Bratwurstliga – Abschlusstabelle
von Michael Stallkamp

Die Fußballwelt verändert sich rasant und die Fans werden gezwungen, mit liebgewonnenen Gewohnheiten zu brechen. Von Kindesbeinen an ist für viele Stadionbesucher das Essen einer Bratwurst Tradition. Doch wie steht es um dieses Ritual in der neuen glitzernden Fußballwelt? Wird die Stadionwurst noch wertgeschätzt? An ihrer Qualität und an den Umsätzen sollte ihre aktuelle Bedeutung zu messen sein. Mit Verkaufszahlen gehen die Stadionbetreiber knauserig um, aber die Güte der Würste kann ich testen. Also habe ich innerhalb von zwölf Monaten die Heimstätten aller achtzehn Vereine der ersten Fußballbundesliga besucht und die örtliche Stadionwurst einer Prüfung unterzogen. In der Abschlusstabelle dieser Bratwurstliga ergeben sich drei Gruppen.
Abstiegszone – Ende der Wurst
15. Hannover
16. Dortmund
17. Wolfsburg
18. Berlin
Auf welchem Weg auch immer die Anreise zu den verschiedenen Stadien erfolgt, für den nicht als VIP geltenden Besucher sind die letzten Meter zu Fuß zu bewältigen. Eine erste willkommene Gelegenheit, die eigenen Erwartungen mit anderen Fußballbegeisterten zu teilen. Meistens fällt es leicht, mit den Anhängern beider Mannschaften ins Gespräch zu kommen. Spätestens beim gemeinsamen Anstehen am Bratwurst- und Bierstand werden auch Vereinsgrenzen überwunden, denn in den Sitzplatzbereichen der Stadien geht es friedlich zu. Während der Fachsimpeleien wird schnell deutlich, dass die Besucher eines Fußballspiels in ihrer großen Unterschiedlichkeit ein Spiegelbild unserer Gesellschaft sind. Hier prallen auf engem Raum verschiedenste Welten aufeinander. Für viele Fans ist es die seltene Gelegenheit, die gewohnte Lebenswelt der Gleichgesinnten zu verlassen. So wird der Stadionbesuch zu einem der letzten Abenteuer in unserer Gesellschaft.
Rituale verbinden und einen im günstigsten Fall diese höchst diffusen Gruppen. Gemeinsame Trikots, Fahnen und Gesänge erzeugen ein Gemeinschaftsgefühl, dem sich kaum ein Besucher entziehen kann. Die gemeinsame Bratwurst und das gemeinsame Bier vor, während oder nach dem Spiel sind ebenfalls klammernde Rituale und bedeuten viel mehr als bloße Nahrungsaufnahme.
Am Tabellenende finden sich die Stadien wieder, in denen die teils unzumutbare Qualität des Angebots offensichtlich dazu geführt hat, dass sich die Besucher bevorzugt außerhalb der Stadien versorgen. Das Ritual des Wurstverzehrs lebt auch hier, allerdings größtenteils nicht in sondern vor den Arenen.
Niemandsland – Beliebige Wurst
7. Stuttgart
8. Mönchengladbach
9. Sinsheim
10. Gelsenkirchen
11. Freiburg
Köln außer Konkurrenz
12. Frankfurt
13. Düsseldorf
14. Bremen

