Europa allein zu Haus

Das Engagement der USA wird nicht ewig sein: Europa muss seine Sicherheit selbst in die Hand nehmen. Warum jetzt der richtige Zeitpunkt dafür ist.

Das transatlantische Bündnis erlebt gerade eine Renaissance. Der Krieg in der Ukraine hat Washingtons Augenmerk wieder so stark auf Europa gelenkt wie zuletzt in den 1990er Jahren, als die Vereinigten Staaten die Osterweiterung der NATO betrieben und auf dem Balkan zwei Kriege führten. Die USA unterstützen die Ukraine mit massiven Waffenlieferungen, warben erfolgreich für gemeinschaftliche Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Moskau, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen, und stärken die NATO durch die Stationierung zusätzlicher Kräfte. Stabiler waren die transatlantischen Beziehungen wohl seit einer Generation nicht mehr.

© Gerd Altmann auf Pixabay.com

Doch das Engagement der Biden-Regierung wird nicht von Dauer sein. In den kommenden Monaten und Jahren werden Russland und der Krieg in der Ukraine für die USA zwar mit Sicherheit ein wichtiger Brennpunkt bleiben, und auch in ihrer Unterstützung für die Ukraine werden die USA wohl nicht nachlassen, aber auf keinen Fall wird Washington den diplomatischen Eifer, die Truppenstationierungen und die Versorgung Europas mit Ressourcen über einen längeren Zeitraum durchhalten. Die Interessenverlagerung in Richtung Asien wird weitergehen.

Die Konfliktgefahr in Asien, wo möglicherweise ein chinesischer Angriff auf Taiwan droht, kann die amerikanische Prioritätenliste auf einen Schlag von Grund auf verändern. Chinas weiterer Aufstieg wird dafür sorgen, dass die USA ihr Augenmerk wieder dem pazifischen Raum zuwenden. Washington wird wohl erkennen müssen, dass es nicht die Erfordernisse seiner Verbündeten in Europa und Asien ausbalancieren und gleichzeitig die Machtpräsenz aufrechterhalten kann, die es braucht, um Russland und China abzuschrecken. Damit sind die USA überfordert.

Doch statt eine Strategie zu entwickeln, um diesem Dilemma beizukommen – was vor dem Hintergrund, dass Europa das Thema Sicherheit neuerdings in den Fokus rückt, dass es 450 Millionen Einwohner hat und wirtschaftlich mit den USA gleichauf liegt, dringend geboten wäre –, tut die Biden-Administration so, als gäbe es dieses Dilemma nicht. Die USA haben zwar bewiesen, dass sie unverzichtbar sind, aber die günstige Gelegenheit, etwas gegen die tiefsitzenden strukturellen Probleme des europäischen Verteidigungswesens zu unternehmen, haben sie verpasst. Es wäre gut, wenn die USA mit einer geeigneten Strategie Europa dazu drängen würden, seine Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen und sich vom „Sicherheitsabhängigen“ zum Sicherheitspartner zu wandeln.

Die USA sollten die Schaffung einer europäischen Säule innerhalb der NATO-Bündnisses einfordern.

Die USA sollten die Schaffung einer europäischen Säule innerhalb der NATO-Bündnisses einfordern und sich mit voller Kraft dafür starkmachen, dass die Europäische Union eine aktivere Verteidigungsrolle übernimmt. Stattdessen droht die Gefahr, dass als Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine nicht die europäische Verteidigung transformiert und ein neues Zeitalter eingeläutet wird, sondern sich lediglich ein Status quo verfestigt, der für beide Seiten des Atlantiks unhaltbar und frustrierend ist.

Washington weiß nicht, was es von Europa will. Alle US-Präsidenten haben die Europäer aufgefordert, mehr Geld für Verteidigung auszugeben. Letztlich zielt die US-Politik jedoch gar nicht darauf ab, Europa zu drängen, auf eigenen Füßen und auf Augenhöhe mit den USA zu stehen. Auch wenn führende Politiker und Spitzenbeamte in den USA vielleicht der Meinung sind, es sei für die USA klar, dass Europa mehr für seine eigene Sicherheit tun solle – die Diplomaten und Funktionäre, die die amerikanische Europapolitik konzipieren, freuen sich über Europas Abhängigkeit und die dadurch entstehenden Einflussmöglichkeiten der USA, denn auf diese Weise kann Amerika bestimmen, wo es langgeht. Ihnen geht es darum, dass Amerika in Europa so viel Macht hat wie möglich.

