Von Michael Stallkamp

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Seit 1973 trägt eine Mini-Wurstfabrik auf dem Wolfsburger Werksgelände von Volkswagen zur guten Laune der Arbeiter und Angestellten bei, denn hier wird ihre absolute Kantinenlieblingsspeise produziert: Die VW-Wurst. Wegen ihrer großen Beliebtheit darf sie auch die Speisezettel außerhalb Wolfsburgs bereichern. Sie kann von jedem lizenzierten VW-Händler als offiziell deklariertes Originalteil mit eigener Teilenummer über das VW-Bestellwesen geordert werden. Darüber hinaus wird sie ebenfalls über den Einzelhandel ins In- und Ausland verkauft. Im Jahr 2016 lieferte das Werk sagenhafte 7,2 Millionen Würste aus, im Gegensatz zu nur 5,8 Millionen Autos der Kernmarke VW. Aber, dieser sensationelle Erfolgsschlager ist eine Currywurst, eine Bockwurst, keine Bratwurst, die mit einem Gewürzketchup nach VW-eigenem Rezept kombiniert wird. Damit kommt sie mangels Vergleichbarkeit mit den anderen Stadionwürsten der Bundesliga für meinen Test leider nicht in Frage. Zum Glück gibt es in der VW-Arena aber auch eine Volkswagen-Bratwurst.

In Wolfsburg findet sich jeder schnell zurecht. Auf der einen Seite des Mittellandkanals und der Bahnstrecke von Hannover nach Berlin breitet sich das riesige VW-Werk aus. Nur wenige hundert Meter entfernt findet sich die sogenannte Autostadt, eine Mischung aus Automuseum, seriösem Autovergnügungspark sowie der Erlebniswelt, in der VW-Käufer ihre Neuwagen abholen. Komplettiert wird dieses Automobilmekka von einem Luxus-Hotel, dessen Restaurant mit drei Michelin-Sternen dekoriert ist und der ansehnlichen Volkswagen-Arena. Das gegenüberliegende Ufer wird vom Hauptbahnhof, einem Outlet-Center, einem interaktiven Wissenschaftsmuseum im dekonstruktivistischen Betongebäude und der sich daran anschließenden Innenstadt geziert. Diese kompakte Anordnung ist an Bundesligaspieltagen eine große Herausforderung für die Ordnungskräfte. Viele Mitarbeiter des VW-Sicherheitsdienstes sind aufgeboten, um Besucher der Autostadt von den Fußballfanhängern und diese wiederum in Wolfsburg- und Gästefans zu trennen. Direkt vor der Arena verhindern Polizisten, dass sich ahnungslose Fußballzuschauer in für sie verbotene Bereiche verlaufen. Da kann schon eine falsche Schal- oder Mützenfarbe zu einem unüberwindlichen Hindernis werden. Weil heute Eintracht Frankfurt mit den Vereinsfarben Schwarz, Weiß und Rot zu Gast ist, wird mein schwarzer Stadionmantel zum Problem. Erst nach energischer Diskussion und trotzigem Vorweisen meiner Eintrittskarte kann ich zwei Polizisten davon überzeugen, zu Recht auf dem Weg zum Wolfsburger Tribünenbereich zu sein. Endlich habe ich mich zum richtigen Stadioneingang durchgekämpft. Ein kleines Schild erinnert daran, dass im Stadion nur bargeldloses Bezahlen mit einer Arenakarte möglich sei. Diese Bezahlkarte muss an einer der ganz wenigen geöffneten Servicekassen erworben werden. Ein Geduldsspiel beginnt. Ich reihe mich in die lange Schlange vor den wenigen Schaltern ein. Die bemitleidenswerten Servicemitarbeiter sind mit der Fülle ihrer Aufgaben völlig überfordert. Sie müssen nicht nur Bezahlkarten ausgeben sondern auch Jugend- in Erwachsenentickets und Steh- in Sitzplätze umtauschen sowie noch verfügbare Karten an kurzentschlossene Besucher verkaufen. Endlich kann ich meinen Wunsch vorbringen. Als Alternative zur nachgefragten Bezahlkarte wird mir überraschend die eigene Geldkarte empfohlen. Mein Angebot, dann doch lieber mit meiner Handy-App zu bezahlen, stößt auf Unverständnis und eisige Ablehnung. Beim Bezahlen ist VW in seiner Arena mit der Software offensichtlich nicht auf der Höhe der Zeit. Immerhin gibt es eine Entschuldigung für das lange Warten. Nach Spielende wiederholt sich die zähe Prozedur. Immer noch sind zu wenige Kassen geöffnet und es dauert wieder fast 30 Minuten bis die Bezahlkarte zurückgegeben sowie Pfand und Restguthaben ausgezahlt werden. Als Gast hat man in Wolfsburg sehr viel Geduld mitzubringen.

