Politik: Viel Öl, wenig Feuer?

Russlands Kriegsmaschinerie ist auf Erdöl-Einnahmen angewiesen. Ein sich anbahnender Preiskrieg könnte Moskaus Schlagkraft empfindlich treffen.

Saudi-Arabiens Entscheidung, die Öllieferungen auszuweiten, obwohl die globale Nachfrage sinkt, könnte sich als schwerer Schlag für Russlands Kriegsanstrengungen erweisen. Moskau verkauft sein Öl bereits zu reduzierten Preisen – bei vergleichsweise hohen Produktionskosten. Niedrige Preise auf den Ölmärkten könnten sich auf die finanziellen Spielräume Russlands für seinen Angriffskrieg in der Ukraine auswirken.

Der russische „Super-Panzer“ T-14

Es ist nicht das erste Mal, dass Russland und Saudi-Arabien in Bezug auf Öl aneinandergeraten: Zu Beginn der Covid-Pandemie startete Russland für einen kurzen Zeitraum von etwa einem Monat einen wahnwitzigen Preiskrieg, indem es die Produktion erhöhte, während die Welt in den ersten Lockdown ging. Als Saudi-Arabien reagierte und sein Angebot ebenfalls ausweitete, brach der Ölpreis ein. Das Ende dieser Preisspirale nach unten kann als Beispiel dafür angesehen werden, wie stark die Geopolitik die Ölmärkte tatsächlich beeinflusst: Denn Auslöser für die Verhandlungen, mit denen die Krise letztlich beigelegt wurde, war angeblich die Drohung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, Saudi-Arabien die amerikanische Militärhilfe zu entziehen. Unter diesem geopolitischen Druck und der einbrechenden Marktnachfrage, die einen Preiskrieg für alle Parteien potenziell ruinös zu machen drohte, lenkten Russland und Saudi-Arabien schließlich ein. Die beiden Länder einigten sich auf Angebotseinschnitte, die zur Stabilisierung der Weltmarktpreise erforderlich waren.

Wie die Cambridge-Professorin Helen Thompson in ihrem Buch Disorder: Hard Times in the 21st Century  darlegt, war auch das Öl-Überangebot in den Jahren 2014 bis 2016 durch die Konkurrenz zwischen den USA, Russland und Saudi-Arabien geprägt. Damals erhöhte Saudi-Arabien das Ölangebot auf dem Weltmarkt, ebenfalls zu einer Zeit sinkender Nachfrage. Grund dafür war einerseits das ökonomisch motivierte Ziel, US-Investitionen in heimisches Schieferöl unattraktiv zu machen, andererseits das geopolitische Ziel, Russland und den Iran unter Druck zu setzen, ihre jeweilige Unterstützung für das Assad-Regime in Syrien einzustellen. Aus dieser Episode lässt sich für die heutige Situation zunächst festhalten: Die Tatsache, dass Russland die damalige ökonomische Krise – die durch die Kombination aus westlichen Sanktionen und der Ausweitung des saudischen Ölangebots verursacht wurde – überstehen, das Assad-Regime an der Macht halten sowie die besetzten Gebiete im Süden und Osten der Ukraine sichern konnte, ist eine Warnung, dass die gegenwärtige Wirtschaftslage sich für Putins Regime nicht unbedingt als problematisch erweisen muss.

Allerdings sieht sich Russland heute sowohl viel härteren Sanktionen (die praktisch zum Ausschluss aus der westlichen Handels- und Finanzordnung geführt haben) als auch einem sehr kostspieligen, deutlich umfassenderen Krieg gegen die Ukraine gegenüber. Daher kann angenommen werden, dass die Lage Ende 2024 eine weitaus ernstere Herausforderung für die Regierung in Moskau darstellen wird als 2014 bis 2016.

Trends auf dem globalen Ölmarkt wirken sich auf Entscheidungen in Russland aus.