Im Jahr 2000 brachte der damalige NATO-Generalsekretär Lord George Robertson diesen Zwiespalt auf den Punkt: „Die USA leiden an einer Art Schizophrenie“, erklärte er. „Auf der einen Seite sagen die Amerikaner: ‚Ihr Europäer müsst einen größeren Teil der Lasten schultern.‘ Und wenn die Europäer sagen: ‚Einverstanden, wir werden mehr Lasten übernehmen‘, sagen die Amerikaner: ‚Moment – wollt ihr damit sagen, dass wir nach Hause gehen sollen?‘“ Als fast 20 Jahre danach Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sich mit seiner Forderung nach einer „strategischen Autonomie“ der Europäer vorwagte, witterte Washington einen neuen Komplott, Europa von der NATO abzukoppeln, und blockierte mit Hilfe seines gewaltigen Einflusses in Europa alle Bemühungen, die zu einem eigenständigeren Europa führen könnten.

Es wäre nichts dagegen einzuwenden, dass Amerikas Unverzichtbarkeit bestehen bleibt, wenn denn die Aufmerksamkeit und die Ressourcen der USA unbegrenzt wären. Die USA stehen aber vor der Herausforderung, dass das Führungspersonal sich nicht um alles kümmern kann. Zeit ist ein kostbares Gut, und der Kampf um Ressourcen in Regierung und Kongress ist oft ein Nullsummenspiel. Auch die militärischen Kapazitäten der USA sind trotz eines 750-Milliarden-Dollar-Budgets nicht unbegrenzt. Entsprechend heftig ist das bürokratische Gerangel, wenn es darum geht, welcher Region oder welchem Schauplatz die obere Führungsetage ihre Aufmerksamkeit und ihre Ressourcen widmet.

Es wäre zu wünschen, dass die Europäische Union eine globale Militärmacht wird.

Es wäre zu wünschen, dass die Europäische Union eine globale Militärmacht wird. Sie gibt jedes Jahr zusammengenommen 200 Milliarden Dollar für Verteidigung aus, hat eine ähnliche Wirtschaftsleistung wie die USA, und ihre Mitglieder sind in einer politischen Union vereint. Trotzdem sind die europäischen Streitkräfte in einem beklagenswerten Zustand, obwohl die Verteidigungsausgaben seit 2014 steigen. Es reicht nicht, wenn Europa einfach mehr Geld für Verteidigung ausgibt; es muss seine Anstrengungen rationalisieren und zusammenführen.

Als Garant der europäischen Sicherheit müssen die USA bei der Transformation eine führende Rolle übernehmen und darauf insistieren, dass innerhalb der NATO eine starke europäische Säule aufgebaut wird, die in der Lage ist, den Kontinent zu verteidigen. Europa wäre bestrebt, innerhalb der NATO geschlossen zu agieren, und die Allianz würde sich darauf fokussieren, die europäischen Streitkräfte zu einer leistungsfähigen Kampftruppe zu machen – mit den USA oder ohne sie.

Der Aufbau einer solchen europäischen Säule innerhalb der NATO würde die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen an die EU erfordern. Die Union besitzt die nötigen rechtlichen und institutionellen Instrumente, um auf Regeleinhaltung und Koordination in den einzelnen Mitgliedstaaten hinzuwirken. Beides ist eine entscheidende Voraussetzung, um Europas schwerfällige Rüstungsindustrie zu rationalisieren. Die EU soll nicht die Idee einer europäischen Armee beschwören, sondern Europa in die Lage versetzen, sich selbst zu verteidigen.

Die EU kann als Hauptfinanzier der europäischen Verteidigung fungieren. Sie kann die Lücken schließen, die die Mitgliedstaaten mit ihren begrenzten Kapazitäten nicht füllen können, und sich zum Beispiel um die Beschaffung von Luft- und Raketenabwehrsystemen, von Tank- und Transportflugzeugen kümmern. Eine ähnliche Rolle übernimmt die EU bereits in der Ukraine und füllt mit 2,5 Milliarden Euro aus ihrem neuen Fonds für letale militärische Unterstützungsleistungen die Verteidigungsbudgets von Ländern auf, die Waffen in die Ukraine liefern. Im Juni gab die Europäische Kommission bekannt, dass sie mit einem 500-Millionen-Euro-Fond die Länder motivieren will, ihre neu hinzukommenden Verteidigungsausgaben miteinander abzustimmen, sich bei der Beschaffung zusammenzutun, die Interoperabilität zu verbessern und durch die Nutzung von Größenvorteilen Geld zu sparen.

Das sind wichtige Initiativen, um die europäischen Verteidigungsbemühungen integrativ und rationell zu gestalten, und die USA sollten durch entsprechenden Druck darauf hinwirken, dass die EU diese Programme dramatisch ausweitet. Die Biden-Administration bezeichnet sich selbst als europafreundlichste Regierung aller Zeiten, aber Anspruch auf diesen Titel hat sie allein aufgrund der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den USA und der EU. Verteidigungspolitisch verharrt Bidens Regierung weitgehend in der traditionell skeptischen Haltung der USA. Sie ermuntert die EU nicht aktiv zu Verteidigungsinitiativen und fordert sie auch nicht auf, sie auszuweiten.

