Kult der Grausamkeit
Das Gift des Autoritären ist tief in die Gesellschaften eingedrungen. Auch in Österreich liegen die Rechtsextremen vor der Nationalratswahl vorn.
In der deutschsprachigen Welt begann pünktlich mit dem Septemberbeginn die Wahlsaison. Und die Nerven liegen blank. Bei den Regionalwahlen in Thüringen und Sachsen erreichte die ultrarechte AfD über 30 Prozent, in Thüringen wurde sie sogar stärkste Partei. Wenngleich erwartet, treffen die Schockwellen ins Mark.
Die Bedeutung geht über periphere Regionalwahlen weit hinaus. Die regierende Ampelkoalition in Berlin weiß sich nicht mehr zu helfen und schleppt sich in das letzte Jahr der Regierungsperiode. Währenddessen können Ultrarechte – in Wahrheit kaum mehr camouflierte Naziparteien – relative Mehrheiten erringen. Ende September stehen nun auch in Österreich Wahlen bevor. Und die rechtsextreme Freiheitliche Partei (FPÖ) rangiert in praktisch allen Umfragen auf Platz 1, gefolgt von den Konservativen (ÖVP) und den Sozialdemokraten.
Die gewohnte Nachkriegsordnung aus gemäßigten Parteien – die sich an der Regierung abwechseln –, mit liberaler Demokratie, Pluralismus, Medien- und Kunstfreiheit ist überall in einen Abwehrkampf verstrickt, der immer verzweifelter wird.
Die ultrarechten Parteien sind längst keine Wahlbewegungen mehr, die man als „rechtspopulistisch“ verharmlosen könnte; sie haben sich gerade in den vergangenen Jahren dramatisch selbst radikalisiert. Hatte man vor gar nicht allzu langer Zeit noch allgemein dem Urteil angehangen, die radikalen Rechtsparteien müssten sich mäßigen, um eine Chance auf Mehrheiten zu erlangen, so ist dies heute nicht mehr der Fall. Ja, man kann sogar sagen: Das Gegenteil ist heute der Fall. Je mehr Radikalität, je mehr Polarisierung und Hass, je irrer an der Eskalationsschraube gedreht wird, umso größer ist der Erfolg der Rechtsparteien. Über die Brandbeschleuniger der sozialen Medien schüren sie Ressentiments und Verbitterung bei ihrem Publikum; und das Publikum, das immer mehr außer Rand und Band gerät, wirkt wiederum auf die Parteien zurück.
In Österreich kündigt die FPÖ in ihrem Wahlprogramm die Homogenisierung des Volkes an.
Die Thüringer Wählerinnen und Wähler machten eine Partei zur Nummer 1, deren Frontmann offen ankündigt, dass es „wohltemperierte Grausamkeit“ brauche, etwa um Migranten wieder aus Deutschland zu vertreiben. Er ist gerichtlich verurteilt worden, weil er „Alles für Deutschland“ zu brüllen pflegt, die verbotene Parole der NSDAP-Sturmabteilung (SA). In Österreich kündigt die FPÖ in ihrem Wahlprogramm die Homogenisierung des Volkes an, da kulturelle und ethnische Ausdifferenzierung und Heterogenität schlecht für die Nation seien. Selbst ein Plebiszit über die Einführung der Todesstrafe hält ihr Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers, Herbert Kickl, für eine überlegenswerte Sache. Bei ihren Kundgebungen versteigt sich die Partei immer mehr in Gewaltsprache. Die rechtsextreme Kampfgruppe der „Identitären“, die vor allem mit Verschwörungstheorien wie der vom „Großen Austausch“ Panik schürt, hat an vielen Stellen den Apparat der Partei faktisch übernommen.
Spitzenfunktionäre der Partei – auch FPÖ-Regierungsfunktionäre wie die stellvertretende Landeshauptfrau von Salzburg – zeigen unverhohlen das White Supremacy-Handzeichen. Parteichef Herbert Kickl prahlt damit, er trage den Vorwurf des „Rechtsextremismus“ wie einen Orden. Die Europapolitiker der Partei meinten unlängst, das weibliche Führungstrio der Europäischen Union seien drei „Hexen“, die man „die Peitsche spüren lassen“ werde. Der Wiener Landeschef der FPÖ will die Armee gegen Migranten einsetzen – nicht an den Grenzen, sondern in den Straßen der Hauptstadt. „Demokratiefeindlicher und offen nationalsozialistischer kann eine Rhetorik nicht sein“, so eine Künstlerpetition rund um die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und den Regiestar Milo Rau in der vergangenen Woche.
