von Günter Müchler

Da ist bei mir etwas zerbrochen in den letzten Tagen! Der Glaube, mit den Vereinigten Staaten in elementaren Fragen der von Politik und Gesittung verbunden zu sein, hat mich und wohl auch die die meisten meiner Generation lebenslang als Konstante begleitet. Mochten sich im Lauf der Zeit die Herausforderungen ändern und neue Einstellungen notwendig werdenhier war eine beruhigende Gewissheit, darauf konnte man bauen. Diese Gewissheit ist abhandengekommen, und egal, was noch auf uns zukommt, es wird lange dauern, Jahre vielleicht, bis die Erschütterung verdaut ist.

Als vor drei Jahren Russland über die Ukraine herfiel, dachten wir, schlimmer könne es nicht kommen. Der Schock war gewaltig, das Wort von der Zeitenwende nicht zu hoch gegriffen. Dass wieder Krieg sein würde in Europa, dass jemand so verächtlich das Völkerrecht beiseiteschieben und so ruchlos das Rechts des Stärkeren praktizieren könne, damit hatte niemand gerechnet. Doch so groß die Ernüchterung auch war, nach dem 24. Februar 2022 wussten wir wenigstens noch, woran wir waren und mit wem zusammen wir Partei ergreifen würden. Der Kompass war noch intakt. Drei Jahre später gilt das nicht mehr. Nach sechs Wochen Trump-Administration befinden wir uns auf einem Narrenschiff, das richtungslos dahintreibt.

Journalisten sollten nicht über sich selbst schreiben und reden. Die aufgetragene Gefühligkeit, mit der Moderatoren und Reporter ihre Befindlichkeit vorführen, ist eine professionelle Modetorheit und degoutant. Nur wenn das Persönliche verspricht, etwas über das Allgemeine auszusagen, ist es angemessen, die gebotene Distanz für einen Augenblick zu dispensieren.

Als Angehöriger des Jahrgangs 1946 habe ich die unmittelbare Nachkriegszeit nicht bewusst mitbekommen. Aus frühen Erzählungen weiß ich, dass es auch bei uns Zuhause Einquartierungen gab. Von einem schwarzer Ami-Soldaten war die Rede. Es war vielleicht der erste Neger, den meine Leute aus der Nähe erlebten. Er ist in guter Erinnerung geblieben. Als er abzog, nahm er von der Spielzeugeisenbahn (Spur null) meines gefallenen Onkels nur jede zweite Lok und jede zweite Schiene mit. Die andere Hälfte blieb reserviert für meinen älteren Bruder. Bei den Kindern waren die Amis bestaunt und beliebt. Sie schenkten Schokolade, und dass die sogenannte „Schulspeisung“ auf Amerikas Konto ging, war allseits bekannt.

Berlin-Blockade und Korea, die ersten brandgefährlichen Zuckungen des Kalten Krieges, gingen unbemerkt an uns Kindern vorbei. In den Märchenbüchern hieß der Böse Wolf nicht Josef Stalin, wir himmelten den Gestiefelten Kater und dann schon bald Winnetou an, kein Gedanke an die meist amerikanischen Helden der Luftbrücke, die das freie Berlin halsbrecherisch retteten. Allerdings lauschten wir den Unterhaltungen der Erwachsenen häufig wiederkehrende Wörter ab wie „Berlin“, „Rosinenbomber“ oderEisenhower“. Und mit der Zeit verdichteten sich diese Wörter im kindlichen Empfangssystem zu einem Begriff, der sagte: Die Amis, die helfen uns.

Es brauchte eine Weile, bis wir entdeckten, dass Freundschaft in der Politik nicht immer selbstlos ist und dass Hilfe nicht immer zweckfrei sein muss. So war das aufkeimende partnerschaftliche Verhältnis der (West-) Deutschen und der Amerikaner durchaus von Interessen geleitet. Den Deutschen musste man nicht erklären, wo sie Halt finden konnten in der Haltlosigkeit, die der verlorene Krieg und die furchtbaren Verbrechen hinterlassen hatte: bei den mächtigen und reichen Amerikanern, wo sonst! Und den Amerikanern ihrerseits war sonnenklar, weshalb sie den „Nazi-Guys“ unter die Arme griffen. Man brauchte sie für den Damm, der gegen die imperialistischen Sowjets gebaut werden sollte. Aber aus dem Beton der Zwecke und wechselseitigen Vorteilsnahme wuchsen auch Gefühle. Vorherrschend bei uns Deutschen war das Gefühl der Dankbarkeit.

Dankbarkeit nicht bloß für amerikanische Zigaretten, für den „American way of lifeund die „Negermusik“. Elvis war für mich ein frühes und bleibendes Idol, das durch den Dienst als GI in unserem Deutschland noch veredelt wurde. Die Dankbarkeit bezog sich außerdem auf die Demokratie. Sie war ja, bei allem Respekt für die Väter und Mütter des Grundgesetzes, importiert. Und sie funktionierte! Man lernte, stolz zu sein auf die dank Demokratie und US-Armyprosperierende Bundesrepublik und war glücklich, durch die Zugehörigkeit zur Wertegemeinschaft des Westens ein wenig von der Vergangenheitslast wegdrücken zu können.

