Wenn Kriegsverbrecher als Helden verehrt werden

In Kroatien wird Tätern aus dem Bosnienkrieg gehuldigt. Das ist Gift für den Friedensprozess auf dem Balkan.

Ex-General Slobodan Praljak im Den Haager Gerichtssaal

Im Zentrum Zagrebs brennen seit dem 29. November Kerzen. Nicht wegen der Adventszeit ist, sondern zum Gedenken – an einen verurteilten Kriegsverbrecher. Der ehemalige General Slobodan Praljak war vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Krieges in Bosnien-Herzegowina zu 20 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Unmittelbar nach dem Urteilsspruch hatte er im Gerichtssaal in Den Haag Selbstmord begangen. Das Bild des alten Mannes, der vor laufender Kamera das Zyankalifläschchen leert, ging um die Welt. Internationale Aufmerksamkeit war und ist ihm also gewiss. Den Opfern seiner Unmenschlichkeit, die im Bosnienkrieg durch kroatisch-bosnische Militärs vergewaltigt, vertrieben und getötet wurden, wird hingegen kaum eine Stimme verliehen.

In Kroatien wird über diese Verurteilung noch immer sehr emotional und hochkontrovers diskutiert. Einige Politiker, darunter Premierminister Andrej Plenković, haben auf den Urteilsspruch des Haager Tribunals mit – vorsichtig formuliert – nationalgesinnter Skepsis reagiert. Auch die im Urteil des ICTY enthaltene Feststellung, der erste kroatische Präsident, Franjo Tuđman, trage eine Mitschuld für Verbrechen im Bosnienkrieg, hat in der breiten Öffentlichkeit des Landes großes Unverständnis hervorgerufen. Besonders perfide und einem demokratischen Rechtsstaat nicht angemessen: Als Reaktion auf die Urteile stoßen konservative kroatische Meinungsmacher nun eine irreführende Debatte über die Kollektivschuld des „kroatischen Volkes“ im Bosnienkrieg an. Die Staatspräsidentin Grabar-Kitarović, aber auch nationalistisch orientierte Journalisten und Wissenschaftler, bemühen sich eindringlich, klarzustellen, dass das „kroatische Volk“ keine Schuld für die Aggression im Bosnienkrieg trage – aber dies hat das Haager Tribunal auch niemals behauptet. Im Gegenteil: Verurteilt wurden einzelne Kriegsakteure, die für sich ihre Untaten im Krieg vor Gericht verantworten mussten. Sie können nicht als Synonym für ein Volk betrachtet werden. Die Nationalisten wittern jedoch in dieser Debatte ihre Chance: Indem sie aus eigener Initiative eine angebliche Kollektivschuld statt der individuellen Verantwortung in den Vordergrund stellen, stilisieren sie das kroatische Volk – wie den Selbstmörder – zu Märtyrern. Mit dem Ziel, in der Bevölkerung eine negative Stimmung gegenüber den internationalen Institutionen zu erzeugen.

Alle Verbrecher der ehemaligen Kriegsparteien müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Dazu gehört es auch, über seinen nationalen Schatten zu springen und die Verbrechen der eigenen Landsleute einzugestehen.

Der nun besonders laut geführte Diskurs über die kroatische Beteiligung am Bosnienkrieg indes war schon längst überfällig. Im Gegensatz zur Aufarbeitung der Verbrechen, die von bosnisch-serbischer Seite begangen wurden, standen die Verbrechen der bosnischen Kroaten und der Bosniaken während des Balkankriegs stets im Hintergrund. Das liegt sicherlich daran, dass die bosnisch-serbische Armee, geführt von Radovan Karadžić, die meisten Opfer auf dem Gewissen hat – selbst wenn dies heute von Politikern in der serbischen Entität Bosnien-Herzegowinas, der Republika Srpska, ungern zugegeben wird. Auch auf dieser Seite werden Kriegsverbrecher lieber öffentlich verehrt.

Für Besorgnis sorgt bei dieser eigentlich notwendigen Debatte über die Verantwortung kroatischer Akteure im Krieg, dass die vor dem ICTY Angeklagten von kroatischen Medien, teilweise auch Geistlichen, und von einem nicht geringen Teil der Bevölkerung als Nationalhelden gefeiert werden. Teilweise werden sie sogar als die eigentlichen Opfer vermarktet. In diesem Zusammenhang prangerten Medien auch gern so genannte „Volksverräter“ an, die mit dem Jugoslawien-Tribunal zusammengearbeitet haben.

Die Rechtfertigungsversuche, Negierungen und Marginalisierungen von Verbrechen gehen sicherlich mit der Tatsache einher, dass Kroatien nicht als der Aggressor der Kriege auf dem Balkan gebrandmarkt werden möchte. Im Vordergrund der eigenen Wahrnehmung steht der kroatische Verteidigungskrieg, auch Vaterlandskrieg genannt. Der junge Staat Kroatien habe ihn gegen die Jugoslawische Volksarmee geführt, welche in den frühen 1990er Jahren zunächst Slowenien, dann Kroatien und schließlich Bosnien angegriffen hatte. In diesem Sinne wehrt sich Kroatien ebenso gegen politische Äußerungen aus Serbien, in Kroatien habe damals ein „Bürgerkrieg“ stattgefunden. Aus der gleichen Motivation heraus – eben aus der Opferperspektive – geht Kroatien auch mit den bosnisch-kroatischen Verurteilten in Den Haag um. Sie sind, nach Meinung Vieler, keine Aggressoren gewesen, sondern hätten lediglich ihr Territorium in Bosnien-Herzegowina verteidigt.

