Politik: Jetzt haben wir den Salat
Europa hat es versäumt, eine eigene Friedensstrategie zu entwickeln und sich so Trump ausgeliefert. Doch noch ist nicht alles verloren.

Donald Trumps rigoroser Versuch, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der Brechstange zu beenden, stößt bei deutschen Kommentatoren und Politikern auf überwiegend ablehnende Bewertungen. Die demütigende Behandlung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus – verbunden mit der Erpressung, sich bei Ausbleiben eines Deals aus der Ukraineunterstützung zurückzuziehen – löst deutsch-europäische Ängste vor einem Ende der transatlantischen Partnerschaft aus.
Europa bleibt gefangen in alten Denkmustern, die von amerikanischen Prinzipien einer liberalen Weltordnung geprägt sind. Gleichzeitig dominieren erstarrte Narrative von Krieg und Frieden, die sich im Verlauf des Ukrainekriegs verfestigt haben. In diesem Rahmen werden sowohl die Herausforderungen als auch die Chancen der aktuellen geopolitischen Metamorphose nur unzureichend erkannt und genutzt.
Zuzustimmen ist der deutschen Kommentarlage auf jeden Fall in der Feststellung, dass der gegenwärtige Kurs Amerikas einem machtpolitischen und moralischen Desaster Europas gleichkommt. Worin aber besteht dieser europäische Offenbarungseid?
Seit Ausbruch des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine haben es Deutschland und Europa nicht vermocht, ein Ende des Krieges durch ein stimmiges Politikmodell zu ermöglichen, das militärische und diplomatische Vorgehensweisen in einem Zusammenhang denkt. Vielmehr sahen sich diplomatische Ansätze in der Vergangenheit zugunsten rein militärischer Prinzipien bewusst ausgegrenzt. Eher halbherzig wurden die Friedensgespräche in der Türkei kurz nach Kriegsausbruch von Europa und der Nato unterstützt und schnell aufgekündigt.
Und bis hin zu Donald Trumps „Elefantentanz im Porzellanladen“ wurden keinerlei Bemühungen unternommen, gemeinsam mit Russland auf der Grundlage gemeinsamer Sicherheitsinteressen Auswege aus dem Krieg zu entwickeln. Anstatt Spielräume und diplomatische Gesprächskorridore eines fairen Verhandlungsfriedens perspektivisch auszuloten, herrschte die Flucht in unverbindliche Formeln und Floskeln vor: Putin sei nicht verhandlungsbereit oder als Kriegsverbrecher ohnehin kein Gesprächspartner. Das einhellige Diktum von einer rein militärischen Lösung zur Sicherung der ukrainischen Souveränität bestimmte das Denken, schrieb den Krieg aber nur einfach fort.
Europa verfügt heute über kein Konzept, das es in Verhandlungen einbringen könnte.
Die gegenwärtig vorliegenden amerikanisch-russischen Denkansätze fallen deutlich hinter die Gespräche in der Türkei zurück. Europa verfügt heute über kein Konzept, das es in Verhandlungen einbringen könnte. Darüber hinaus können die heldenhafte Rhetorik Europas und die Milliardengelder, die für den ukrainischen Widerstand gegen eine drohende Okkupation in die Hand genommen wurden, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die militärischen Hilfen höchst unentschlossen geblieben sind. Wie anders als „fehlerhaft“ müssen die Hängepartien und Zögerlichkeiten genannt werden, mit denen Waffenlieferungen seit Kriegsausbruch begleitet wurden? Diese Halbherzigkeiten trugen mit dazu bei, dass der russische Angriff nicht erfolgreich zurückgeschlagen werden konnte. Zugleich bestimmte das Thema Militärhilfe in Ermangelung einer europäischen Gesamtstrategie immer wieder aufs Neue die ukrainische Tagesordnung.

Zudem verleitete die heroische Großspurigkeit des Westens den ukrainischen Präsidenten Selenskyj, Siegespläne anstelle von Friedensplänen zu entwickeln. Im Vertrauen auf eine Kriegsrhetorik, die eine russische Niederlage zum Maß aller Dinge erkor, versäumte auch er es, friedenssichernde Möglichkeiten zu entwickeln, und steht heute als Bittsteller und armseliger Krieger ohne Waffen vor der Welt. Die strategischen Versäumnisse der vergangenen Jahre machten ihn zum Spielball internationaler Politik. Die Ukraine ist dabei einem Diktatfrieden näher gerückt als in all den bisherigen Kriegsjahren.
