von Günter Müchler

Dr. Günter Müchler

Herbst ist Bilanzzeit. So sah es Rainer Maria Rilke, dessen 150. Geburtstag wir gerade feiern. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, heisst es in dem wohl berühmtesten Gedicht, das der dunklen Jahreszeit gewidmet ist. Ein Menetekel für die Regierung Merz? Dieser Herbst sollte eine Strecke der Entscheidungen sein. Das hatte der Kanzler im Sommer versprochen. Den Ausgang dürfte er sich jedoch anders vorgestellt haben: Nur durch viel Druck und äußerst knapp entging er beim zentralen Thema, der Rente, einer Niederlage, die die Koalition wohl in ihren Grundfesten erschüttert hätte.

Der Streit über das Rentengesetz fügt sich, so wie er gelaufen ist und wie er geendet hat, in das insgesamt trübe Erscheinungsbild der schwarz-roten Regierung. Das Misstrauen wuchert auf beiden Seiten der Koalition. Die öffentliche Zustimmung hat einen Tiefstand erreicht. Das Meinungsspektrum reicht von „an der Abbruchkante“ (die Pessimisten) bis „noch viel Luft nach oben“ (die Optimisten). Selbst den Gute-Laune-Abteilungen der Bündnisparteien fiel zuletzt wenig Aufhellendes ein. Da war – an die Adresse der jungen Rebellen in der Union – auffallend häufig vom „großen Ganzen“ die Rede und von der „staatsbürgerlichen Verantwortung“, auf die es jetzt ankomme. Womit ziemlich genau der Punkt bezeichnet wurde, der die Koalition gerade noch so zusammenhält: Die Angst vor dem großen Kladderadatsch, vor der Republikkrise.

Natürlich muss man sich fragen, welche Aussagekraft die Umfragewerte haben. Ist die Lage womöglich besser als die Stimmung? Das Meinungsklima ist schwankend keine Rechenmaschine. Fachleute der politischen Augenheilkunde kennen den Beschleunigungseffekt von Stimmungen. Hat man sich einmal dazu entschlossen, alles schwarz zu sehen, hält man nicht nach Lichtquellen Ausschau. Stattdessen sucht und findet man im prasselnden Guss der Nachrichten immer neue Schwachpunkte, die bestätigen, dass man mit seinem Schwarzsehen richtig liegt. Am stärksten ist das Bestätigungsverlangen in Phasen extremer Reizbarkeit und Polarisierung in der Gesellschaft. Die Erfahrung, dass die Wirklichkeit immer aus beidem besteht, aus Hell und Dunkel, ist dann plötzlich nichts mehr wert. Trumpf ist die harte Kontur.

Bei genauerem Hinsehen hat die Koalition wirklich einiges hinbekommen. Auf der internationalen Bühne macht Friedrich Merz gute Figur. Das peinliche Zaudern und Hinterherlaufen der Scholz-Jahre ist Vergangenheit. Auch im Innern konnte die Regierung punkten. Vor ein paar Tagen wurde der Haushalt verabschiedet, ohne störende Nebengeräusche. Entspannung gibt es an der Migrationsfront. Die Zahlen sind weiterhin rückläufig, wozu neben anderen Faktoren zweifellos auch das ruhige, aber hartnäckige Bemühen des Bundesinnenministers, die Pull-Faktoren zurückzuschrauben, beiträgt. Noch am Anfang steht der Bürokratieabbau. Er wird Früchte tragen, sofern sich alle anstrengen und die Energie von Dauer ist. Hoffnung besteht auf das Anspringen von Konjunktur und Wachstum. Man wäre schon weiter, gäbe es die Unsicherheiten nicht, die Trump mit seiner elenden Zollpolitik erzeugt. Der Trump-Faktor macht deutlich, dass die Regierung in Berlin nicht der alleinige Akteur ist. Sie bewegt sich in einem äußerst schwierigen Umfeld.

Das Problem besteht darin, dass die vielversprechenden Ansätze, die durchaus vorhanden sind, kaum wahrgenommen werden. Es ist nun einmal so: Das große Wasser nimmt die kleinen mit. Das große Wasser sind die dringend erforderlichen Reformen in den Kernbereichen der Politik, und hier kommt in Berlin leider kaum etwas voran. Selbst dort, wo sie angepackt wurden, zeigen sie das Muster der Furchtsamkeit. Beispiel Bundeswehr: Die will Verteidigungsminister Boris Pistorius bekanntlich „kriegsbereit“ machen. Für diese begriffliche Lautmalerei wurde er in der eigenen Partei dermaßen gescholten, dass er es mittlerweile für klug hält, leise zu treten. Freiwilligkeit ist das Zauberwort, das den Genossen da Ja zum neuen Wehrdienstgesetz leicht gemacht hat. Wehrpflicht? Kein Thema, vorerst. Nur wer möchte soll sein Land, dessen Werte und unsere Lebensart gegen Putins waffenstarrenden Imperialismus verteidigen.

