Jenseits der Komfortzone
Wie Europas Mitte-Links Parteien in Migrationsfragen ihren Kurs ändern.
Europas etablierte Linke scheint zunehmend vom Aussterben bedroht. Innerhalb von weniger als zwei Jahren erlitten die sozialdemokratischen Parteien in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und Italien historische Verluste. Auf einem Kontinent, der lange durch den demokratischen Wettbewerb zwischen Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien geprägt war, könnte dieser Zusammenbruch der Linken Folgen haben, die weit über bestimmte Partikularinteressen hinausgehen.
Neben wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen – die eine bedeutsame Rolle spielten – ist eine der wichtigsten Triebkräfte für den aktuellen Niedergang der linken Mitte so trostlos wie simpel: Die europäischen Wählerinnen und Wähler positionieren sich zunehmend einwanderungskritisch und trauen Linken Parteien nicht zu, Einwanderung ernsthaft zu begrenzen.
In der Konsequenz verwandelte sich zuletzt nahezu jeder Wahlgang faktisch in Volksabstimmungen über Einwanderung. Rechtspopulistische Bewegungen nutzten die Ängste der Wähler aus der Arbeiterschicht gekonnt aus, indem sie sie davon überzeugten, dass die traditionellen Arbeiterparteien den praktisch ungehinderten Zustrom an Einwanderern ermöglichen würden.
Nach einem Wahlkampf, der sich auf die vermeintliche „Bedrohung” der „christlichen Werte” durch muslimische Einwanderer konzentrierte, errang der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán im April einen Erdrutschsieg. Italiens neue, gegen das Establishment gerichtete Koalitionsregierung, schaffte es aufgrund der Beliebtheit der strikt einwanderungsfeindlichen Lega an die Macht, deren Parteichef Matteo Salvini mittlerweile Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident ist. Und in Slowenien erhielt die rechtsgerichtete Oppositionspartei des früheren Ministerpräsidenten Janez Janša bei den Parlamentswahlen in diesem Monat knapp 25 Prozent der Stimmen. Damit wird Janša die nächste Regierung des Landes bilden. In Anlehnung an US-Präsident Donald Trump bestand Janšas Wahlprogramm aus einer zuwanderungsfeindlichen „Slowenien zuerst”-Strategie.
Als die Rechtspopulisten begannen politisch an Boden zu gewinnen, hofften eine ganze Reihe von Mitte-Links-Parteien in Europa zunächst, die Herausforderung durch Herausstellen ihrer traditionellen Stärken zu meistern. Um eine unbeabsichtigte Stärkung des rechten Narrativs zu vermeiden, versuchten sie als Wahlkämpfer die öffentliche Debatte in ihre ideologische Komfortzone zu verschieben: Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit – das waren die Themen, um die es gehen sollte. Zugleich beklagte so mancher Stratege in progressiven Parteizentralen die vermeintlich falschen politischen Schwerpunkte – wohlgemerkt nicht die der eigenen Partei, sondern die der Wählerinnen und Wähler, die augenscheinlich nicht begriffen, welche Themen ihnen eigentlich am Herzen liegen sollten.
So mancher Stratege in progressiven Parteizentralen beklagte die vermeintlich falschen politischen Schwerpunkte – wohlgemerkt nicht der eigenen Partei, sondern der Wählerinnen und Wähler, die augenscheinlich nicht begriffen, welche Themen ihnen eigentlich am Herzen liegen sollten.
Das Ergebnis dieser Bemühungen ist bekannt. Denn eine schmerzliche Niederlage nach der anderen verkündet die Erkenntnis: Wähler, die sich in erster Linie über Zuwanderungsfragen sorgen, sind nicht mit Forderungen nach mehr Gerechtigkeit zu gewinnen, so gerechtfertigt diese auch sein mögen. Erst nach einer vernünftigen politischen Bewältigung der migrationspolitischen Herausforderung können die traditionellen Stärken der linken-Mitte wieder zum Zug kommen. Nicht zuletzt dies ist eine der Ursachen hinter dem anhaltenden Erfolg Jeremy Corbyns im Vereinigten Königreich.
Angesichts dieser Erkenntnis haben nun zumindest einige der verbliebenen großen Mitte-Links-Parteien Europas einen Kurswechsel eingeleitet, im Rahmen dessen Sozialdemokraten in mehreren Schlüsselländern lange gehegte Positionen im Bereich Migration überarbeiten.
In Deutschland ist der Asyl-Streit in der Koalition höchstens aufgeschoben, nicht aber aufgehoben. Während die SPD eine europäische Lösung anstrebt und eine pauschale Schließung der Bundesgrenzen ablehnt, gibt es hier durchaus neue Akzente. So forderte Parteivorsitzende Andrea Nahles vor einigen Tagen beschleunigte Asylverfahren, die es den Behörden ermöglichen würden, Asylanträge aus sicheren Drittstaaten innerhalb einer Woche zum Abschluss zu bringen. Einige Wochen zuvor plädierte Nahles – zum Ärger einiger Mitglieder des erweiterten Führungskreises und der Parteijugend – für mehr Realismus in der Migrationsdebatte und verkündete, Deutschland könne „nicht alle aufnehmen.”
Deutlicher scheint derzeit die Sozialdemokratische Partei Österreichs ihre Richtungsänderung zum Thema Zuwanderung durchzusetzen. Vor kurzem präsentierte die Parteiführung ein später im Jahr noch offiziell abzusegnendes neues Parteiprogramm, in dem die Position der Partei als „integrationsfreundlich“ im Gegensatz zu migrationsfreundlich neu definiert wird: „Integration vor Zuzug“, so lautet der Schlüsselsatz. Obwohl man sich im Parteiprogramm zu den „humanitären Verpflichtungen” des Landes bekennt, wird darin auch dezidiert ein „funktionierender Schutz“ der EU-Außengrenzen gefordert.
