von Günter Müchler

Günter Müchler

Vor 75 Jahren begann der Koreakrieg. Er ist er außerhalb der Region nahezu vergessen, zu Unrecht. Denn die Bezüge zum aktuellen Krieg um die Ukraine sind augenfällig. Auch damals beanspruchte eine aggressive Macht das Recht des Stärkeren. Auch damals wurden mutwillig Grenzen missachtet. Und wie heute lautete damals die Frage: Hinnehmen oder nicht? 1950 entschieden sich die USA und mit ihr Teile der Weltgemeinschaft zum Widerstand. Sie fuhren dem Angreifer in die Parade. Der Regionalkonflikt veränderte die Weltordnung, was nicht das Schlechteste war. Er schweißte den Westen zusammen. Ob sich dies – 75 Jahre danach – wiederholen wird, ist vollkommen ungewiss. Sicher ist nur, für den Westen geht es in der Ukraine um unendlich viel. Er steht an einem historischen Wendepunkt.

Am 25. Juni 1950 drangen Truppen des kommunistischen Nordens in Südkorea ein. Sie überquerten den 38. Breitengrad, der seit dem Abzug der japanischen Besatzer Korea in zwei Hälften teilte. Der Großvater des heutigen nordkoreanischen Machthabers, der Diktator Kim Il-sung, der im Einvernehmen mit der Sowjetunion und Rotchina handelte, vertraute auf die militärische Überlegenheit seiner Seite. Tatsächlich brauchten die Nordkoreaner nur drei Tage, um Seoul, die Hauptstadt des Südens, einzunehmen.

In Washington war man nach dem verlustreichen Niederringen Nazi-Deutschlands eigentlich kriegsmüde. Trotzdem zögerte Präsident Harry S. Truman nicht lange. Unter dem Oberkommando von General Douglas Mac Arthur, der schon die Kapitulation Japans entgegengenommen hatte, bremsten die Amerikaner den nordkoreanischen Vormarsch. Sie stellten 90 Prozent einer internationalen Streitmacht, an der sich nach einer Verurteilung Nordkoreas durch die Vereinten Nationen 16 UN-Mitgliedsstaaten beteiligten. Aus dem von Kim Il-sung erhofften Blitzkrieg wurde ein zäher Konflikt, der sich hinzog, auch weil Rotchina die Nordkoreaner mit einer 200 000 Mann starken „Volksbefreiungsarmee“ unterstützte. Nach drei Jahren hatte der Krieg vier Millionen Menschen, Soldaten und Zivilpersonen, das Leben gekostet. Er endete mit einem Arrangement, das die Teilung Koreas am 38. Breitengrad wieder aufnahm.

Der Zusammenstoß in Südostasien strahlte unmittelbar auf Europa aus, wo die Sowjetunion unter Josef Stalin mit Eifer daran arbeitete, mehrere Staaten zu unterwandern und sich ein Satelliten-Imperium aufzubauen. Korea erschien als ein Vorspiel auf das, was sich in Europa wiederholen konnte, vorrangig in Deutschland. Deutschland war geteilt wie Korea. Wer wollte ausschließen, dass es ein zweites Korea würde? Die Angst vor einem Dritten Weltkrieg ging um.

Es waren die Amerikaner, die die Herausforderung annahmen. Auf die globale kommunistische Expansion antworteten sie mit der Politik des Containment, das heißt mit der Errichtung eines Bollwerks, das auf Abschreckung beruhte. Den Kern bildete die bereits 1949 gegründete Nato, ausgestattet mit der Beistandsklausel des Artikels 5 und damit einem Warnsignal, das niemand übersehen konnte: Der Angriff auf einen bedeutet den Krieg mit allen. Die Containment-Politik war erfolgreich. Sie schob dem roten Kreuzzug einen Riegel vor und schuf ein faktisches Patt, das die Weltordnung für ein halbes Jahrhundert prägte.

