitismus zunutze machen, um Corbyns Parteiführung zu untergraben. Für die früheren „Blairiten“ war die Wahl Corbyns 2015 ein politisches Erdbeben.

Die Krise hat zwei Triebfedern. Es besteht kein Zweifel, dass einige der Parteirechten sich das Problem des Antisemitismus zunutze machen, um Corbyns Parteiführung zu untergraben. Für die früheren „Blairiten“ war die Wahl Corbyns 2015 ein politisches Erdbeben, das sie weder verstehen noch akzeptieren. Seit ihr unbesonnener Putschversuch im britischen Unterhaus, Corbyn per Misstrauensvotum als Parteichef abzusetzen, von einer deutlichen Mehrheit der Parteimitglieder abgelehnt wurde und die Partei bei den Wahlen von 2017 überraschend gut abschnitt, warten sie auf eine neue Gelegenheit, gegen Corbyn vorzugehen. Sie halten nicht nur seine Nahost-Politik für falsch, in ihren Augen ist Corbyn auch aufgrund seiner Ansichten, Maßnahmen und alten politischen Kontakte nicht für ein hohes Amt geeignet. Deshalb ist es wichtig, hier zwischen echter Empörung gegen Antisemitismus und der andauernden Auflehnung gegen einen Corbynismus zu unterscheiden.

Aber auch Corbyn und einige Abgeordnete des linken Flügels tragen einen Teil der Schuld. Seit einige der Hinterbänkler mit Corbyns Wahl eher zur Hauptströmung der Partei gehören, haben sie auf beunruhigende Weise die Grenzen zwischen einer Feindseligkeit gegenüber Israel, der Misere der Palästinenser und Antisemitismus verwischt. Die eher bei einigen Linken vorzufindende Überzeugung, das Scheitern des Sozialismus sei ausschließlich auf den Verrat von „Bankern“ und ihresgleichen zurückzuführen, lässt andere geläufige und widerwärtige antijüdische Stereotype anklingen. Die Parteispitze versäumte es, sich mit diesen Leuten und diesen Themen auseinanderzusetzen und, vor allem, sich mit den vielen führenden jüdischen Parteimitgliedern zusammenzutun. Diese sind keine unzufriedenen „Blairiten“, die sich darüber ärgern, dass Corbyn ihnen ihre Ämter entzogen hat und die Partei ihrer Meinung nach in die politische Isolation führt.

Es ist keine Frage, dass es in der Labour Party viel zu viele antisemitische Vorfälle gab und gibt. Ebenso deutlich ist, dass dieses Thema von einigen zweckentfremdet wurde, um Corbyn zu attackieren. Es stellt sich aber die Frage, warum die Parteispitze so schlecht mit dem Problem umgegangen ist und was das in näherer Zukunft für die Labour-Führung bedeutet.

Corbyn gewann die Wahl zum Parteivorsitzenden mit einem Erdrutschsieg, weil er als Mann von Grundsätzen gilt, der sich nicht beirren und nicht von Wahlkampferwägungen, den Medien oder sonst irgendjemandem beeinflussen lässt. Seine moralische Überzeugung war sein Schwert und Schild. Aber die antisemitische Krise hat jetzt, berechtigt oder unberechtigt, nicht nur seiner moralischen Rüstung eine Delle verpasst, sondern Corbyn auch als, gelinde gesagt, zu klobig im Umgang mit einer Krise gezeigt, auf die besser und schneller hätte reagiert werden müssen.

Was jetzt zu Tage tritt, ist die Kultur eines Führungsstils von oben nach unten, und zwar genau in einem Moment, da sich sämtliche Hoffnungen für die Sozialdemokratie auf eine Zukunft richten, die verhandelt werden muss und nicht auferlegt werden darf.

Die Antisemitismus-Anschuldigungen sind schwerwiegend, aber genauso ernsthaft ist die Gefahr, dass sich eine kleine Gruppe, die sich jahrelang in der politischen Einöde aneinanderklammerte und niemandem außer sich selbst über den Weg traute, nun schwertut, sich für andere und nach außen zu öffnen. Was jetzt zu Tage tritt, ist die Kultur eines Führungsstils von oben nach unten, und zwar genau in einem Moment, da sich sämtliche Hoffnungen für die Sozialdemokratie auf eine Zukunft richten, die verhandelt werden muss und nicht auferlegt werden darf.

Die Krise kann sich unmöglich ewig fortsetzen. An der Parteibasis will kaum jemand, dass Corbyn aufgrund dieser oder anderer Probleme als Parteichef abgesetzt wird – zumindest nicht vor den nächsten Parlamentswahlen. Aber die Parteiführung wurde durch die Krise stark erschüttert. In der Parteilinken zeigen sich die ersten Risse – nicht zuletzt darüber, ob Pete Wilsman wieder als Kandidat der Parteilinken für den Labour-Vorstand nominiert werden sollte, nachdem seine Schimpftirade aufgezeichnet wurde, die Antisemitismus-Klagen seien überzogen. Und die Partei ist nun noch polarisierter als je zuvor – mit Wunden, die tief gehen und sehr persönlich werden.

Trotz der drohenden Gefahr, dass sich in Großbritannien eine neue Partei der Mitte etabliert und dass sich der Brexit – zumindest für die Torys – zu einem nationalen Desaster entwickelt, bekämpft die Labour Party sich selbst statt für das Land zu kämpfen. Dass jede Seite die Schuld der jeweils anderen zuschiebt, verheißt nichts Gutes für die Einheit der Partei – gerade dann, wenn sie am meisten gebraucht wird.

Neal Lawson ist Vorsitzender der NGO Compass und schreibt für den Guardian und den New Statesman. Er arbeitete als Berater für Gordon Brown und für Gewerkschaften. 2009 veröffentlichte er das Buch All Consuming.

- ANZEIGE -