Mythen in der Stunde Europas

Die „Sparsamen Vier“ sind selbst gar nicht so sparsam und mit Polen könnte das falsche Mitgliedsland erheblich vom Aufbaufonds profitieren.

Die “Sparsamen Vier”, Niederlande, Östereich, Schweden und Dänemark

Der EU-Plan „Next Generation EU“ ist der Europäische Aufbaufonds im neuen Gewand, eingebettet „in einen leistungsstarken und modernen langfristigen EU-Haushalt“. Als Ursula von der Leyen den Plan vorstellte, erklärte sie vollmundig: „Das ist die Stunde Europas.“ Und fast neige ich dazu, ihr Recht zu geben.

Die Covid-Pandemie hat manch frühere Schwäche der EU zutage gefördert und birgt „die Gefahr einer unausgewogenen Erholung, ungleicher Wettbewerbsbedingungen und zunehmender Ungleichheiten“, so die Europäische Kommission. Wenn „Next Generation EU“ noch in diesem Monat vom Europäischen Rat beschlossen wird, wäre das tatsächlich ein Meilenstein. Das unkontrollierte und unkoordinierte Wachstum der öffentlichen Staatsverschuldung ließe sich eindämmen, wenn ein großes, vorwiegend auf Zuschüssen basierendes Haushaltsinstrument zum Tragen käme, unterstützt von einer beispiellosen gemeinsamen Kreditfazilität. Aus der Asche der Covid-Pandemie könnte der europäische Phönix für Frieden, Wohlstand und Solidarität aufsteigen, der womöglich wirtschaftlich und sozial größere Kraft entfaltet und freundlicher mit den europäischen Bürgerinnen und Bürgern umgeht.

Noch sind einige Details zu klären, bevor wir uns zufrieden zurücklehnen können. Da ist zunächst der hartnäckige Widerstand der „Sparsamen Vier“ (unterstützt von Finnland), die sich gegen den 500-Milliarden-Zuschussteil des Aufbauplans stemmen und strikte Bedingungen für die Empfängerländer fordern. Ein Beamter des niederländischen Finanzministeriums sagte kürzlich, Kredite seien Zuschüssen immer vorzuziehen, weil sie stärkere Anreize für eine effiziente Verwendung des Geldes schaffen. Es mag mikroökonomische Argumente geben, die für diese Aussage sprechen, sie verblassen jedoch gegen die zusätzliche Belastung, die Kredite im gegenwärtigen EU-Kontext für die makroökonomische Stabilität mit sich brächten.

Offenbar sind die stolzen „Sparsamen Vier“ in Wahrheit traditionelle „Tax and Spend“-Länder, die Steuern erheben und wieder ausgeben, und zwar in höherem Ausmaß als Frankreich und Deutschland.

Die Holländer sollten am besten wissen, dass die sparsamen Niederlande auf einem der höchsten Schuldenberge in der EU sitzen (350 Prozent des BIP, davon 300 Prozent privat), gefolgt von Schweden (329 Prozent, davon 294 Prozent privat). Das gern als verschwenderisch gescholtene Italien hat insgesamt Schulden von 300 Prozent des BIP (165 Prozent als private Schulden) und wird von Spanien, Portugal und Frankreich weit übertroffen.

Auch darf man nicht vergessen, dass die „Sparsamen Vier“ mit ihren Pro-Kopf-Staatsausgaben allesamt deutlich über dem EU-Durchschnitt (100) liegen: Dänemark 181, Schweden 156, Österreich 148, Niederlande 134. Die Südländer bewegen sich dagegen unter dem EU-Durchschnitt: Italien 98, Spanien 76, Portugal 60, Griechenland 55. Offenbar sind die stolzen „Sparsamen Vier“ in Wahrheit traditionelle „Tax and Spend“-Länder, die Steuern erheben und wieder ausgeben, und zwar nicht in geringerem, sondern in Wahrheit in höherem Ausmaß als Frankreich und Deutschland. Diese Zahlen dürften nicht dazu angetan sein, in den sparsamen Ländern Selbsterkenntnis zu befördern, doch sie werfen ein Licht auf die tendenziöse ideologische Argumentation, mit der die „Sparsamen Vier“ in den Verhandlungsprozess eintreten.