Die dänischen Sozialdemokraten sind ihren österreichischen Kollegen einen weiteren Schritt voraus: in Vorbereitung auf die Wahlen im nächsten Jahr haben sie jüngst ein neues Positionspapier zum Thema Zuwanderung unter dem Titel „Gerecht und Realistisch“ verabschiedet. Durch die Errichtung von „Aufnahmezentren“ außerhalb Europas, wo über Asylanträge entschieden werden soll, so heißt es in dem Papier, könne der Zustrom von Migranten nach Dänemark reduziert werden. Außerdem wird auch eine engere Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen sowie ein „Marshall-Plan“ für Afrika gefordert, der mehr Migranten dazu bewegen soll, zu Hause zu bleiben.
Das ist mittlerweile auch größtenteils die Haltung der schwedischen Sozialdemokraten in ihrem Versuch, einen Umgang mit der starken Unterstützung für die rechtsextreme Anti-Zuwanderungspartei Schwedendemokraten zu finden. Ministerpräsident Stefan Löfven, der sich im September der Wiederwahl stellt, bezeichnete die traditionell offene Zuwanderungspolitik seines Landes kürzlich als „nicht tragbar.“ Die von ihm vorgeschlagene Strategie unter dem Titel „Eine sichere Migrationspolitik für eine neue Zeit” würde die Zahl der in Schweden zugelassenen Flüchtlinge halbieren und verhindern, dass abgelehnte Asylbewerber soziale Unterstützung erhalten – eine Position, die migrationsfreundliche Gruppen scharf kritisieren.
Die landläufige Kritik an diesen Positionsveränderungen bezieht sich in der Regel auf zwei Aspekte: Auf die Überzeugungskraft der ausgearbeiteten Antworten und auf die Frage des politischen Verantwortungsbewusstseins. So mahnen Kritiker einer Richtungsänderung bisweilen, eine solche Politik laufe den Entwicklungen hinterher. Die Wählerinnen und Wähler aber würden „das Original“ stets bevorzugen. In dieser Sichtweise zahlt sich ein Kurswechsel an der Wahlurne nicht aus, sondern riskiert lediglich den Rest an politischer Glaubwürdigkeit.
Sicher kann dieses Argument nicht leichtfertig entkräftet werden. Glaubwürdigkeit ist ein hohes Gut und das Hängen des Fähnchens nach dem Winde ist das ziemlich exakte Gegenteil von politischer Führung. Doch Prinzipientreue darf nicht in Realitätsleugnung enden. Mit konkreten politischen Herausforderungen konfrontiert, orientieren sich die Wählerinnen und Wähler in erster Linie an überzeugenden Antworten und weniger am polit-ideologischen Urheberrecht. Andersfalls säße zumindest in Deutschland seit 2005 ein Sozialdemokrat im Kanzleramt.
Mit konkreten politischen Herausforderungen konfrontiert, orientieren sich die Wählerinnen und Wähler in erster Linie an überzeugenden Antworten und weniger am polit-ideologischen Urheberrecht. Andersfalls säße zumindest in Deutschland seit 2005 ein Sozialdemokrat im Kanzleramt.
Entscheidender erscheint deshalb vielmehr die Frage der politischen Verantwortung. Grundsätzlich sind Bestrebungen zur Begrenzung oder Bewältigung der Migration nicht gleichbedeutend mit Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit. Eine Schlüsselherausforderung bleibt jedoch, politische Antworten moralisch akzeptabel zu belassen. Selbstverständlich ist es nicht möglich, die plump nativistischen Rezepte der radikalen Rechten zu kopieren. Das wäre nicht nur wirtschaftlich kontraproduktiv, sondern würde grundlegenden progressiven Werten widersprechen und dabei die noch verbleibenden – eher kosmopolitisch verorteten – Unterstützer der Linken-Mitte vor den Kopf stoßen. So gesehen könnte sich eine zu drastische Haltungsänderung für die strauchelnden Mitte-Links-Parteien moralisch und politisch als kontraproduktiv erweisen.
Als Ausweg aus diesem Dilemma sollten Europas Mitte-Links-Parteien ein Gleichgewicht zwischen nationaler und internationaler Solidarität anstreben. Dazu ist eine auf drei Säulen beruhende Strategie zu konzipieren, die eine wirksame Begrenzung der Zuwanderung, einen Schwerpunkt auf Integration und humanitäre Bestrebungen zur Linderung unvorstellbaren menschlichen Leids umfasst. Ein derartiger Ansatz würde auf rhetorische Eskalation verzichten und stattdessen echte, zukunftsorientierte und moralisch nachhaltige Lösungen bieten. Der kanadische Premierminister Justin Trudeau verfolgt diesen Ansatz ebenso wie der französische Präsident Emmanuel Macron. Die strauchelnden Mitte-Links-Parteien Europas sollten diesem Beispiel folgen und erkennen, dass eine solche Neupositionierung kein moralischer Ausverkauf ist, sondern der Schlüssel zum politischen Überleben jenseits der 15 Prozent.
Michael Bröning, geboren 1976, Dr. rer. pol, leitet das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung und ist Herausgeber der Zeitschrift Internationale Politik und Gesellschaft. Er ist ein regelmäßiger Kommentator deutscher und europäischer Politik in internationalen Medien und schreibt für Foreign Affairs, Politico, Project Syndicate und andere. 2013 war er Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut der FU-Berlin und im Frühjahr 2018 John F. Kennedy Memorial Fellow an der Universität Harvard. Sein jüngstes Buch Lob der Nation – Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen erschien im Mai 2018.