Sich ihrer Verantwortung für diese verhängnisvolle Situation zu stellen, hat auch die Riege der deutschen Expertinnen und Kommentatoren, die mehrheitlich mit ihrem eindimensionalen Denken die strategische Unentschlossenheit Europas noch beförderte.
Zuvorderst die den deutschen Diskurs dominierenden Vertreterinnen und Vertreter einer „Logik auf dem Schlachtfeld“, die mit ihren stereotypen Analysen und Ideologien sowie mit ihrer Leugnung eines russischen Gesprächswillens jede Diskussion über einen Ausweg aus dem russischen Angriffskrieg zunichtemachten. Aber auch die Anhängerschaft eines wohlfeilen Friedensbegriffs schadete dem Diskurs durch ihr Ausblenden friedenspolitischer Aporien. Die mediale Konzentration auf Sahra Wagenknecht und ihren instrumentalisierten „Friedensbegriff für Wahlkampfzeiten“ tat ein Übriges, um „Frieden“ zu einer widerlichen Fratze mutieren zu lassen.
Aber dennoch, wenn die sich anbahnende europäische Tragödie in der Ukraine abgewendet werden soll, muss der Begriff „Frieden“ trotz aller Blessuren als erkenntnisleitender Rahmen die kommenden politischen Ereignisse bestimmen. Es gilt, in einer Paradoxie des Erkennens, die Friedensinitiative Donald Trumps anzunehmen und abzulehnen. Doch was heißt das?
Die Ausbeutung eines europäischen Totalausfalls durch amerikanisch-russische Absprachen darf es nicht geben.
„Selenskyj kann wiederkommen, wenn er für Frieden ist.“ Diese zynische Botschaft Trumps nach dem Rauswurf des ukrainischen Präsidenten aus dem „Weißen Haus“ kann gewiss nicht der konfliktlösende Friedensbegriff sein. Steht er doch für einen erpresserischen Diktatfrieden, dem in Deutschland vermutlich nur die AfD zustimmen kann.
Von der selbstverschuldeten Handlungsunfähigkeit Europas war oben bereits die Rede. Aber die Ausbeutung eines europäischen Totalausfalls durch amerikanisch-russische Absprachen darf es nicht geben. Dies ruft dunkle Assoziationen an den Hitler-Stalin-Pakt hervor, mit dem unter anderem die Aufteilung Polens besiegelt wurde.
In der gegenwärtigen Situation kann die Hoffnung allein in einer europäischen Offensive liegen, um den Versuch der Weltaufteilung in Interessenssphären von Supermächten zu verhindern. So will Europa jetzt auch durch einen „Friedensplan“ eine Waffenpause und Friedensverhandlungen ermöglichen. Doch können die bisher vorliegenden Gedanken und Modelle das einlösen, was sie versprechen?
Die vorliegenden Aussagen politischer Kommentatoren belegen das leider noch nicht. Einerseits sind die vielen europäischen Stimmen in ihrer Unsortiertheit nur ein weiterer Beleg dafür, dass Europa trotz aller gegenteiliger Behauptungen bis heute keine Friedenspläne angedacht hat. Andererseits verharren die aktuellen Überlegungen auf dem Irrweg einer „Anti-Russland-Doktrin“ und der alten militärischen Denklogik. Solange aber die Interessen Russlands weiterhin keine Anerkennung in einer Konfliktlösung finden sollen, wird es keine Zukunft geben, in der eine ukrainische Souveränität abgesichert werden kann.
Dabei schließt die Bevorzugung diplomatischer Lösungen zur Schaffung eines fairen Vertragsfriedens die Berücksichtigung militärischer Aspekte nicht aus, wie etwa stärkere Verteidigungsbereitschaft oder europäische Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Jedoch stehen sie unter dem Primat der Friedenssicherung.
