Helden waren gestern
Wer dachte, eine Pandemie würde Allen die wichtige Rolle der Pflegekräfte bewusst machen, liegt falsch. Da sich das Coronavirus immer noch rasch ausbreitet, sind systemrelevante Berufe wichtiger – und gefährdeter – denn je, doch die öffentliche Aufmerksamkeit hat sich bereits abgewendet.
Schlimmer noch, da die Wirtschaft Stellenweise kollabiert und sich die Arbeitsmarktbedingungen verschlechtern, sind die Arbeitgeber im privaten wie auch im öffentlichen Sektor noch hartleibiger geworden, was den Umgang mit wichtigen Arbeitskräften betrifft. Von einer tieferen Wertschätzung für ihre Angestellten sind jedenfalls viele weit entfernt.
Der Kapitalismus hatte schon immer ein schwieriges Verhältnis zur Pflegearbeit. Obwohl das System in hohem Maße von unbezahlter und unterbezahlter Arbeit abhängt, die von Frauen, Migranten und anderen benachteiligten sozialen Gruppen geleistet wird, hat diese Leistung so gut wie nie die ihm zustehende Aufmerksamkeit erhalten. Infolgedessen werden all die vielfältigen Aufgaben kaum anerkannt und viel weniger belohnt oder entlohnt. Weil zudem unendlich viel Fürsorgearbeit von Frauen und Mädchen unentgeltlich innerhalb von Familien und Gemeinschaften geleistet wird, sieht man diese einfach als selbstverständlich an. Sie gilt nicht als “wirtschaftliche” Tätigkeit, da sie außerhalb des Marktes liegt.
70 Prozent Frauen
Unbezahlte Arbeit, die von Frauen geleistet wird, die keine andere Wahl haben, schafft so einen Teufelskreis der Abwertung. Wenn Frauen in den Arbeitsmarkt eintreten, sind ihre Löhne in der Regel ohnehin niedriger als die der Männer. Und zwar nicht nur, weil sie bereit sind, für weniger zu arbeiten, sondern auch, weil so viel ihrer Arbeit kostenlos zur Verfügung steht. Daher sind von Frauen dominierte Berufe – wie etwa im Pflegebereich – tendenziell schlechter bezahlt. Allerdings ist auch richtig, dass in diesem Brufsfeld selbst Männer Abstriche bei der Entlohnung hinnehmen müssen.
Im Falle der Gesundheitsversorgung sind zudem noch zusätzliche Berufshierarchien zu beachten gilt – von hoch bezahlten „Fachleuten” wie Fachärzten über Krankenschwestern und Stationsbetreuern bis hin zu Reinigungskräften. Es überrascht daher nicht, dass sich das “Geschlechtergleichgewicht” innerhalb der einzelnen Berufe verändert, wenn man in der Hackordnung nach unten geht. Wobei sich Frauen auf den am schlechtesten bezahlten Positionen mit niedrigerem Status wiederfinden.
Weltweit sind im Gesundheitswesen 70 Prozent Frauen beschäftigt, wenn man alle Berufe berücksichtigt. m Wesentlichen handelt es sich dabei jedoch eher Krankenschwestern, Hebammen und Gemeindegesundheitshelfer. Dagegen haben Männer einen unverhältnismäßig hohen Anteil an besser bezahlten Berufen. Zum Beispiel Chirurgen, Ärzte, Zahnärzte und Apotheker. Gemeindegesundheitspersonal ist in diesem Zusammenhang die vielleicht das am meisten ausgenutzte Gruppe – insbesondere in den Entwicklungsländern. Oft werden deren Angehörige überhaupt nicht als Arbeitnehmer anerkannt, sondern (wie etwa in Indien) eher als „Freiwillige”. Als solche profitieren sie selten von bndenden Verträgen, die Arbeitsplatzsicherheit und einen fairen Lohn bieten. Ganz zu schweigen von Schutzmaßnahmen wie der Gesundheitsversorgung.
Anerkennung wohl, mehr Geld nein
Nicht zu vergessen: Weibliche Beschäftigte des Gesundheitswesens sind in der aktuellen Pandemie stärker gefährdet, da sie häufiger Tätigkeiten ausüben, die einen engen Körperkontakt mit Patienten erfordern. Für eine kurze Zeit nach dem ersten Ausbruch der Pandemie wurden diese Kräfte für ihren Beitrag zur Gesundheitsfürsorge tatsächlich weithin anerkannt, ja mitunter regelrecht gefeiert. Auf der ganzen Welt applaudierten Politiker und Bürger den unentbehrlichen Helfern, indem sie von Balkonen aus Loblieder sangen und Blumensträuße vor Krankenhäusern ablegten.
Doch mit derLobpreisung der „Helden” scheint scheint sich das Ausmaß ihrer Belohnungauch schon wieder erschöpft zu haben. Die öffentliche Anerkennung hat sich nichtjedenfalls bisher in besseren Arbeitsbedingungen oder höheren Löhnen niedergeschlagen, Und schon gar nicht in systematischen Bemühungen, während der Pandemie ihre physische Sicherheit zu gewährleisten.
In den USA zum Beispiel folgte auf eine kurze Zeit, in der einige Unternehmen ihren an vorderster Front stehenden Leuten leicht höhere Löhne anboten, bald die Rückkehr zur Norm: Die Löhne kehrten auf ihre früheren Tiefststände zurück oder fielen manchmal sogar noch weiter ab. In ähnlicher Weise dankte der britische Premierminister Boris Johnson den eingewanderten (meistens sogar “gerufenen”) Pflegekräften – „Jenny aus Neuseeland”, „Luis aus Portugal” –, die ihm das Leben gerettet hatten, als er mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurde: Danach hatte er jedenfalls kein Problem damit, einen Zuschlag auf die Einwanderungsgebühren zu erheben (ironischerweise zum Zweck der Finanzierung des Nationalen Gesundheitsdienstes).
Noch schlimmer in Entwicklungsländern
Noch schlimmer ist die Situation in den Entwicklungsländern. Regierungen, die mit sinkenden Steuereinnahmen konfrontiert sind, überschlagen sich inmitten eines Gesundheitsnotstands und einer Rezession sogar mit Sparmaßnahmen. Beispielsweise werden die “nicht unter Corona fallenden” Ausgaben für Gesundheit gekürzt, Lohnminderungen und längere Arbeitszeiten für das Gesundheitspersonal erzwungen sowieund vermeiden die Ausgaben für die Beschaffung persönlicher Schutzausrüstung minimiert.
Die unverhüllte Missachtung wesentlicher Arbeitnehmer ist so eklatant, dass Ärzte und Krankenschwestern in Indien mit Kündigung gedroht haben. Und in der Demokratischen Republik Kongo ist das Gesundheitspersonal nach monatelanger Arbeit ohne Lohn in den Streik getreten ist.
Das darf nicht so weitrgehen, wenn es nicht zu einem – vielleicht sogar weitweiten – Gesundheitsnotstand kommen soll. Die Krankenschwestern, Pfleger und alle anderen im Gesundheitswesen Beschäftigten brauchen nicht Lieder, Beifall und Deckelklopfen, sondern gesellschaftliche Anerkennung und entsprechende Entlohnung. Bloßes Lob und Lippenbekenntnisse reichen wirklich nicht aus.
Aus dem Englischen von Eva Göllner
Jayati Ghosh ist Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Jawaharlal Nehru Universität in Neu-Delhi und Mitglied der Unabhängigen Kommission für die Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung.
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