Waterloo – Weltgeschichte und Spektakel
Vor 205 Jahren wurde Napoleon endgültig besiegt
Von Gisbert Kuhn

Die Landschaft südlich der belgischen Hauptstadt Brüssel mit „lieblich“ zu umschreiben, bietet sich an. Sanfte Hügel, kleine Wälder, weite Wiesen und Felder, hie und da verstreut stolze alte Gehöfte. Kurz – eine Gegend, wie geschaffen für Bauern und Ausflügler. Hier, knapp 20 Kilometer von der belgischen Metropole entfernt, liegt das kleine Städtchen Waterloo. Im Geschichtsunterricht der Schule hatte man einst den Namen und das Datum auswendig lernen müssen: Waterloo, 18. Juni 1815, entscheidende Schlacht der verbündeten Briten, Preußen, Hannoveraner, Braunschweiger und Niederländer (Belgien als Staat gab es erst ab 1830) gegen den 84 Tage zuvor aus der Verbannung von Elba zurück gekehrten Franzosenkaiser Napoleon. Rund eine Million Besucher pilgern jährlich an diesen Ort – viele ganz sicher auch angezogen von den noch immer lebendigen Heldenverehrungen, vaterländischen Ideologien und pathosumrankten Darstellungen, mit denen lange Jahre lang vor allem deutsche, französische und britische Geschichtsschreiber das furchtbare Gemetzel jenes Tages bekränzt hatten.
Die Wirte der Umgebung von Waterloo (der Ortsname wird übrigens ausgesprochen, wie hier geschrieben und nicht „Woterlu“, wie die Briten es tun), die Andenkenhändler und die diversen Museen leben gut davon. Postkarten, Schlachtenpläne und historisches Schrifttum finden reißenden Absatz. Auch wenn ihr Inhalt oft genug mit dem wahren Geschehen nicht viel gemein hat. Aber wen kümmert das mehr als zwei Jahrhunderte später, wenn man für 20 Euro während einer geführten „Battlefield (Schlachtfeld)-Tour mit einem bequemen Geländewagen, im gigantischen Panoramabau oder vom Feldherrnhügel aus so etwas wie das Gefühl vermittelt bekommt, an einem Moment der Weltgeschichte beteiligt zu sein? Denn Weltgeschichte ist hier am 18. Juni 1815 tatsächlich geschrieben worden. Die endgültige Niederlage Napoleons hat zwar auf der Siegerseite – u. a. in Preußen, Großbritannien, Russland, den Niederlanden – die traditionellen Herrschafts- und Unterdrückungssysteme der „alten Welt“ wieder erstehen lassen und für weitere, lange Jahrzehnte zementiert. Doch umgekehrt erlosch bei den Völkern der in den Kriegen gegen den Korsen geschlagene Freiheitsfunke auch nicht mehr. Vergessene Zeiten?
Wieder donnern die Kanonen
2015, anlässlich der 200. Wiederkehr des Tages der damaligen Völkerschlacht, donnerten auf dem einstigen Schlachtfeld wieder die Kanonen, gellten Befehle, knatterten Gewehrsalven. 5000 begeisterte Hobby-Historiker waren aus nahezu aller Herren Länder angereist, um möglichst detailgenau jenes Ereignis nachzustellen, das seinerzeit das Ende Napoleons besiegelte. Normalerweise Jahre findet dieses Spektakel hier alle fünf Jahre statt – mal in großem, mal in kleinerem Rahmen. In diesem Jahr allerdings fiel auch dieses Spektakel dem Corona-Virua zum Opfer. Die Heldendarsteller nehmen ihr Kriegsspiel durchaus ernst. Das gilt gleichsam für das penible Studium dieser ersten Massenschlacht der neueren Geschichte wie für die historisch exakte Ausrüstung. Dewegen wird daran auch nicht gespart. Mehr als nur ein Hobby-„Offizier“ gibt für Uniform, Degen und Gewehr gut und gern mal 10 000 Euro und sogar mehr aus.