Gegenwärtig beantwortet Europa Donald Trumps Herausforderung mit einer Mischung aus Moralismus, starken Sprüchen und Weinerlichkeit. Eine Mischung aus Pragmatismus (im Sinne von Richard Rorty; Pragmatismus als Antiautoritarismus) und Nüchternheit täte gut. Es geht nicht darum, das transatlantische Bündnis wieder zu kitten oder Amerika anzuflehen, die alte Führungsrolle zu übernehmen, wie uns viele Kommentatoren vermitteln wollen. Denn einerseits hat sich der Westen längst aus seinen alten Strukturen heraus zu einem Netzwerk entwickelt, andererseits vertritt Donald Trump allein seine Interessen, beziehungsweise das, was er als America First versteht.
Es geht nicht darum, das transatlantische Bündnis wieder zu kitten oder Amerika anzuflehen, die alte Führungsrolle zu übernehmen.
Europa muss sich deshalb zunächst auf sich selbst besinnen und seine eigenen Friedensinteressen vertreten, ohne in die alte Militärlogik zurückzufallen. „Whatever it takes.“ Eine solche Reaktion erschöpft sich jedoch nicht in weiteren Aufrüstungsplanungen. Sie beginnt mit einem „Friedensplan der Gemeinsamen Sicherheit“, um mit Russland und Amerika ein neues Sicherheitssystem zur Kriegsverhinderung zu schaffen, und endet bei ukrainischen Sicherheitsgarantien, Friedenstruppen und verstärkter militärischer Verteidigungsbereitschaft.
Ob und wie Donald Trump, der mit dem Stopp der ukrainischen Militärhilfen die europäische Integrität auf eine harte Bewährungsprobe stellt, auf diese Initiative reagiert und eingebunden werden will, ist nicht im Voraus einschätzbar. Aber es dürfte nicht schwer sein, ihm aufzuzeigen, dass europäische und amerikanische Friedensinteressen keine Gegensätze sind. Denn seine Gleichsetzung von Frieden und Wirtschaftsdeals ist zu kurz gefasst. Der Wirtschaft ist allein durch langfristig angelegte Absprachen und die Stärkung eines internationalen Sicherheitssystems gedient. Weitere Erschütterungen und Kriege in Europa würden Trumps wirtschaftsorientierte Außenpolitik unterlaufen und die US-Interessen beeinträchtigen. Vielleicht sollte sich Europa aber dennoch – um seinen wirtschaftlichen Friedensargumenten im Weißen Haus mehr Nachdruck zu verleihen – zunächst einmal die Vorkaufsrechte auf ukrainische Bodenschätze sichern.
Eine auch in der gegenwärtigen amerikanischen Administration unbestrittene Achillesferse Donald Trumps ist die Übereiltheit vieler seiner Vorschläge, wie etwa die damalige Anordnung des Truppenabzugs in Afghanistan, um den Krieg zu beenden. Aber auf der Grundlage eines „Friedensplans der Gemeinsamen Sicherheit“ können zwischen Amerika und Europa Verfahrensweisen und Regeln abgeklärt werden, die eine solche ungeklärte Situation verhindern können und Frieden als handwerkliche Kunst des Zusammenlebens verstehen.
Es ist zu hoffen, dass ein solcher Kurs Wirklichkeit wird und nicht weiter von moralisierenden oder eindimensionalen Stimmen im Politikbetrieb behindert wird. Benötigt werden neue Expertinnen und Experten, die politische Entwicklungen nicht mehr im Singular, sondern im Plural denken. Der mediale Blick auf vereinfachende Kontroversen hat ihre Einbeziehung in den Diskurs bisher leider verhindert, gleichzeitig aber ein dystopisches Klima kriegerischer Unausweichlichkeiten geschaffen.
Die Zeit eines Umdenkens ist gekommen, das fernab einer ängstlichen Kriegsrhetorik und von kitschigen Friedensbegriffen Möglichkeiten der Politik den Vorrang gibt – auch wenn es manchmal nur Versuche oder kleine Schritte des Friedens sind. Damit wir uns aus der selbsterfüllenden Prophezeiung „Die Welt findet keinen Frieden“ befreien können. Sonst bleibt uns vielleicht später einmal nicht mehr, als darüber zu philosophieren, ob Tränen siegen können.
Stephan Gorol ist Sozialwissenschaftler im Medien- und Kulturmanagement, unter anderem für den WDR und MDR. Er publiziert zu den Themenfeldern Frieden und internationale Politik.
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