Dieses Grundgefühl hielt an, auch wenn sich die Bedingungen änderten. IN Adenauers Augen war die Generation der Eisenhower und Dulles berechenbarer, Kennedy nahm die Jugend mit. „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst“, war eine Formel, die uns Schüler mitriss und gegen die auch verknöcherte Lehrer nichts einwenden konnten. Unvergessenes Bild: Kennedy an der Berliner Mauer. Unvergessenes Mitfiebern: Kennedy in den 13 Tagen der Kubakrise. Unvergessenes Entsetzen: Kennedys Ermordung. Die Nachricht rief mir eine Frau auf der Straße zu, als ich vom Tischtennisspielen heimkehrte. Sie weinte.

Eine schwere Prüfung der Treue zu Amerika bedeutete der Vietnamkrieg. Es war die Zeit der Unruhe  an den Universitäten. Anders als im idealisierenden Rückblick waren die Studentenproteste keine Einbahnstraße zu mehr Freiheit. Die Matadore zogen nicht nur blank gegen den „Muff von tausend Jahren. Orthodoxe oder weniger orthodoxe Marxisten, die an den Hochschulen bald den Ton angaben, waren antiamerikanisch bis in die Knochen und polemisierten gegen die USA als Vormacht des Kapitalismus und gegen den militärisch-industriellen Komplex, der die Ausbreitung des Sozialismus in der Dritten Welt behinderte.

Es gehört zu den Todsünden der studentischen Protestler, dass sie an ihrer Einäugigkeit auch dann noch festhielten, als die monströsen Verbrechen in Kambodscha und Rotchina längst vor aller Augen lagen und zahllose Vietnamesen lieber auf jämmerlichen Booten ihr Leben riskierten, als sich vom siegreichen Vietcong befreien zu lasse. Auf das Scheitern seiner Utopien reagierte das Protestmilieu keineswegs mit einem Mea culpa. Man lenkte den eingewurzelten Antiamerikanismus einfach um auf ein neues Ziel. In einem dialektischen Hochsprung sondergleichen wurden Massenproteste gegen die Nachrüstung mit amerikanischen Mittelstreckenwaffen entzündet, während die Losung „Frieden schaffen ohne Waffen“ problemlos mit der Anwesenheit sowjetischer SS-20 koexistierte.

Wer in den Jahren der Studentenbewegung der nachfolgenden Friedensbewegung die Fahne der Amerikafreundschaft hochhielt, musste sich vor dem Vorwurf des Konformismus nicht fürchten. Man war ziemlich allein. Es ließen sich die Verbrechen im Vietnam-Krieg  ja auch nicht wegdiskutieren. Immerhin blieb ein starkes Argument: Auch mitten im Krieg durfte in den USA gegen den Krieg demonstriert werden. Dies geschah reichlich und nötigte die Vereinigten Staaten erstmals in ihrer Geschichte zum Rückzug. Mochten sie eine Schlacht verloren haben, gesiegt hatte die Demokratie. Vermutlich hat sich die Fähigkeit der Demokratie, Fehlentwicklungen zu korrigierenjene Fähigkeit, die sie letztlich zur überlegenen Staatsform machtnie so stark manifestiert wie im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg.

Lässt sich noch heute auf diese Fähigkeit bauen oder muss man sie wie andere Gewissheiten aus den Büchern streichen? Sprechen wir zunächst über die Amerikaner, dann über Trump. Die Mehrheit der Amerikaner hat Trump nicht einmal ins Weiße Haus gewählt, sondern zweimal. Das ist das Problem. Nach Trumps erster Amtszeit musste jeder wissen, mit wem man es zu tun hatten. Der nächste Weckruf war der von Trump orchestrierten Sturm des Mobs auf das Capitol. Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste allen klar sein, dass Trump und seine Prätorianer für Demokratie, Rechtsstaat und so altertümliche Dinge wie Bündnistreue nur Verachtung übrighaben. Trotzdem haben die Amerikaner mit Mehrheit Trump gewählt. Für uns, die ersten Nachkriegsgeborenen, die heranwuchsen und alt geworden sind im Vertrauen auf Amerika und die demokratische Verwurzelung Amerikas, ist das ein Rätsel, ein lähmender Schmerz.