Korea sei für die europäische Nachkriegsentwicklung „der Vater aller Dinge“ gewesen. Man mag das Diktum des Historikers Hans-Peter Schwarz für arg raumgreifend halten. Außer Frage steht jedoch, dass der koreanische Krieg für viele europäische Weichenstellungen wie ein Katalysator wirkte. Nutznießer war nicht zuletzt die junge Bundesrepublik, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Zwar ging der weltweite Rüstungsboom, der durch den Koreakrieg ausgelöst wurde, an der westdeutschen Industrie vorbei. Ihr war die Herstellung von Kriegsgütern streng untersagt. Trotzdem profitierte sie mittelbar davon. Denn während in den angloamerikanischen Staaten massenhaft Panzer und Kanonen produziert wurden und die industriellen Kapazitäten für anderes verstopften, konnten sich westdeutsche Unternehmen in den Lücken breit machen. Es begann der Aufstieg der Bundesrepublik zur bewunderten Exportnation.

Rückenwind erhielt die Bundesrepublik auf breiter Front. Es war das zentrale Anliegen Konrad Adenauers, des ersten Bundeskanzlers, den westdeutschen Teilstaat so schnell wie möglich aus der Abseitsstellung des Geächteten herauszubringen. Durch den Koreakrieg waren die Deutschen plötzlich wieder gefragt. Ein deutscher Wehrbeitrag war kein Tabu mehr. Die frühen Planungen der Nato hatten darauf abgezielt, Europa wenn nötig hinter dem Rhein und vielleicht sogar hinter den Pyrenäen zu verteidigen. Diese Überlegungen waren jetzt überholt. Der Eiserne Vorhang ging an der Elbe herab. Deutschland als Vorfeld eines möglichen Militärkonflikts durfte nicht schutzlos bleiben. Wer aber sollte die Last tragen? Sollten Amerikaner und Kanadier, Engländer und Franzosen für Deutschland einstehen, während die Deutschen selbst in der Beobachterloge verharrten? Sogar in Frankreich, das ein Wiedererstarken Deutschlands noch mehr fürchtete als andere, gewannen Gedankenspiele über deutsche Divisionen, eingebunden in supranationale Kontrollen, Raum. Außenminister Robert Schumann, ursprünglich ein verlässlicher Gegner deutscher Wiederbewaffnung, änderte mit dem Beginn des Koreakriegs seine Haltung.

Es war die Zeit des europäischen Frühlings. Einen Monat vor dem nordkoreanischen Überfall hatte Schuman seinen revolutionären Plan zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) vorgestellt. Adenauer griff ihn begeistert auf. Der Koreakrieg beschleunigte das Vorantreiben des mutigen Projekts. Bereits ein Jahr später war das EGKS, dem außer Frankreich und Deutschland auch Italien und die Benelux-Staaten angehörten, unter Dach und Fach. Dem Namen nach ging es „nur“ um Kohle um Stahl. In Wirklichkeit sollte die Montanunion, wie die Gemeinschaft auch bezeichnet wurde, einen politischen Prozess in Gang setzen. „Die französisch-deutschen Beziehungen entgiften, den Frieden sichern sowie ein Klima der Kooperation in ganz Europa schaffen – das war für uns von Anfang an das Wichtigste,“ erklärte Schuman rückblickend. Als Vorläuferin späterer Institutionen wie der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und als Keimzelle des Vereinten Europa war die Bedeutung der Montanunion unermesslich.

Wie der russische Überfall auf die Ukraine in der Endabrechnung dastehen wird, lässt sich heute nicht mit Bestimmtheit sagen. Noch ist die Messe nicht gelesen. Aber dass dieser Krieg, ähnlich dem koreanischen, den Westen insgesamt stärken wird, muss man bezweifeln. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die faktische Abkoppelung der USA von Europa vermieden werden könnte. Wie bei Donald Trump üblich, lässt sich seinerseits jeder erdenkliche Ausgang mit Zitaten belegen.

Die Nato betrachtet Trump, so viel kann man sagen, rein nutzungsorientiert. Generell hat der Egomane im Weißen Haus von kollektiven Organisationen keine hohe Meinung. So auch nicht vom vielstimmigen Chor der Europäer. Wenn er ihre Repräsentanten, wie soeben beim Gipfel mit Selenskyj in Washington, minder herablassend behandelt, lässt sich das wohl am ehesten durch die Geschäfte erklären, die er mit ihnen machen möchte, etwa durch den (Zwangs-) Kauf von Rüstungsgütern. Letztlich blickt Trump auf die Europäer genau wie Putin: mit Geringschätzung.