Trends auf dem globalen Ölmarkt wirken sich auf Entscheidungen in Russland aus. Die Internationale Energieagentur geht davon aus, dass die weltweiten Förderkapazitäten im Jahr 2030 die Nachfrage um etwa acht Millionen Barrel pro Tag übersteigen werden. Die Organisation spricht von einer „erstaunlichen“ und (mit Ausnahme der Pandemiezeit) „beispiellosen“ Situation. Dabei liegen die Ölquellen im Iran und in den Golfstaaten nah an der Erdoberfläche, was eine kostengünstige Förderung ermöglicht. Somit können diese Staaten fallende Ölpreise besser verkraften. Auch bei Investitionen in neue Bohrprojekte haben sie wirtschaftlich deutliche Vorteile gegenüber der internationalen Konkurrenz in Russland oder den Vereinigten Staaten.

Indem es sich mit den jüngsten Ankündigungen nun in eine wettbewerbsfähigere Lage bewegt, bedroht Saudi-Arabien einerseits die teurere Produktion der USA, erkennt aber auch indirekt an, dass die OPEC+-Gruppe nur noch über eine verminderte Preissetzungsmacht verfügt. Für Russland sind beides keine guten Nachrichten. Denn im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten hat Russland eine stark vom Öl abhängige Wirtschaft, die von der bisherigen Kartellmacht der OPEC+ profitierte. Und anders als in Saudi-Arabien ist die Förderung russischen Öls alles andere als billig. Moskau ist daher recht schlecht gerüstet, um global niedrigere Preise zu verkraften. Dadurch entsteht auch eine gewisse Eskalationslogik für Russlands Krieg gegen die Ukraine: Moskau braucht schnelle Erfolge auf dem Schlachtfeld, bevor eine Niedrigpreissituation auf den Ölmärkten entsteht.

Moskau braucht schnelle Erfolge auf dem Schlachtfeld, bevor eine Niedrigpreissituation auf den Ölmärkten entsteht.

Die erfolgreiche Anpassung der russischen Binnenwirtschaft an den Kriegszustand ist ein wichtiger Aspekt mit Blick auf die Invasion in der Ukraine. Der russische Staat hat eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die Wolodymyr Ischtschenko, Ilja Matwejew und Oleg Schurawlow als „militärischen Keynesianismus“ bezeichnen. Kurz gesagt bedeutet dies, dass kriegsbedingte Ausgaben die heimische wirtschaftliche Nachfrage ankurbeln: Die drei Forscher weisen insbesondere auf die wichtigen Verteilungseffekte des Krieges in Bezug auf Lohnsteigerungen und industrielles Wachstum hin. Dies habe möglicherweise auch Einfluss auf die Unterstützung der russischen Arbeiterklasse für den Krieg. Allerdings stoße diese „militärisch-keynesianische“ Politik auch an Grenzen, beispielsweise in Form eines akuten Arbeitskräftemangels, der wiederum die Wirtschaftsleistung einschränkt.

Wenn die russische Kriegswirtschaft in einen globalen Kontext gestellt und dabei ihre Ölabhängigkeit mit einbezogen wird, entsteht ein besseres Bild von ihren Schwachstellen. Die Sanktionen haben zwar die Beziehungen Russlands zu den westlichen Märkten zerrüttet, doch ist die russische Wirtschaft dadurch nicht komplett autark geworden. Im Gegenteil, die Einnahmen aus dem Ölexport sind weiterhin von entscheidender Bedeutung. Wie das Oxford Institute for Energy Studies argumentiert, funktioniert die russische Wirtschaft in dem Sinne zweigleisig, dass sie sich unterteilen lässt in einkommensgenerierende Sektoren (von denen die Ölbranche der wichtigste ist) und einkommensabhängige Sektoren, die durch die Verteilung dieser Einkommen aufrechterhalten werden. Öl macht seit 2014 zwischen 30 und 50 Prozent der jährlichen Staatseinnahmen aus – Russland ist im Grunde ein Petrostaat. Das Putin-Regime verwaltet die Erträge aus diesem Sektor und nutzt sie zur Finanzierung der militärischen Angriffe in der Ukraine.

