Eine Politik „für die vielen, nicht die wenigen“ muss in den Gemeinschaften und in den Orten der Menschen verankert sein.

Sheffield mag ein trister Ort sein, aber das stärkt nur die Verbundenheit zwischen seinen Bewohnern.

Die meisten Menschen fühlen sich stark an einem Ort verwurzelt. Ich wuchs in Sheffield auf, der damals wie heute wohl tristesten Stadt Englands. Der berühmte britische Dramatiker Alan Bennet ist wie ich ein Sohn von Eltern aus Yorkshire mit niedrigem Bildungsstand. Das Stück The History Boys erzählt seinen sozialen Aufstieg von diesen bescheidenen Anfängen bis nach Oxford. Im Gegensatz zu mir kam Bennet aber aus dem nicht ganz so trostlosen Leeds. Um die soziale Kluft zu betonen, die er überwinden musste, hat er sein Stück nicht in seiner eigenen Stadt verortet, sondern in meiner. Das Stück spielt sogar in meiner ehemaligen Schule – ich bin also noch mehr als Bennett ein waschechter „History Boy“.

Sheffield mag ein trister Ort sein, aber das stärkt nur die Verbundenheit zwischen seinen Bewohnern, und die wurde einst zu einer bedeutenden politischen Kraft. Aus der Erkenntnis, gemeinsam einem Heimatort verbunden zu sein, entstanden in Gemeinden wie Sheffield Interessensgemeinschaften, die daraus große Kraft schöpften.

Aus dieser regionalen Verbundenheit heraus entwickelte sich eine bemerkenswerte Breite wirtschaftlicher Initiativen, die sich um die Sorgen der Arbeiterschaft drehten. Durch Versicherungs- und Baugenossenschaften wurden Menschen in die Lage versetzt, Risiken zu bewältigen und Wohnraum zu finanzieren. Genossenschaftliche Agrar- und Handelsgesellschaften stärkten die Verhandlungsposition von Bauern und Verbrauchern gegenüber großen Konzernen. Dies geschah nicht nur im Norden Englands, sondern in vielen Teilen Europas.

Aus dieser regionalen Verbundenheit heraus entwickelte sich eine bemerkenswerte Breite wirtschaftlicher Initiativen, die sich um die Sorgen der Arbeiterschaft drehten.

Aus den Zusammenschlüssen zwischen solchen Kooperativen erwuchs schließlich das Fundament der Mitte-Links Parteien. Wie die Arbeit der Kooperativen war auch die Politik dieser Parteien von einem Pragmatismus bestimmt, der in den Lebenssorgen armer Familien seine Wurzeln hatte. Je erfolgreicher diese Parteien wurden, desto stärker zogen sie jedoch das Interesse einer ganz anderen Klientel an, die bald einen überproportionalen Einfluss innerhalb der Parteien gewann: Intellektuelle aus der Mittelklasse, die von der utilitaristischen Philosophie Jeremy Benthams begeistert waren. Heute geht man davon aus, Bentham sei Autist gewesen – also jemand, der gar nicht dazu in der Lage war, einen Gemeinschaftssinn zu entwickeln.

Ein elitäres Credo

Der Utilitarismus vertritt die Vision eines paternalistischen, von Technokraten angeführten Staats, dessen Gesetze „das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“ gewährleisten. Dabei handelt es sich um eine Neuauflage von Platos Politeia. John Stuart Mill, der als Schüler Benthams aufwuchs und der zweite intellektuelle Kopf dieser Bewegung wurde, lernte Griechisch und las Platos Politeia bereits als Achtjähriger. Da er sorgsam von anderen Kindern abgeschirmt wurde, war er vermutlich mit dem antiken Griechenland besser vertraut als mit den Provinzstädten seiner eigenen Gegenwart. Die aus der Mittelklasse stammenden Anhänger von Bentham und Mill verstanden sich dieser Lehre entsprechend als die neuen Schutzherren der Arbeiterklasse, deren Sorgen sie selbst aber nicht kannten. Sie sahen sich also in der Rolle der Technokraten, die die Gesellschaft im Interesse der Allgemeinheit lenken.

Der Utilitarismus vertritt die Vision eines paternalistischen, von Technokraten angeführten Staats, dessen Gesetze „das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“ gewährleisten.

Als die europäischen Staaten mächtiger und die Mitte-Links-Parteien zur dominanten Kraft wurden, lösten die utilitaristischen Technokraten die sogenannten Kommunitaristen ab, ohne dies selbst zu bemerken. Den einfachen Familien entging dies jedoch nicht, weil die Politik der Technokraten nicht mehr in den Gemeinschaften verankert war, diesen zum Teil sogar schadete und damit unpopulär wurde. Die Technokraten regierten den Staat von ihrer blühenden Metropole aus, während die Gemeinschaften sich in der Provinz befanden und sich zunehmend der Gefahr ausgesetzt sahen, in den wirtschaftlichen Abgrund zu stürzen.