Diese Einstellung hat Ursachen, die nicht nur in der speziellen Geisteshaltung des amerikanischen Präsidenten residieren. In der Vergangenheit haben die Europäer es sich oft, wenn die Reise in raue Zonen führte, als Schwarzfahrer bequem gemacht. Die „Drecksarbeit“ (Zitat Friedrich Merz) überließen sie gern anderen, meistens den Amerikanern. Warnungen schlugen sie in den Wind. Bereits unter Obama zeichnete sich eine Hinwendung der USA zum asiatischen Raum ab. Biden führte die Tendenz fort. Die Rücksichtslosigkeit, über die Trump im Unterschied zu Obama und Biden verfügt, durfte die Europäer nicht überraschen. Vorsorge getroffen haben sie nicht. Als die um ihr Leben kämpfenden Ukrainer um Waffen bettelten, bot die deutsche Verteidigungsministerin ihnen Stahlhelme an. Ungewollt präsentierte sie damit das Inventurverzeichnis einer über Jahrzehnte dispensierten Sicherheitspolitik.

Schwäche wird nicht gedankt, sie erhält nicht den Frieden, manchmal führt sie zum Krieg. Putin ließ in die Ukraine einmarschieren, auch weil er den Europäern nichts zutraute. Wie wir heute wissen, verrechnete er sich. Er unterschätzte die Tapferkeit der Ukrainer, die sich nicht einfach überrennen ließen. Der Krieg dauert schon über drei Jahre. Es ist ein Stellungskrieg, auch wenn sich Putins Truppen gerade im Augenblick unter barbarischem Menscheneinsatz Meter um Meter voranarbeiten. Irgendwann werden sich die Russen fragen, weshalb die mit einem riesigen Plus an Soldaten und Tötungsmaschinen geführte „Spezialoperation“ die ukrainischen Wichte noch immer nicht von der Platte geputzt hat.

Unterschätzt hat Putin auch die Europäer. Die Flucht der Schweden und Finnen aus der dogmatischen Neutralität in den Schoß der Nato war für Moskau ein unerwarteter und schwerer Schlag. Die Sanktionen der Europäer bringen die russische Kriegswirtschaft nicht um, so wenig wie die Waffen, die Europa inzwischen liefert, der Ukraine zum Sieg verholfen haben. Aber beides tut dem Aggressor Putin weh. So wie es ihn ärgert, wenn die Europäer Trump wieder vom Roten Teppich holen, den dieser ihm gerade törichterweise ausgerollt hatte.

Zu dem beachtlichen Auftritt der Europäer beim jüngsten Treff mit Trump hat Friedrich Merz erheblich beigetragen. Der deutsche Bundeskanzler weiß aber auch, dass die überraschend freundlichen Mienen im Weißen Haus nur eine Momentaufnahme wiedergeben. Es gibt keine Versicherung, die Trump nicht wieder kassieren würde, wenn es ihm in den Kram passt. Ihn festzunageln, ist unmöglich, ihn zu beeinflussen, braucht langen Atem und gelegentlich eine Körperhaltung, die für den Einzug in eine Ruhmeshalle nicht unbedingt prädestiniert.

Außerdem ist Trump ja nicht der Einzige, den man einhegen muss. Die innenpolitische Debatte um die Teilnahme von Bundeswehrverbänden an einer möglichen Friedenstruppe in der Ukraine zeigt, dass noch immer nicht alle Politiker in Deutschland den Schuss gehört haben. Und es sind keineswegs bloß die üblichen Verdächtigen, die sich in die Büsche schlagen. Sachsens Ministerpräsident gehört der CDU an. Seine im Brustton der Überzeugung vorgetragene Erklärung, die Bundeswehr könne nicht, und wenn sie doch könne, dürfe sie nicht wollen, beweist nur, dass das politische Erwachsenwerden der Europäer, das Merz zu Recht einfordert, ein langer und umfassender Prozess sein wird. Wer, Herr Kretschmer, soll denn im Fall des Falles die Ukraine vor einem neuen Überfall Russlands schützen? Soldaten aus Burundi? Oder aus Weißrussland?

Dr. Günter Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

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