Die Sanktionen haben zwar die Beziehungen Russlands zu den westlichen Märkten zerrüttet, doch ist die russische Wirtschaft dadurch nicht komplett autark geworden.

Seit Beginn der umfassenden Invasion veröffentlichen die russischen Behörden keine Handelsdaten mehr. Schätzungen des Thinktanks Bruegel zufolge finanziert Moskau sein Handelsdefizit bei Gütern, die nicht aus fossilen Brennstoffen hergestellt werden, jedoch weiterhin durch den Export fossiler Brennstoffe (was insgesamt zu einem Handelsüberschuss führt). Da der Import ersterer Güter notwendig ist, um sowohl den Bedarf der russischen Bevölkerung als auch die Kriegsanstrengungen des Staates zu decken, sind möglichst hohe Einnahmen aus dem Ölverkauf von höchster Bedeutung.

Russlands Öl ist daher sowohl eine wichtige Machtressource, mit der der Angriffskrieg finanziert wird, als auch eine potenzielle Schwachstelle, da das Land bei schwankenden Preisen auf dem Weltmarkt anfällig ist. Die Invasion in der Ukraine hat Sanktionen nach sich gezogen, durch die die Produktionskosten für das russische Regime in die Höhe getrieben wurden, die Nachfrage im Westen, der auf andere Lieferanten auswich, einbrach und eine Preisobergrenze für Ölverkäufe eingeführt wurde. Russland hat daher mit höheren Kosten zu kämpfen, da es nun auf einzelnen Märkten zu reduzierten Preisen verkauft (davon profitieren vor allem nicht-westliche Käufer, vor allem aus Indien und China). Bisher hat sich das Land an diese Veränderungen anpassen können. Allerdings ist es bislang auch noch nicht zu einer Situation gekommen, in der das weltweite Ölangebot die Nachfrage übersteigt.

Bei der geopolitischen und wirtschaftlichen Entwicklung eines jeden Staates können „vermeintlich weit entfernte“ Ereignisse eine durchaus gewichtige Rolle spielen. Mit Blick auf Russland gibt es diverse denkbare Ereignisse – mit einer Vielzahl an Akteuren und Konfliktschauplätzen –, die wahrscheinlich darüber entscheiden werden, ob Moskau weiterhin Öl zu einem Preis verkaufen kann, der zur weiteren Finanzierung seines Krieges in der Ukraine erforderlich ist. Zu diesen Entwicklungen gehören die zukünftige Nachfrage nach Öl angesichts des grünen Wandels (insbesondere in China, das 2023 für vier Fünftel des weltweiten Nachfragewachstums verantwortlich war); die Frage, wie aggressiv Saudi-Arabien versucht, das weltweite Angebot an Öl auszuweiten, um der Konkurrenz Marktanteile abzuluchsen; und ob es zur weiteren Eskalation in Nahost und möglicherweise zum Krieg zwischen Israel und dem Iran kommt. In letzterem Szenario könnte die Straße von Hormus, das wohl wichtigste Nadelöhr im globalen Ölhandel, zum Kriegsschauplatz werden.

Wenn sich derartige Faktoren so entwickeln, dass es zu einem Ölpreisverfall ähnlich der Jahre 2014 bis 2016 kommt, könnte das russische Regime Schwierigkeiten haben, seine Kriegswirtschaft zu finanzieren – zumindest mit Blick auf die verteilungspolitisch „progressive“ Wirtschaftsgestaltung gegenüber der heimischen Arbeiterschaft.

Luke Cooper ist assoziierter Forschungsprofessor und Direktor des PeaceRep-Programms für die Ukraine an der London School for Economics and Political Science. Er arbeitet in der Forschungsgruppe Konflikt und bürgerschaftliches Engagement.

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