Besteck aus Silber, Sheffield um 1927

Genau so geschah es dann in den 1980er Jahren mit Sheffield. Während meiner Jugend war meine Heimatstadt noch ein hochspezialisiertes, weltweit beachtetes Zentrum der Stahlindustrie. Die Stadt beheimatete eine gut ausgebildete Arbeiterschaft, die mit Stolz auf ihre lange Tradition zurückblickte. Mein Urgroßvater selbst stellte als Handwerksmeister filigranes Besteck her. Ich bin noch heute voller Bewunderung für ein Foto, das ihn mit einem Dutzend Jugendlicher zeigt, die in seinem Betrieb arbeiteten.

In Sheffield wurde schon seit dem 13. Jahrhundert Besteck hergestellt, wie man aus einer Zeile in Geoffrey Chaucers Canterbury Tales weiß. Diese jahrhundertealte Tradition wurde aber innerhalb weniger Jahre durch die Globalisierung zerstört. Trotz solcher Tragödien genügt der dahinterstehende Prozess dem utilitaristischen Ideal, „den größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Zahl“ zu bringen: Die Ostasiaten, die von der Globalisierung profitierten, waren zuvor schließlich noch ärmer gewesen als die Menschen aus Sheffield.

Ohne Anspruch auf Unterstützung

Wer den Film Ganz oder gar nicht (The Full Monty, GB 1997) gesehen hat, bekommt eine Vorstellung von den Auswirkungen dieser Entwicklung auf Sheffield. Der Film erzählt, was aus meiner Heimatstadt geworden ist. Ich selbst erlebte das nur noch aus der Ferne, da ich inzwischen sicher an der Universität in Oxford angestellt war und ein bürgerliches Stadtleben führte. In meiner alten Heimatstadt wurde mein ehemaliger Nachbar wegrationalisiert und ein jüngerer Verwandter zog fort in die Niederlande, da er daheim keine Arbeit mehr finden konnte. Als er drei Jahre später zurückkehrte, musste er feststellen, dass er nach den vom Utilitarismus inspirierten Gesetzen jeden Anspruch auf Wohngeld oder Ausbildungsbeihilfen verloren hatte. Die Bedürfnisse der Immigranten waren größer und hatten deshalb Priorität.

Mein ganzes bisheriges Berufsleben drehte sich um die Bedürfnisse von Menschen, die in armen Gemeinschaften leben wie in großen Teilen Afrikas oder von Gewalt betroffen sind wie in Syrien. In meinen Büchern, wie zum Beispiel The Bottom Billion und Refuge, verarbeite ich Jahrzehnte meiner Forschungsarbeit und meiner Erfahrung und gebe Hinweise darauf, wie diese Bedürfnisse anzugehen sind. Mein Ausgangspunkt ist, dass sich jegliche Lösung an die Vielen richten muss, die in ihren Gemeinschaften bleiben, und nicht an die Wenigen, die sie verlassen.

Jede Lösung sollte sich an die Vielen richten, die in ihren Gemeinschaften bleiben, und nicht an die Wenigen, die sie verlassen.

Die utilitaristischen Technokraten haben aus nur ihnen bekannten Gründen genau das Gegenteil vertreten: Sie wollten vor allem eine kleine Anzahl von Glücklichen aus ihrem schwierigen Umfeld „retten“, ohne an die vielen anderen Angehörigen dieser Gemeinschaften zu denken. Durch europäische Hilfsprogramme werden beispielsweise derzeit für jeden Euro, der in die Unterstützung von Menschen fließt, die in ihrer Region bleiben, 135 Euro für die winzige Minderheit der Menschen ausgegeben, die nach Europa kommen. Wir haben so viele Ärzte aus Afrika „gerettet“, dass es inzwischen mehr sudanesische Ärzte in London gibt als im ganzen Sudan.

In dem Maße wie die utilitaristischen Technokraten den Gemeinschaftsvertretern die Kontrolle der Mitte-Links-Parteien entzogen, verloren die Parteien die Unterstützung ihrer Wähler. Aus dem Überlegenheitsgefühl ihrer neuen, globalen Klassenidentität heraus haben die Technokraten das Gefühl der heimatlichen Verbundenheit aktiv in Verruf gebracht. Da dieses Gefühl aber den meisten Menschen sehr wichtig ist, fühlen sie sich von den Mitte-Links-Vertretern im Stich gelassen. Das nutzen jetzt rechtspopulistische Parteien händereibend aus, um Unterstützung für ihre eigene, widerliche und potenziell sehr gefährliche Politik zu mobilisieren.

Rückblickend wird man die Jahre der utilitaristischen Dominanz innerhalb der Mitte-Links-Parteien als das erkennen, was sie waren: eine destruktive Phase der Arroganz und Selbstüberschätzung. Die Mitte-Links-Parteien werden sich dadurch erholen, dass sie zu ihren kommunitaristischen Wurzeln zurückkehren und indem sie die Aufgabe annehmen, das auf Gegenseitigkeit und Vertrauen basierende Netz von Verbindungen und Verpflichtungen wiederherzustellen, das die Arbeiterfamilien mit ihren Sorgen auffangen kann. Die Kraft der heimatlichen Gemeinschaft ist viel zu stark und birgt viel zu viel konstruktives Potenzial, um sie kampflos den Rechtspopulisten zu überlassen.

Sir Paul Collier ist Professor für Ökonomie und Public Policy an der Blavatnik School of Government der Universität Oxford. Sein neuestes Buch ist “Exodus: Immigration and Multiculturalism in the 21st Century” von Penguin und Oxford University Press.

 

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