Das zweite Detail, das geklärt werden muss, ist der Länderverteilungsschlüssel für „Next Generation EU“. An dem Tag, an dem der Plan bekanntgegeben wurde (27. Mai 2020), veröffentlichte die Kommission ein Arbeitsdokument zur Einschätzung des Aufbaubedarfs in Europa. Auf den letzten Seiten des Dokuments fand sich eine Tabelle mit einem „Verteilungsschlüssel“, eine Simulation dafür, wie viel jedes Land aus dem Aufbaufonds erhalten würde (als Zuschuss wie auch als Darlehen). Die Tabelle wurde von dem rumänischen Europaabgeordneten Siegfried Mureșan auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht und stiftete erhebliche Unruhe, obwohl darauf hingewiesen wurde, dass die Tabelle rein illustrativer Natur und lediglich „eine vorläufige Schätzung der potenziellen Wirkung des Konjunkturprogramms“ sei.

Die Tabelle ließ jedoch ein mögliches politisches Problem erkennen. Polen sollte danach 64,5 Milliarden Euro erhalten, der viertgrößte Betrag in der gesamten Europäischen Union hinter Italien (153 Milliarden), Spanien (149,3 Milliarden) und Frankreich (78 Milliarden). Das entspricht nicht den Zahlen, die in der Presse zu lesen sind. Doch der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki erklärte, er und die anderen „Visegrad“-Staatschefs seien bereit, den Europäischen Wiederaufbaufonds mitzutragen, „soweit er unsere Erwartungen und Bedürfnisse erfüllt“.

Da die polnische Wirtschaft von der Coronakrise vergleichsweise schwach getroffen wurde, müssten die „Erwartungen und Bedürfnisse“ Warschaus, was ihren Anteil an dem Aufbaufonds angeht, entsprechend gering ausfallen.

Da die polnische Wirtschaft von der Coronakrise vergleichsweise schwach getroffen wurde, müssten die „Erwartungen und Bedürfnisse“ Warschaus, was ihren Anteil an dem Aufbaufonds angeht, entsprechend gering ausfallen. Dazu kommt, dass die polnische Regierung wegen ihrer Haltung zur Rechtsstaatlichkeit in der Kritik steht und die Kommission vor nicht allzu langer Zeit noch plante, EU-Regierungen, die die Rechte ihrer Bürger einschränken, Gelder vorzuenthalten.

In dem rein „illustrativen“ Verteilungsschlüssel wird offenbar viel Gewicht auf ein im Vergleich zum EU-Durchschnitt niedriges Pro-Kopf-BIP gelegt (wodurch die Summen, die in relativ arme östliche Länder fließen würden, steigen), dafür aber kein Gewicht auf die Größe der Bevölkerung und die tatsächlichen Auswirkungen der Covid-Krise, gemessen beispielsweise am Anteil der Infektionszahlen oder Todesfälle in den Einzelstaaten (im Verhältnis zu den Gesamtzahlen in der EU); eine solche Gewichtung würde die Zuweisungen zugunsten Spaniens, Italiens, Deutschlands und Frankreichs verschieben.

Auf der Beitragsseite wurden die Zahlungen offenbar nur an das BIP gekoppelt, was für Länder der Visegrad-Gruppe sowie Rumänien und Bulgarien noch günstiger wäre. Die „Sparsamen Vier“ (und Deutschland) werden durch den „illustrativen Verteilungsschlüssel“ stärker bestraft als mit jedem anderen vernünftig austarierten Algorithmus, verbunden mit einem Beitragsmodell, das sich wie hier vorgeschlagen auf die Zahl der erwachsenen Bevölkerung stützt. Es wäre keine Überraschung, wenn die „Sparsamen Vier“ eine einfache technische Panne in einen neuen politischen Stolperstein verwandeln würden, der den gesamten Prozess zum Entgleisen bringen kann.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

Andrea Boitani ist Professor für Ökonomie an der Università Cattolica in Mailand.

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