Die Königsgräber von Bonn-Beuel
Die Vorfahren der heute in Europa lebenden Roma und Sinti stammen ursprünglich aus Indien beziehungsweise dem heutigen Pakistan. Sie wanderten seit dem 8. bis 10. Jahrhundert über Persien, Kleinasien oder dem Kaukasus (Armenien), schließlich im 13. und 14. Jahrhundert über Griechenland und den Balkan nach Mittel-, West- und Nordeuropa; und von dort aus auch nach Amerika. Das machten sie nicht nur aus reiner Wanderlust, wie ihnen mitunter unterstellt wurde, sondern aus wirtschaftlicher Not, in Folge von Verfolgung und Vertreibung.

Roma und Sinti sind Mitglieder verschiedener Religionen oder auch Konfessionen, vielfach sind sie Moslems oder Orthodoxe im europäischen Südosten, Katholiken und Protestanten in Mitteleuropa und auch Mitglieder von Freikirchen überall in der Welt. Gemeinsam sind ihnen die Wertschätzung und große Bedeutung von Familie und Familienoberhäuptern, sogar über den Tod hinaus.
Durch ihr unterschiedliches Aussehen, ihre eigene Sprache und Kultur (u.a. Musik) wurden sie in Europa immer als Sonderlinge gesehen. Mitunter sogar als Unberührbare, Vogelfreie, Rechtlose, als Gruppe der Fahrenden, als Zigeuner eben. Sie wurden diskriminiert und verfolgt, ganz besonders von den Nazis, denen die Kirchenmänner tatkräftig halfen, indem sie die Kirchenbücher nach Zigeunern durchforstete. Von der eigenen Kirche verfolgt und ihr trotzdem treu! Ein Zeugnis dafür sind die opulenten Grabstätten auf dem Beueler Friedhof am Platanenweg. Wobei es sich nicht nur um Königsgräber handelt! Den Titel König tragen die Oberhäupter der großen Familien-Clans (wie Biela, Goman, Cyryl, Czori).
Die Königsgräber von Bonn-Beuel, gelegen auf dem Friedhof in Beuel, sind beeindruckende Zeugnisse der Bestattungskultur der Sinti und Roma, insbesondere der aus den Großfamilien bzw. Clans der Czori und Goman. Diese opulenten Grabstätten reflektieren die tiefe Wertschätzung für Familie und Familienoberhäupter, die auch über den Tod hinaus andauert. Die Traditionen und Bräuche der Sinti und Roma, eine ethnische Minderheit mit Wurzeln, die bis ins Indien des 8. bis 10. Jahrhunderts zurückreichen, sind in diesen Grabanlagen lebendig. Monumentale Grabanlagen mit lebensechten Darstellungen der Verstorbenen, teilweise als Skulptur oder durch fotomechanische Ätztechnik auf dem Grabstein, sowie die Darstellung von im Leben wichtigen Gegenständen wie Musikinstrumenten oder Autos, sind charakteristische Merkmale. Diese Gräber dienen nicht nur als letzte Ruhestätte, sondern auch als Ort des Gedenkens und der Ahnenverehrung. Besondere Gedenktage wie Geburtstage, Todestage und vor allem Allerheiligen, zu denen sich die ganze Familie am Grab versammelt, unterstreichen die Bedeutung dieser Orte für die Gemeinschaft.

Die Grabanlage von Ferko Czori, einem bedeutenden Oberhaupt der Czori-Familie, ist eine der größten und auffälligsten, bestehend aus schwarzem indischen Granit und gekrönt von einer riesigen Krone sowie einer lebensgroßen Marmorfigur Czoris. Diese Grabstätten auf dem Beueler Friedhof, obwohl sie in einer Region liegen, in der die Sinti und Roma nicht in nennenswerter Anzahl ansässig sind, wurden vermutlich wegen der Nähe zu „Pützchens Markt“, einem großen Volksfest und Arbeitsplatz vieler Schausteller-Familien aus dieser Gemeinschaft, gewählt. Die Königsgräber von Beuel sind nicht nur ein lokales Kulturgut, sondern auch ein bedeutendes Beispiel für die Bestattungskultur der Roma in Deutschland, die tiefgreifende Einblicke in die Werte, Traditionen und den Respekt vor den Ahnen dieser Gemeinschaft bietet.
Es bestimmte Standards bei allen Sinti und Roma-Bestattungen gibt: „Ein absolutes Muss ist die Beerdigungsmesse in der Trauerhalle. Da schweigen die Trauergäste, keiner sagt einen Ton. Die Verstorbenen sind aufgebahrt im offenen Metallsarg und immer sehr schön zurecht gemacht. Sie tragen ihre beste Kleidung und jede Menge kostbaren Schmuck, manchmal ist auch ein zusätzliches Statussymbol beigegeben.“ Nach Ende des Trauergottesdienstes wird der Sarg von den Sargträgern zum Grab getragen. Die Särge selbst sind sehr schwer und aus Metall: „Diese Grabanlagen sind eigentlich Gruften und innen ausgemauert und gekachelt. Da es folglich keine Erdbestattung gibt, sind diese Metallsärge Pflicht.“ Begleitet wird der Zug zum Grab oft von „Klageweibern“, die genau das tun: „Lautstark und für Außenstehende etwas theatralisch den Tode des Verstorbenen beklagen.“ Typisch für Sinti und Roma christlichen Glaubens ist die Marien-Verehrung. Entsprechend viele Mariendarstellungen sind auf den Grabanlagen zu sehen.

Die Achtung gegenüber den Alten ist selbstverständlich für die Sinti und Roma. Die Familien sind stolz auf ihre Alten, denn die alten Menschen sind Träger und Bewahrer der Überlieferungen und Familiengeschichten. Die Alten leben bis zum Tode inmitten der Familie. Ein Lebensabend außerhalb, zum Beispiel in einem Seniorenheim, ist unvorstellbar. In der Sprache der Sinti und Roma, dem Romani – oder „Romanés“ wie sie selbst sagen – gibt es folgerichtig kein Wort für Alten-/Seniorenheim. Diese Verehrung der Alten gilt über deren Tod hinaus. So sind die Sinti und Roma-Gräber in Beuel und anderenorts nicht nur vorbildlich gepflegt und ganzjährig üppig mit Blumen geschmückt. Einmal im Jahr, am 1. November, zu Allerheiligen also, unternehmen die Familien-Clans eine regelrechte Wallfahrt zu den Gräbern Ihrer Verstorbenen. Dann versammeln sich die Angehörigen um die Grabstätten und gedenken ihrer Toten. Es wird gegessen, getrunken, musiziert und gelacht. Andächtige Stille herrscht aber, wenn die Alten die Familiengeschichte erzählen. Dann lauschen auch die Kleinsten, denn das Geschichtenerzählen hat eine ausgeprägte Tradition bei den Sinti und Roma.
Sepp Spiegl
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