Die USA haben nach wie vor immensen Einfluss in Europa – gerade in Verteidigungsfragen.

Als Präsident Joe Biden im März kurz nach Kriegsbeginn den Gipfel des Europäischen Rates besuchte, versäumte er eine einmalige Gelegenheit: Er hätte einen dort vorgelegten Vorschlag unterstützen können, der vorsah, dass die EU Kredite aufnehmen darf, um in Verteidigung zu investieren. Er hätte den europäischen Staats- und Regierungschefs kurzerhand sagen sollen: „Wenn die EU sich Geld für militärische Aufgaben leihen dürfte, so wie sie es für die Corona-Pandemie getan hat, könnten die USA mithelfen, ein neues Zeitalter in der europäischen Verteidigung einzuläuten.“ Die USA haben nach wie vor immensen Einfluss in Europa – gerade in Verteidigungsfragen. Wenn die EU in diesem Bereich eine prominentere Rolle spielen soll, wird sie die tatkräftige Unterstützung der USA brauchen.

Die US-Verantwortlichen müssen sich die Frage stellen, welches Ziel sie verfolgen wollen: Wollen sie, dass die USA für Europa unverzichtbar bleiben, oder wollen sie Europa zu einem unverzichtbaren Partner der USA machen? Ein Europa, das für seine eigene Sicherheit sorgen kann, wird weder zum Bruch der Allianz führen noch die NATO untergraben oder die Abkopplung von den USA befördern. Wenn Europa stärker wird, stärkt dies auch die transatlantische Bindung.

Um das nachzuvollziehen, genügt ein Blick auf die aktuelle wirtschaftspolitische Interaktion zwischen den USA und der EU. Die Notwendigkeit, mit Blick auf das aufstrebende China die wirtschaftlichen Spielregeln im Rahmen der transatlantischen Zusammenarbeit festzulegen, war Anlass für die Gründung des Handels- und Technologierates EU-USA (Trade and Technology Council, TTC). Insgesamt bedeutet dies eine dramatische Verbesserung der transatlantischen Beziehungen. Ein stärkeres Europa mit leistungsfähigen Land-,Luft- und Seestreitkräften wäre ein Segen für die USA und ihre asiatischen Partner. Es würde auch zu einer engeren Zusammenarbeit innerhalb der NATO führen, und die USA würden aufhören, Europa als etwas Selbstverständliches zu betrachten.

Wirklich in Gefahr ist das transatlantische Bündnis nur, wenn alles bleibt, wie es ist. 25 Jahre lang waren die von den USA angeführten Bemühungen, die EU nicht zu einem eigenständigen militärischen Akteur werden zu lassen, weitgehend erfolgreich. Dadurch blieb zwar die unverzichtbare Rolle der USA bestehen, aber das Ergebnis ist, dass der Zustand der europäischen Verteidigung schlechter kaum sein könnte. Und noch etwas: Es besteht eindeutig die Gefahr, dass die USA beschließen, dass sie für Europa gar nicht mehr unverzichtbar sein wollen.

Der nächste Präsident könnte ein Anti-Atlantiker wie Donald Trump oder Josh Hawley sein. Der republikanische Senator stimmte am 3. August gegen die NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands. Ebenso gut möglich ist, dass nach den nächsten Präsidentschaftswahlen Europa in seiner Bedeutung degradiert sowie Russland einmal mehr zu Unrecht als Papiertiger abgetan wird und dass die transatlantische Allianz leidet, weil ihr unverzichtbarer Partner das Interesse verliert.

Damit es dazu nicht kommt, muss Amerika sich klarmachen, dass es sich Europa als einen unverzichtbaren Partner auf Augenhöhe mit den USA wünscht. Die Umsetzung dieser Strategie und der Aufbau einer europäischen Säule innerhalb der NATO sind ein Projekt für eine ganze Generation und würden erfordern, dass die USA sich intensiv engagieren und ihre europäischen Verbündeten und Partner in eine neue Richtung drängen. Der richtige Zeitpunkt, diese Transformation einzuleiten, ist genau jetzt.

Bei dem Artikel handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung aus © Foreign Affairs.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Max Bergmann ist Senior Fellow am Centre for American Progress, wo er sich auf europäische Sicherheitspolitik und die US-Russland-Politik konzentriert. Zuvor war er unter anderem als Berater und Sonderassistent im US-Außenministerium tätig.

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