Der bucklige Soldat Friedrich Brandt

Noch immer stoßen die Bauern auf den Feldern um Waterloo Jahr für Jahr auf Gebeine von damals Gefallenen. Vor wenigen Jahren erst waren auf der einstigen Wallstatt bei einem heftigen Regen nahe der Farm Papelotte drei Skelette freigespült worden. Die Uniformknöpfe deuteten auf preußische Infanteristen hin, und die Zähne zeugten vom Alter der Männer als sie starben. Keiner war über 20 Jahre alt. Zwischen den Knochen fanden sich pfundweise dicke Schrauben und Muttern; es waren französische Kartätschenladungen. Oder da wurden im Sommer 2012 in etwa 40 Zentimeter Tiefe die Überreste eines kleinwüchsigen, ganz offensichtlich buckligen Mannes gefunden. Drei Jahre später, im April 2015, gelang es britischen Wissenschaftlern sogar, den Toten zu identifizieren: Friedrich Brandt, 23 Jahre alt, 1,50 Meter groß, Angehöriger der Deutschen Legion des britischen Heeres („Kings German Legion“). Er hatte, scheint es, wenig zu lachen in seinem Leben. Immerhin ist es für die Nachwelt und die Wissenschaft ein Glück, dass die Gebeine des Soldaten Brandt nach der Schlacht nicht – wie seinerzeit keineswegs unüblich – ebenfalls eingesammelt, zermahlen und als Knochenmehl zum Düngen verstreut wurden.
Weit schweift der Blick des Besuchers der einstigen Wallstatt über die grüne Landschaft der belgischen Provinz Brabant vom „Butte du Lion“ aus – einem 45 Meter hohen Hügel, gekrönt von einem 1,50 Meter großen und 28 000 Kilo schweren Löwen, dessen rechte Vordertatze auf einem Globus ruht. Die seinerzeitigen Anti-Napoleon-Alliierten hatten den Kegel 1830 aus 32 000 Kubikmeter Erde aufschütten lassen. Der Überlieferung nach angeblich von mehr als 2000 Frauen, die ansonsten in den Kohlegruben von Lüttich schufteten. Der „Butte“ war errichtet worden zu Ehren des „tapferen“ Prinzen von Oranien, der an dieser Stelle verwundet worden war. Dichtung und Wahrheit – von echter Tapferkeit keine Spur. In Wirklichkeit war der spätere König des neu geschaffenen und bis zur Abspaltung Belgiens 1830 bestehenden Königreichs Groß-Niederlande ein von Ehrgeiz getriebener jugendlicher Heißsporn, der – gegen jegliche militärische Vernunft – die Soldaten in den Tod schickte. Etwa den Obersten Christian Friedrich Wilhelm von Ompteda mit seinem nur noch aus 200 Hannoveranern bestehenden 5. Linienbataillon. An sie erinnert – lediglich einen Steinwurf vom „Butte“ entfernt – das „Hannoveraner-Denkmal“ mit der Inschrift: „Dem Gedenken ihrer Waffengefährten, welche in der ewig denkwürdigen Schlacht vom 18. Juni 1815 den Helden Tod (Originaltext, d. Verf..) starben. Errichtet von den Offizieren der Königlichen Großbritannischen Deutschen Legion“.
Ein schwarzer Obelisk

Denkmäler über Denkmäler hier – wie überall, wo Menschen ihr Leben lassen mussten; gleichgültig, ob „Für Kaiser, Fürst und Vaterland“ oder im Namen einer damals schon längst pervertierten Parole von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Den Preußen ist im nahen Dorf Plancenoit ein, von Karl Friedrich Schinkel entworfener, schwarzer Obelisk gewidmet mit Eisernem Kreuz, grünem Eichenkranz und in gotischer Schrift dem Text: „Die gefallenen Helden ehrt dankbar König und Vaterland. Sie ruhn in Frieden. Belle=Alliance, den 18, Juni 1815“. Und wiederum nicht weit davon weg, direkt gegenüber Napoleons damaligem Hauptquartier, das Monument für die Franzosen. Ein Adler krönt es, dessen eine Schwinge gebrochen, das linke Bein mit den Krallen aber noch immer drohend erhoben ist: „Den letzten Kämpfern der Grande Armee“.
Wie viele Menschen an jenem 18. Juni 1815 wirklich dahin gerafft wurden, ist nie geklärt worden. Die Schätzungen bewegen sich zwischen 40 000 und 70 000. Denn das Sterben dauerte ja auch nach der Schlacht noch Tage, Wochen, Monate an; tausende Verwundete krepierten an ihren Wunden, an Entzündungen, an den Folgen eines völlig unzureichenden Sanitätswesens. Wie schal wirkt angesichts dieser Realität der den Schriften Napoleons im Exil von St. Helena entnommene Satz auf einer Tafel an der Mauer des erbittert umkämpften Gutshofs Hougoument: „Die Erde schien stolz, so viele Helden zu bergen…“. In Wirklichkeit hatte der geschlagene Kaiser das sich am späten Nachmittag bietende grausige Bild der schlammigen, von Regen und Blut getränkten Landschaft oder dem, was einmal Menschen oder Tiere waren, gar nicht mehr aufgenommen. Knapp, nur um Minuten, war der Korse da der Gefangenschaft durch Blüchers Truppen entgangen und befand sich auf dem Weg nach Paris.
