Das Elend der Verschickungskinder
Rezension von Dr. Aide Rehbaum
Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder
Ausgehend von eigenen Traumata hat die Sonderpädagogin Anja Röhl die „Initiative Verschickungskinder“ gegründet und darüber Material für eine gründliche Analyse gesammelt, aus dem sie eine Auswahl vorstellt.
Gegenstand ihrer Forschung sind die Kinderkurheime an der See und im Allgäu von 1945 bis in die 1990er Jahre. Sie stieß auf eine Fülle von haarsträubenden Gemeinsamkeiten. Kinderärzte und Jugendämter empfahlen kränklichen, zu dünnen oder zu dicken Kindern zwischen 3 und 14 Jahren eine Luftveränderung zur Kräftigung der Konstitution (wie schon seit der Kaiserzeit). Die Eltern ahnten nicht, was ihren Kindern da bevorstand und handelten in bestem Glauben, wunderten sich bestenfalls anschließend über die Wesensänderung. Erzählten die Kinder etwas von den Auswüchsen der übelsten Unterbringungsindustrie, wurde ihnen oft nicht geglaubt. Jugendämter wussten Bescheid, verfolgten aber nicht. Der ganzen Palette schwarzer Pädagogik waren die Kinder ausgeliefert – für mindestens sechs Wochen.
Damit sie funktionierten und nicht beschäftigt oder gar getröstet werden mussten (Kindergärtnerinnen waren aus Kostengründen selten), wurden ihnen Sedativa verabreicht.
Die Autorin geht den möglichen Ursachen nach. Wer waren die oft sogar kirchlichen Heimbetreiber? Welche Qualifikation hatten sie? War die Barmherzigkeit der Diakonissen der nationalsozialistischen Indoktrination zum Opfer gefallen? Welche Vorgeschichte hatten die Ärzte? Muckten die Eltern nicht auf, weil sie immer noch die Erziehungsratgeber aus den 30er Jahren lasen, nach denen der Wille des Kindes gebrochen werden muss?
Erschreckend ist Röhls vorläufiges Ergebnis, dass die einschlägigen Pädiater (ein vergleichsweise junger Zweig der Medizin), die während der NS-Zeit in Kinderfachabteilungen die Euthanasie durchführten, fast unbehelligt nach dem Krieg weiter ihre Forschung an Kindern durchführten. Mengele war nur die Spitze des Eisbergs. Ihnen fehlte jegliches Unrechtsbewusstsein. Viele von ihnen wurden sogar hoch geehrt, nach ihnen wurden Krankenhausabteilungen benannt. Bei Jubiläen der lange bestehenden Einrichtungen wird kein Wort über eine Aufarbeitung verloren. Bis heute sind die beteiligten weiblichen Pflegekräfte, Ärztinnen und Angestellten der gesundheitlichen “Zulieferbürokratie“ unbeschriebene Blätter. Hier ist noch viel im Sinne der Betroffenen zu recherchieren, auch wenn die Täterinnen inzwischen mehrheitlich verstorben sind.
Verlag: Psychosozial-Verlag
305 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm
Erschienen im Januar 2021
ISBN-13: 978-3-8379-3053-5, Bestell-Nr.: 3053
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