Rezension von Dr. Aide Rehbaum

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Ulla Lenze: Der Empfänger

Lenze verarbeitet die Lebensgeschichte ihres Großonkels mithilfe einer fiktiven Figur. Das gelingt ihr, indem sie drei Zeitebenen anlegt, zwischen denen sie hin und herspringt: die Zeit, während der Immigrant in New York Fuß fasst 1925-1939, ein Besuch in Neuss 1949 und die Phase in Buenos Aires bzw. Costa Rica 1953.

Wir lernen einen Aspekt amerikanischer Geschichte kennen, der wohl den wenigsten geläufig sein wird. Die ausgewanderten Deutschen formieren sich seit den 1920er Jahren in der Fremde. Sie gründen mehrere Vereine, die nationalsozialistisches Gedankengut verbreiten, darunter den Amerikadeutschen Volksbund, der vom „Komitee zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe“ durchleuchtet wird und geschätzte 6600 Anhänger hat. Die Bewegung „America for white people“ sympathisiert zwar mit Hitler, es gibt aber auch Demonstrationen gegen Deutsche, die schlecht angesehen sind.

Da das Visum des jüngeren Bruders Carl verfällt, wagt Josef als junger Mann allein die Auswanderung aus der Armut. Er hat weder Plan noch Ausbildung. Sein einziges Interesse ist die Amateurfunkerei, mit der er belanglose Informationshäppchen aus aller Welt sammelt. Dadurch lernt er zwar die junge Amerikanerin Lauren kennen, aber die Freundschaft bleibt ohne Tiefgang, wie alles in Josefs Leben. Die Druckerei, deren Flyer er verteilt, arbeitet u.a. für die deutsche Community. Dort spricht sich sein Hobby herum. Bald schöpft er Verdacht, dass seine Morsekenntnisse für Spionagezwecke missbraucht werden, aber die Codes, die er durchgibt, entschlüsselt er nicht. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird Josef deshalb vom FBI interniert.

Als Josef seine alte Heimat nach dem Krieg besucht, bedrücken ihn Spießigkeit, das duckmäuserische Klima des Wirtschaftsaufbaus, die Enge in der Familie des Bruders. Zwischen den Männern herrscht weitgehende Sprachlosigkeit. Mit Hilfe alter Naziseilschaften wandert Josef nach Südamerika weiter, künftig auf der Hut vor Auslandsdeutschen, aber weiter Nutznießer.

Obwohl alles andere als ein spannender Spionagethriller, ist der Roman unterhaltsam. Der schnörkellose Schreibstil passt sehr gut zum Setting und den Protagonisten. Wer nach vier Jahren immer noch die Unterhosen seines Bruders aufträgt, kann keine Identifikationsfigur werden. Der Spielball seiner Umgebung lässt sich treiben, mogelt sich unspektakulär irgendwie durch, gleichzeitig Opfer und Täter auf niedrigem Niveau.

 

Ulla Lenze, 1973 in Mönchengladbach geboren, studierte Musik und Philosophie in Köln und veröffentlichte insgesamt vier Romane, zuletzt »Der kleine …

 

 
 
 
 
 
Klett-Cotta
1. Aufl. 2020, 302 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96463-9
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