Frankreichs letztes Aufgebot

Zurückgeblieben waren, statt seiner, Generationen von Männern – das Letzte, was Frankreich in jenen Tagen noch aufzubieten hatte. Gewiss, Napoleon waren nach seiner Flucht von Elba am 1. März 1815 noch einmal hunderttausende jubelnde Anhänger zugeströmt. Doch zum Schluss wurden weitere Hunderttausende mit Gewalt zu den Waffen gezwungen. Bei Waterloo sind sie verheizt worden, nicht zuletzt von Marschall Michel Ney – dem „Tapfersten der Tapferen“, wie ihn der Korse rühmte. Auch hier Dichtung und Wahrheit. Ney wusste, eine Niederlage an diesem Tag würde ihn den Kopf kosten, auch wenn er die Schlacht überleben sollte. Denn er, von Napoleon 1813 zum „Fürst an der Moskwa“ erhoben, hatte sich nach dessen erstem Sturz in den Dienst des aus England zurück gekehrten Bourbonen-Königs Ludwig XVIII. gestellt und zum Pair küren lassen. Und obwohl er dem Regenten zusicherte, Napoleon „notfalls in einem eisernen Käfig“ nach Paris zu bringen, war er erneut zu diesem übergelaufen. Neys Schicksal erfüllte sich im Winter 1815. Am 9. August wurde er beim Versuch ergriffen, in die Schweiz zu fliehen und am 7. Dezember standrechtlich erschossen.
„Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht“ – auch dieser stolze Satz hat sich bis heute erhalten. General Pierre Cambronne, Kommandeur der legendären Alten Garde, soll ihn ausgerufen haben, als ihn der britische Oberst Hugh Halkett (Befehlshaber des hannoverschen Landwehrbataillons „Osnabrück“) aufforderte, mit den Resten seiner einst so stolzen und gefürchteten Einheit zu kapitulieren. Cambronne selbst hat stets bestritten, dass dies Zitat von ihm stamme. Tatsächlich ist eine andere Überlieferung auch viel glaubwürdiger – dass nämlich der Franzose in seiner Verzweiflung ganz einfach „merde“ schrie. Halkett fand Cambronne Stunden später schwer verletzt und fast aller Kleider beraubt inmitten von Toten und Verwundeten. Ihm war dasselbe Los zuteil geworden, wie den meisten anderen Opfern auch. Zu Hunderten hatten sich in der Nacht Leichenfledderer und Plünderer über sie hergemacht – Menschen aus der Bevölkerung, denen der Krieg selbst alles genommen hatte: Häuser, Ernte, Hab und Gut. Jetzt holten sie sich, was es noch zu holen gab, zurück. Nein, heldenhaft können der Abend und die Nacht dieses 18. Juni 1815 nicht gewesen sein.
Ein Tag wird kommen
Und doch gibt es zwischen all den steinernen Zeugen einer vielfach verfälschten Wirklichkeit immer auch Anderes, dem gerade jetzt wieder von inneren Krisen geschüttelten „Europa“ fast symbolhaft die Zukunft Weisendes. Da steht an der Straße von Waterloo nach Charleroi, in Sichtweite des Franzosen-Monuments, eine Säule zu Ehren des französischen Dichters Victor Hugo. Auf ihr ist ein Satz zu lesen, den der Schriftsteller am 22. August 1840 auf einem Friedenskongress in Paris gesprochen hatte: „Ein Tag wird kommen, wo es keine Schlachtfelder mehr gibt, sondern sich die Märkte dem Handel und die Geister den Ideen öffnen…“.
Info:
Die Gedenkstätte ist mit dem Auto leicht zu erreichen über die Autobahn Brüssel – Charleroi.
Geöffnet täglich 9,30 h – 18,30 h
Eintritt:
Erwachsene € 16,–
Gruppen/Studierende € 13,–
Kinder und Jugendliche zw. 7 und 17 Jahren € 11,–
Kinder unter 7 Jahren frei.
Kontakt:
e-mail: info@belgien-tourismus.de