Sicherlich spielt bei solchen Äußerungen kroatischer Politiker die Wahrung der nationalen Interessen in Bosnien-Herzegowina eine herausragende Rolle. Doch diese Interessen dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat nicht über die Rechte der Opfer gestellt werden. In Wahrheit müssen alle Verbrecher der ehemaligen Kriegsparteien zur Rechenschaft gezogen werden. Viele leben heute unbeschwert in Bosnien-Herzegowina, während ihre Opfer für immer den seelischen und körperlichen Qualen ausgesetzt sind. Dieser “asymmetrischen” Nachkriegsrealität kann nur die Bemühung entgegengesetzt werden, den Friedensprozess mit allen Kräften voranzutreiben. Dazu gehört es auch, über seinen nationalen Schatten zu springen und die Verbrechen der eigenen Landsleute einzugestehen.

Europa hat Bosnien und Herzegowina aus den Augen verloren – auch deswegen, weil es einen mangelnden Kooperationswillen bei den führenden Vertretern aller drei konstituierenden Völker feststellen musste.

Denn es ist klar: Die bisherige Leugnung der Schuld prägt die Region nur negativ. Sowohl der nationalistische Kurs an sich, als auch die daraus folgende schlechte wirtschaftliche Situation sind Gründe dafür, dass viele Menschen aus Südosteuropa ins Ausland gehen. Zwar ist der von der Politik „entmündigte“ Bürger für plumpe nationalistische Parolen immer schwerer zu begeistern. Das gibt Hoffnung, reicht aber nicht aus. Solange zum Beispiel die Bosnier und Herzegowiner ihre Kinder in nach Nationalitäten getrennte Schulen schicken, wird eine Annäherung zwischen den Nationalitäten nicht möglich sein. Die Gräben bestehen in den Köpfen fort.

Auch die nationalistische Forderung nach einer dritten ethnischen kroatischen Einheit im bereits extrem instabilen Bosnien-Herzegowina wird immer lauter. Die Errichtung eines rein kroatischen Territoriums würde das so genannte Dayton-Abkommen kippen, in dem auch von Kroatien festgehalten wurde, dass sich Bosniaken und Kroaten die Föderation Bosnien-Herzegowinas als Lebensraum teilen. Die nationale Bestrebung, einen weiteren „Kleinstaat“ zu errichten, entspricht zwar vielleicht dem heutigen Zeitgeist, würde in Bosnien-Herzegowina aber lediglich zu weiteren Unruhen führen.

Die komplexe Problematik in Bosnien-Herzegowina ist ohne Unterstützung aus dem Ausland schwierig zu bewältigen. Kroatien und Serbien sollten als Unterzeichner des Dayton-Abkommens in Bosnien-Herzegowina nicht nur ihren nationalen Bestrebungen nachgehen, sondern in erster Linie den Friedensprozess zwischen den Völkern der Region vorantreiben.

Die Stärkung der Menschenrechte, die Bosnien-Herzegowina verfassungsmäßig nicht berücksichtigt, muss indes eines der wichtigsten Ziele der EU sein. Die individuellen Bürgerrechte müssen über den kollektiven Rechten der einzelnen Volksgruppen Gruppen stehen. Schließlich nimmt die EU für sich in Anspruch, genau jene demokratischen Werte zu vertreten, die auf dem Balkan während des Krieges und bis heute vernachlässigt wurden und werden.

Europa, so scheint es, hat Bosnien und Herzegowina aus den Augen verloren – auch deswegen, weil es einen mangelnden Kooperationswillen bei den führenden Vertretern aller drei konstituierenden Nationalitäten feststellen musste. Dabei gibt es vor Ort viele Kräfte in Politik und Zivilgesellschaften, welche die Demokratie stärken wollen. Das Balkan-Jugendwerk wäre hierfür nur ein Beispiel.

Diese positiven Kräfte wünschen sich mehr Präsenz und Engagement der EU vor Ort. Stattdessen ist zu beobachten, dass Russland, die USA und die Türkei auf dem Balkan (und so auch in Bosnien-Herzegowina) ihren weltpolitischen Interessen nachgehen. Im Alltagsleben der Menschen sind sie, anders als die EU, zugegen und gewinnen so das Vertrauen der Bevölkerung.

Der Westbalkan ist nun zur internationalen Experimentzone geworden. Der Umgang mit der Region ist ein Lackmustest für die EU. Es wäre Zeit, dass sie das Friedensprojekt Europa auf dem Balkan ernst nimmt.

Josip Juratović ist Bundestagsabgeordneter und Experte der SPD-Bundestagsfraktion für die Region Südosteuropa. In der 18. Legislaturperiode war er ordentliches Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Integrationsbeauftragter der SPD-Bundestagsfraktion. 2017 wurde er für den Wahlkreis Heilbronn zum vierten Mal in den Bundestag gewählt.

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