Der Scherbenhaufen, den Trump in wenigen Wochen angerichtet hat, ist riesengroß. Die USA Unterstützer der Ukraine? Das war einmal. Die immerhin mögliche Position des neutralen Friedensvermittlers hat der große Dealmaker einfach übersprungen, indem er sich Putins Forderungen zu eigen gemacht hat. Die Autokraten teilen die Welt unter sich auf. Was wird aus der NATO? Was aus der Sicherheitsgarantie für Europa? Fragezeichen über Fragezeichen. Optimisten spekulieren, besonnene Kräfte in der republikanischen Partei könnten Trump begreiflich machen, dass sich die USA bei einer Abkehr von Europa in die eigenen Finger schneiden würden. Immerhin handelt es sich bei Europa um einen Markt von 500 Millionen Menschen, nicht zu vergessen die militärischen Stützpunkte, die die USA auf dem alten Kontinent unterhalten. Wir können nicht in die Glaskugel schauen, doch sind die Chancen auf eine Bekehrung Trumps wohl nur theoretisch. Falls es noch Besonnene in der Grand oldparty gibt, dann sind sie in Deckung, aus Furcht vor den Nachstellungen eines Präsidenten, der Widerspruch rücksichtslos bestraft. An der Rampe stehen die Angepassten, die hemmungslos Prinzipienlosen, die Beifallklatscher.

Vormann der Claque ist Vizepräsident J.D. Vance. Ich kann mich gut erinnern, dass ich mir vor ein paar Jahren sein vielgelobtes BuchHilbilly-Elegygekauft habe, um die inneramerikanische Erdbewegung, die damals schon im Gange war, etwas besser zu begreifen. Kein schlechtes Buch, fand ich. Vance war damals erklärter Gegner Trumps. Heute ist er sein Speichellecker. Wer die Fernsehbilder von der Karambolage im Oval Office gesehen hat, erinnert sich, wie Vance mit hochrotem Kopf Selenskyj, den Präsidenten eines ums Überleben kämpfenden Staates, fragt: „Haben Sie heute überhaupt schon einmal Danke gesagt?“ In Vance nimmt die Anverwandlung der White-House-Crew an die Sippschaft im Kreml Gestalt an: Vance ist Trumps Medwedjew.

Was das Trump-Regime (diese begriffliche Einstufung ist verdient) anrichtet, hat neben dem sachlichen Kern auch eine Formseite. Sie offenbart den völligen Verlust des Anstands. Mit der Demütigung Selenskyjs vor laufenden Kameras machte der Trump-Anhang das Oval Office zum Dschungel-Camp. Ein Journalist, einer von denen, die noch geduldet sind, durfte Selenskyj fragen, ob er keinen Anzug besitze. Viele Amerikaner hätten „ein Problem“ damit, dass er den Ort nicht respektiere. Vermutlich hatte dieser Journalist „kein Problem“, als vor vier Jahren eine Rockerbande ins Capitol eindrang und dort alles kurz und klein schlug – Anhänger Trumps. Der Proleten-Appeal des MAGA-Programms stößt freilich nicht jeden ab. Der österreichische FPÖ-Chef Herbert Kickl hat Trump dafür gratuliert, dass er Selenskyj die Leviten gelesen habe. Kickl wäre haarscharf österreichischer Bundeskanzler geworden. Mit ihm zusammen die europäischen Putin- und Trump-Bewunderer im Range von Regierungschefs, Orban und Fico, zu dritt gewesen. Sie hätten Skat spielen können.

Die übrigen Regierungschefs haben sich unzweideutig hinter den Selenskyj gestellt. Sie stehen vor einer gewaltigen Herausforderung. Sie müssen verhindern, dass die Ukraine Russland nicht zum Fraß vorgeworfen wird. Sie müssen eine Unmenge Geld für Europas Verteidigungsfähigkeit mobilisieren. Und sie müssen endlich Europa handlungsfähig machen. Die Idee, die 1954 in der Pariser Nationalversammlung scheiterte, die europäische Verteidigungsgemeinschaft, muss wieder auf den Tisch. Wolfgang Ischinger, langjähriger Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, hat dafür den ersten Schritt benannt: Einführung von Mehrheitsentscheidungen, weil ohne eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht zu machen ist. Deutschland ist in einem Augenblick, wo es ums Ganze geht, politisch gelähmt. Wenn es Schwarz und Rot ernst ist, muss die Koalition bis Ostern stehen. Alles andere wäre ein Fehlstart und verantwortungslos.

Zum Drama gehört, dass die Europäer, trotz allem, was geschehen ist, den Draht nach Washington nicht abreißen lassen dürfen. Sie können nicht einfach „Good bye America“ sagen. Fällt die Unterstützung der USA für die Ukraine dauerhaft weg, wird Putin den Ukrainekrieg gewinnen. Genauso wird eine europäische Friedenstruppe für die Ukraine, die ganz ohne amerikanisches Backingauskommen muss, auf verlorenem Posten stehen. Das ist die Realität. Sie nötigt Selenskyj und die übrigen europäischen Staatslenker zur Schadensbegrenzung, auch wenn es schwerfällt. Aber Politik ist nun einmal ein hartes Geschäft. Ohne gelegentliche Selbstverleugnung kommt es nicht aus. Man muss zu retten versuchen, was noch zu retten ist. Das sage ich auch mir. Antiamerikanismus ist keine Option.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

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