Der Sammelname für alle Verzagtheiten, Halbherzigkeiten und Selbstblockaden der Koalition ist die Rente. Die grundsätzliche Reformbedürftigkeit der beitragsfinanzierten Altersversorgung wird von keinem Experten, gleich welcher Couleur, infrage gestellt. Wie auch? Gegen die Alterspyramide kommt keine Klügelei an. Immer weniger Aktive müssen immer mehr Rentner finanzieren, und das für immer mehr Jahre. Das kann nicht funktionieren und funktioniert schon lange nicht mehr. Ein Drittel der Steuern, die heute eingenommen werden, wandern als Zuschuss in die überforderte Rentenkasse. Und obwohl die von den Gesetzen der Demographie herbeigeführte Unwucht im System dynamisch ist, schreckt die Regierung vor Konsequenzen zurück. Sie halst sogar dem Haushalt für das kommende Jahrzehnt noch Zusatzausgaben in dreistelliger Milliardenhöhe auf. „Finanzpolitik nach mir die Sintflut“, nennt das Clemens Fuest, der Präsident des IFO-Instituts.

Im Bremserhäuschen sitze die SPD, behauptet die Union. Das trifft zu und ist doch nur die halbe Wahrheit. Mitsitzer im Bremserhäuschen ist die CSU, deren Chef Markus Söder es trotz seiner rhetorischen Wendigkeit es nicht gelungen ist, die Ausweitung der Mütterrente als etwas darzustellen, das den Geist reformerischer Sparsamkeit atmet. Und überhaupt: Der Blick zurück offenbart, dass die Union entgegen der landläufigen Ansicht meistens auf Tauchstation war, wenn es darum ging, dem Ausufern des Sozialstaats Einhalt zu gebieten.

Der Wirtschaftsjournalist Rainer Hank hat dieser Tage in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit einer Portion Süffisanz eine Handvoll Sozialdemokraten als Helden der Sozialreform geehrt. Nummer eins auf Hanks „Heldenliste“ war Gerhard Schröder, ein Ehemaliger, der inzwischen seinen Nachruhm gründlich demoliert hat, allerdings aus anderen Gründen. Es bleibt das Verdienst des Altkanzlers, mit seiner Agenda 2010 nicht nur die überfällige Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe durchgesetzt zu haben. Mit dem Leitgedanken Fordern und Fördern führte er einen Paradigmenwechsel herbei und schlug einen Akkord an, den der übliche Sozialpolitiker eher selten im Repertoire hat.

Hank erwähnte drei weitere „Helden“, alle von der SPD: Schröders Finanzminister Hans Eichel senkte, um die Wirtschaftskräfte freizusetzen, den Spitzensteuersatz von damals 53 Prozent mit einem Schlag auf 42 Prozent. Franz Müntefering, Arbeitsminister, initiierte die „Rente mit 67“ und setzte damit etwas ins Werk, was Sozialdemokraten heute fürchten wie der Teufel das Weihwasser, nämlich die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters als Äquivalent verlängerter Lebenserwartung. Schließlich die Sozialministerin Ulla Schmid: Ihr ist die Einführung des sogenannten Demographiefaktors zu danken, der die Renten dann weniger schnell steigen lässt als die Löhne, wenn die Kluft zwischen Leistungserbringern und Leistungsempfängern zu breit wird. Es ist Schmids Nach-Nach-Nachfolgerin Bärbel Bas, ebenfalls SPD, die sich mit Händen und Füßen und am Ende erfolgreich dagegen gewehrt hat, den unterwegs ausgeklinkten Demographiefaktor wieder einzusetzen.

An Schröder, Eichel, Müntefering und Schmid erinnert zu werden, bereitet der SPD von heute wenig Freude. Es ist ihr peinlich. Sie will mit den Ehemaligen nichts mehr zu tun haben, was schwer zu verstehen ist. Denn zwischen damals und heute ereignete sich der Niedergang der Sozialdemokratie. Als Reformpartei war die SPD ein bestimmender Faktor der deutschen Politikszene. Als Wohlfühlpartei, die nur noch den Status quo verteidigt, kämpft inzwischen gegen die Marginalisierung.

Dabei hat sie, einstweilen, Friedrich Merz an ihrer Seite. Merz kämpft seinerseits um sein Überleben als Kanzler. Er hat es zu tun mit einem zutiefst verunsicherten Koalitionspartner, auf den er Rücksicht nehmen muss, zugleich bekommt er den wachsenden Unmut der eigenen Partei zu spüren, der diese Rücksichtnahme schon lange viel zu weit geht. Die Enkelrebellion der jungen Unionsabgeordneten war eine deutliche Warnung. Nur mit größter Mühe hat Merz den GAU vermeiden können. Der wäre eingetreten, hätte das Rentengesetz im Bundestag nur aufgrund der taktischen Enthaltung der Linkspartei eine Mehrheit gefunden.

Aus dem Schneider ist Merz damit keineswegs. Es genügt nicht zu erklären „Wir leben über unsere Verhältnisse“. An der Bundesregierung liegt es, die Verhältnisse so organisieren, dass wir damit leben können. Diese Aufgabe wird mit jedem Tag, der vergeht, schwieriger. Nächstes Jahr soll eine Kommission Vorschläge zu einer „echten“ Rentenreform unterbreiten. Wie der Kanzler das Versprechen, das er den jungen Abgeordneten der Unionsfraktion gegeben hat, einhalten will, ist schleierhaft. Denn was immer die Kommission vorschlagen wird: Die Regierung muss es sich zu eigen machen und durchsetzen. 2026 ist ein Superwahljahr mit einer Handvoll Landtagswahlen. Eine schlechtere Zeit für staatsmännische Großtaten ist nicht vorstellbar. Schon möglich also, dass man in einem Jahr, rückblickend auf den Herbst 2025, Rilkes Melancholie bestätigt finden wird. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“.