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Im völlig verglasten Umlauf der Haupttribüne finde ich großzügige Verkaufsstände, an denen die Volkswagen-Currywurst und die Volkswagen-Bratwurst angeboten werden. Das freundliche Personal ziert sich, einzuschätzen, welche Wurstvariante denn besser schmecke. Es gesteht aber zu, dass sich die Currywurst trotz ihres höheren Preises von 3,30 Euro gegenüber 3,00 Euro für die gebratene, besser verkaufe. Gleich nach meinem ersten herzhaften Biss in die Bratwurst habe ich dafür größtes Verständnis. Die mitteldicke und mittellange Wurst hat eine äußerst feste Haut und ist deutlich zu wenig gebraten. Die Füllung ist saftig und sehr weich. Außer Fett und Salz ist nichts zu schmecken. Das ergänzende längliche Brötchen hat eine überwiegend krosse Oberfläche, die allerdings so dünn ist, dass sie das geschmacklose pappige Innere nicht zusammenhalten kann und sofort zerbröselt. Auch weitere Verkostungen an jeweils anderen Kiosken bringen keine besseren Geschmacksergebnisse. Wird die VW-Currywurst allenthalben für ihre Qualität gelobt, so drängt sich bei ihrem Bruder, der VW-Bratwurst, der Verdacht auf, dass eine Grenzwertrezeptur angewendet wurde. Dabei wird nur so viel Magerfleisch eingesetzt, dass gerade noch die gesetzliche Vorschrift eingehalten wird. Sollte VW auch in diesem Bereich Grenzwerte offensiv austesten? Mir kommt eine weitere mögliche Erklärung des desaströsen Testergebnisses in den Sinn. Die erfolgreichen Currywürste werden in Schäldärmen portioniert, die unbedingt vor der Zubereitung entfernt werden müssen. Ist die Bratwurst in den gleichen Darm gehüllt und dieser nicht hinreichend entfernt worden? Die Frage bleibt unbeantwortet. Dass Volkswagen für diese Wurst seinen Namen hergibt ist einerseits schon erstaunlich, andererseits aber auch nicht, denn VW gab seinen ehemals guten Namen ja auch für betrügerische Software bei Dieselautos her.

Flackerndes Flutlicht und mitreißende Heavy Metal Musik kündigen das Einlaufen der Heimmannschaft zum Aufwärmen an. Gewitzt beeilen sich die Frankfurter Kicker und kommen, angetrieben vom Trainerteam, gleichzeitig aufs Feld. Der überbordenden Jubel der zahlreichen Frankfurter Unterstützer vermischt sich mit dem der Wolfsburger und lässt den geplanten Auftrittseffekt der Wölfe ziemlich verpuffen. Die hessische Euphorie über das so überaus erfolgreiche Auftreten in der Europaleague schwappt heute bis nach Niedersachsen. Aggressiv versuchen Stadionregie und Stadionsprecher die Zuschauer zu lauter Unterstützung der Heimmannschaft zu provozieren. Es ist spürbar, der Verein muss um sein Publikum und um die Schaffung einer besonderen Atmosphäre kämpfen. Dabei kommen unterschiedlichste Mittel zur Anwendung: Erst werden zur Verknüpfung des Stadiongeschehens mit der digitalen Welt farbenfrohe Hashtags auf den Rasen projiziert, dann wird das Stadion zu psychedelischer Musik und wiederum flackerndem Flutlicht von einem ohrenbetäubenden Wolfsgeheul erfüllt. Eher bieder wirkt dagegen die Vereinshymne „Immer nur du“, die allerdings von einem Sänger mit Gitarre live von der Fantribüne eingesungen wird. Für Kinder gibt es in Wolfsburg eine in der Bundesliga einmalige Besonderheit: Im Familienblock der Wölfi-Kurve ist ein Kinderspielplatz in die Tribüne integriert. Während des Spiels zeigt sich, dass er, je länger das Spiel dauert, umso begeisterter von den kleinen Besuchern angenommen wird.

Ein treuer Kern der VFL-Fans scheint sich aus Schichtarbeitern bei VW zu rekrutieren. Auf riesigen Spruchbändern beklagen sie allgemein die Bundesligaspiele am Montagabend und speziell am heutigen Ostermontag: „Wegen euch entgeht uns der Feiertagszuschlag“. Diese Fans haben einen Urlaubstag gegen eine gut bezahlte Arbeitsschicht eintauschen müssen, um beim Spiel dabei zu sein. Bei ihren höhnischen Sprechchören gegen den DFB machen auch die Frankfurter mit. Die haben sich zudem etwas Besonderes einfallen lassen. Sofort nach Anpfiff fliegen aus der Gäste-Fankurve hunderte kleiner Schokoladeneier auf das Spielfeld, nicht als Ostergruß, sondern, wie lauthals geschrien wird, ebenfalls als Protest gegen die Montagsspiele. Wegen der Verletzungsgefahr wird das gerade eröffnete Spiel unterbrochen. Ordner, Spieler beider Mannschaften und sogar Schieds- und Linienrichter begeben sich auf eine ungeplante Ostereiersuche und reinigen gemeinsam das Spielfeld. Österliche Solidarität, die sich nach Wiederanpfiff schnell verflüchtigt. Im häufig ruppigen Spiel erkämpft sich Wolfsburg durch ein Tor in letzter Minute ein 1:1. Dieses Ergebnis hilft keiner der beiden Mannschaften beim Kampf um die Plätze für die nächste Champions League weiter.

Von den vorderen Plätzen in der Bratwurstliga ist die Volkswagen-Bratwurst weit entfernt. Für sie reicht es nur zum vorläufig vorletzten Tabellenplatz.

Die Wolfsburger mögen sich damit trösten, dass es bei den VW-Würsten vielleicht genauso ist wie bei den VW-Autos: Nicht alles ist schlecht. In einem Fall nur die Bratwurst, im anderen Fall nur die Dieselsoftware.

Wird fortgesetzt.

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