Unsere Esskultur verändert sich ständig. Dieser Befund ist weder neu noch überraschend. Tourismus, internationaler kultureller Austausch, Zuwanderung sowie eine globalisierte Wirtschaft sorgen für eine Vervielfältigung des Lebensmittelangebots. Das ist an den offiziellen „Fressbuden“ der ersten Liga deutlich spürbar. Die Bratwürste und ihre Varianten haben eindeutig ihr früheres Monopol verloren. Döner, Pizza und Asiafood sind auf dem Vormarsch.
Altbundestrainer Sepp Herberger erkannte zu seiner Zeit, „Die Leute kommen immer wieder zum Fußball, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht.“ Heute verlassen sich die Vereine nicht allein auf diese sportliche Ungewissheit oder die reine Faszination des Spiels. In allen Stadien werden die immer gleichen Versatzstücke wie Musik, Fangesänge, Gewinnspiele, persönliche Grußbotschaften, Choreographien und das Getränke- und Speisenangebot genutzt, um ein unverwechselbares Event zu kreieren. Der Qualität der Stadionwurst wird dabei in ganz unterschiedlicher Art und Weise Aufmerksamkeit geschenkt. In den Stadien auf den Tabellenplätzen 7 bis 14 gehen die Verantwortlichen eher gleichgültig mit der Wurst um. Hier scheint immer der billigste Lieferant zum Zuge gekommen zu sein. Nur so ist das bizarre Ergebnis zu erklären, dass ausgerechnet ein Kölner Unternehmen den Erzrivalen in Mönchengladbach beliefert (siehe Teil 11). In Düsseldorf, passend zum Schicki-Micki-Image der Stadt, ist die Qualität des Lachsbrötchens wichtiger als die der Wurst (siehe Teil 4). Auch der Sonderweg der Freiburger, die als einzige nicht nur einem sondern vielen Lieferanten ihr Vertrauen schenken, führt zu keinem überzeugenden Ergebnis (siehe Teil 19). Bremen (siehe Teil 18) und Freiburg schaffen es, eine regionaltypische sowie besonders freundliche und sympathische Atmosphäre auf die Ränge zu zaubern. Um so erstaunlicher, dass es nicht gelingt, durch überdurchschnittliche Wurstqualität das ansonsten bemerkenswerte Stadionerlebnis abzurunden.
Köln ist ein Beispiel dafür, dass überbordende Identifikation mit dem Verein miese Qualität kompensieren kann. Beim außer Konkurrenz besuchten 1. FC Köln, der zu diesem Zeitpunkt nicht in der ersten Bundesliga spielt, bescheinigen die FC-Fans der nicht so tollen Wurst trotzdem bereitwillig Spitzenqualität. So berauscht sind sie von ihrem Verein (siehe Teil 6).
Champignons League – Spitzenwurst
1. München
2. Nürnberg
3. Leverkusen
4. Leipzig
5. Mainz
6. Augsburg
In den Stadien auf den ersten sechs Plätzen gelingt es in ganz besonderer Weise, Fußballevents mit heimischen Bezügen erlebbar zu machen. Mit großer Selbstverständlichkeit werden hier die Stadionwürste als regionale Spezialität präsentiert und helfen bei der Identifikation mit Umland und Verein.

In Augsburg entpuppen sich die typisch bayerisch-schwäbisch anmutenden Schweinswürstel zwar als ein Plagiat aus dem Rheinland, sind aber dennoch stimmiges Teil des Gesamtkonzeptes (siehe Teil 12). Mainz beeindruckt durch sein vielfältiges Wurstangebot, in dem die normale Stadionwurst allerdings nicht untergeht (siehe Teil 5). In Leipzig bildet die traditionelle heimische Wurst einen ausgeprägten Kontrast zur ansonsten eher an Las Vegas erinnernden Stadionshow (siehe Teil 10). In Leverkusen wird bevorzugt das Bild der großen Bayer-Familie mit ihrer Werkself als Aushängeschild beschworen. Die beeindruckende Qualität der Stadionwurst fügt sich harmonisch in dieses Familienidyll ein (siehe Teil 3). Die Nürnberger sind Meister darin, in ihrem Max-Morlock-Stadion sehr emotionale Geschichten von ihren Vereinslegenden zu erzählen. In diesem Umfeld könnte kein Produkt passender sein als die traditionelle Nürnberger Wurstvariante „3 im Weckla“ (siehe Teil 13).
Die Siegerwurst aus München kommt eigentlich aus Nürnberg, aus der Wurstfabrik der Familie Hoeneß. Uli Hoeneß, bis vor kurzem der allmächtig scheinende Chef bei Bayern München beteuert, damit nichts zu tun zu haben. Die Wurstfabrik werde von seinen Kindern gemanagt und die hätten, ohne ihn zu fragen, sich als Lieferant für die Allianz Arena beworben. In einer Blindverkostung habe sich dieses Produkt gegen viele Konkurrenten durchgesetzt. Auch wenn diese Geschichte eventuell nicht der Wahrheit entsprechen sollte, die überragende Qualität der Münchener Stadionwurst spricht für sich. Sie ist mit ihrer besonderen Größe und in Kombination mit einer Baguette-Semmel die geschickte Weiterentwicklung einer Traditionswurst zu einem Lifestyleprodukt. Das hat natürlich seinen entsprechend hohen Preis (siehe Teil 1).
Mein Fazit: Das Bratwurst-Ritual lebt. Dem Trend zur Internationalisierung unseres Essens zum Trotz, die Wurst wird uns als traditioneller Fußballbegleiter erhalten bleiben. Wir Stadionbesucher haben die Macht zu entscheiden, ob wir sie zukünftig eher im oder vor dem Stadion antreffen werden.
Ende.
Schreibe einen Kommentar