Das Gift des Autoritären ist tief in die Gesellschaften eingedrungen. Der Extremismus ist laut und dominant, und viele haben sich daran gewöhnt. Das Abnormale wird als normal akzeptiert. Man baut sich Lebenslügen. Zum Beispiel: So schlimm wird es schon nicht kommen. Oder: Dass die Wählerinnen und Wähler faschistischer Parteien einfach reale Sorgen hätten (etwa vor Migration und der damit einhergehenden Jugendkriminalität oder vor islamistischem Terror) oder dass sie einfach frustriert seien vom politischen System. Auch ökonomische und soziale Abstiegserfahrungen von Teilen der Arbeiterschaft werden als Ursache genannt. Vieles davon ist keineswegs falsch, aber die Darstellung der rechtsextremen Wählerinnen und Wähler als Menschen, die aus rational nachvollziehbaren Gründen extremistische Parteien wählen, schönt den Blick auf die Realität. Gerne wird angenommen, dass die Menschen einfach auf die Lügen und Fakenews der rechten Agitatoren hereinfallen. Als wären diese Wähler bloß verführte, etwas dumme, infantile Leute, die nicht wissen, was sie tun. Die quasi irrtümlich zu Wählern faschistischer Parteien werden.
Das Gift des Autoritären ist tief in die Gesellschaften eingedrungen.
Aber die ultrarechten Parteien haben längst ein eingeschworenes Wählerpublikum, das genau das will, was es bekommt. Die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben das Resonanzmilieu genau durchleuchtet. Der Typus, der sich angezogen fühlt, ist der des „konformistischen Rebellen“. Wichtige Einsichten in diese Sozialfigur verdanken wir übrigens schon der legendären Studie über den „autoritären Charakter“ von Theodor W. Adorno und anderen Forschern der „kritischen Theorie“. Das Individuum wird ausschließlich im Gegensatz zur Gesellschaft definiert. Läuft etwas schief, ist es schnell gekränkt und gibt dem Staat und der Elite die Schuld.
An sich gesunde Machtskepsis eskaliert ins destruktive „Dagegensein“, in antiautoritäres Rebellentum mit Autoritarismus, Führerkult und der Lust daran, Schwächere zu quälen. Bei dem Typus finden sich „zahlreiche Merkmale der autoritären Persönlichkeit“, wie etwa „autoritäre Aggression, Kraftmeierei, Destruktivität, Zynismus“. Eine „paranoide Beziehung zur Außenwelt“ sowie Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber anderen Individuen sind Eigenschaften des autoritären Charaktertyps, wie etwa der Forscher Leo Löwenthal vor beinahe 90 Jahren feststellte.
Lügen die Frontleute, dass sich die Balken biegen, jubelt das Publikum. Nicht, weil es die Lügen nicht erkennen würde, sondern weil die jubelnden Mitläufer die Unverfrorenheit bewundern. Sie wären gerne auch so. Die französische Theoretikerin und Psychiaterin Cynthia Fleury hat unlängst mit einer Untersuchung über tief sitzende Verbitterung für großes Aufsehen gesorgt. Sie entdeckt ein „in das Ressentiment verliebte Subjekt“, das sich immer weiter in seine Verbitterung hineinsteigert, von der autoritären Propaganda immer mehr getriggert wird, und einen „Verlust der Urteilsfähigkeit“ erleidet. Sie spricht gar von einer „Verbitterungsstörung“.
Auch die Lust an Gewaltsprache und Obszönität weiß Fleury zu interpretieren: „Eine der explizitesten und hörbarsten Manifestationen des Ressentiments ist der obszöne Gebrauch der Sprache. (…) Man muss zuschlagen, den anderen verletzen, und da man dies nicht mit körperlicher Gewalt erreichen kann, geht es darum, die Sprache als Gewalt einzusetzen. (…) Heutzutage ist ein solches Auskotzen in sozialen Netzwerken quasi ständig möglich.“ Da wird „aufgeräumt“, aus dem Weg geschafft, man geilt sich an der Fantasie auf, die anderen endlich „zum Schweigen“ zu bringen.
Es wird jedenfalls Zeit, damit aufzuhören, sich in die Tasche zu lügen. Wir haben es nicht mit Parteien zu tun, die – „populistisch“ – bloß ein wenig radikal tun, um Aufmerksamkeit und Erfolg zu generieren. Und wir haben es nicht nur mit gutwilligen, frustrierten Leuten zu tun, die diese Parteien irrtümlich wählen. Wie Sigmund Freud schon 1921 in Massenpsychologie und Ich-Analyse feststellte, befeuert die Agitation eine regressive Lockerung der Selbstkontrolle und einen legitimierten Verlust von Über-Ich-Funktionen. Das Publikum steigert sich in selbst verstärkende Affekthandlungen, entwickelt Impulse von Grausamkeit und Feigheit, schaukelt sich hoch. Wir sind mit faschistischen Massenparteien konfrontiert, die nach der Macht greifen, und mit einer Anhängerschaft, der der Kult der Grausamkeit, eine Sprache der Verachtung und eine Rhetorik der Gewalt einen Lustgewinn verschafft. Oder einfacher gesagt: Menschen, die unter anderen Umständen gute Leute sein könnten, verwandeln sich in Bestien.
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.
Robert Misik lebt und arbeitet in Wien als Journalist und Autor. Zuletzt erschien von ihm: Putin. Ein Verhängnis: Wie Wladimir Putin Russland in eine Despotie verwandelte und jetzt Europa bedroht.
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