Ein Fall von German Angst?

Die Fehlschläge der deutschen Pandemiebewältigung sind offensichtlich. Doch wie schaut das Ausland auf uns? Ein Blick aus Großbritannien.

© Yildiray Yücel Kamanmaz auf Pixabay.com

John Kampfners Buch Warum Deutschland es besser macht: Ein bewundernder Blick von außen (im Original: Why the Germans Do it Better: Notes from a Grown-Up Country) erschien genau zum passenden Zeitpunkt: Soeben hatte die Welle der Bewunderung für Deutschlands Umgang mit der Corona-Pandemie ihren Höhepunkt erreicht.

Kampfner lobte, Deutschland sei „viel besser [auf Covid-19] vorbereitet als andere Länder“ und habe „mehr Testkapazitäten, mehr Lüftungsgeräte und mehr Schutzausrüstung“, pries das „stabile Netz von Biotech- und Pharmaunternehmen, die auf Notsituationen schnell reagieren können“ und die föderale Ordnung des Landes: „Es wäre durchaus denkbar gewesen, dass die aus der Nachkriegszeit stammende deutsche Verfassung während der Pandemie für Chaos sorgt. Stattdessen stellte Merkel zügig die Weichen, damit Entscheidungen gemeinsam getroffen werden konnten und das System – mit der einen oder anderen regionalen Abweichung – die Situation vortrefflich bewältigt hat“.

Andere verwiesen auf Angela Merkels Erfahrungen als Wissenschaftlerin und stellten das dezentrale Vorgehen bei der Kontaktverfolgung in Deutschland dem zentralisierten britischen Modell als bessere Alternative entgegen. Solche Einschätzungen waren nicht nur von Kommentatoren zu hören. Auch Politiker jeder Couleur und Behördenvertreter sahen Deutschland als Orientierungsgeber für Großbritannien. In der Tat wurde die neue Behörde zum Schutz der öffentlichen Gesundheit (Public Health Protection Agency) explizit nach dem Vorbild des deutschen Robert-Koch-Instituts geschaffen.

Über einige Fehlgriffe der ersten Wochen – vor allem das Ausfuhrverbot für persönliche Schutzausrüstung, das Deutschland verhängte, nachdem Frankreich zu ähnlichen Mitteln gegriffen hatte – wurde zumindest in Großbritannien hinweggesehen. Die entsetzlichen Bilder aus Bergamo bewirkten in Deutschland ohnehin ein schnelles Umdenken und ein solidarischeres Verhalten.

Politiker jeder Couleur und Behördenvertreter sahen Deutschland als Orientierungsgeber für Großbritannien.

Die führenden Politiker in Deutschland erkannten, dass eine rigorose und gefühllose Krisenreaktion den Vergleich mit der harten Gangart gegenüber Griechenland in der Eurokrise provozierte und die ohnehin schon bröckelnde Akzeptanz der EU-Mitgliedschaft in Italien und anderen Ländern Südeuropas vollends zerstören und womöglich das Totenglöckchen für die Europäische Union läuten könnte.

Oft hat das Bild, das ausländische Beobachter von Deutschland zeichnen, ebenso viel mit deren Kritik an der Politik im eigenen Land zu tun wie mit dem Untersuchungsgegenstand selbst. Als Will Hutton 1995 in seinem Buch The State We’re In voller Bewunderung von Deutschlands Sozialer Marktwirtschaft sprach, ging es dem Autor – wie er später reflektierte – darum, den „nur auf den kurzfristigen Vorteil bedachten“ britischen Kapitalismus zu hinterfragen und die „amoralische konservative Klasse in Politik, Wirtschaft und Finanzwelt“ zu kritisieren, die diese Kapitalismusvariante vertrat.

Das aktuelle Deutschlandbild im Vereinigten Königreich wird wohl eher von FC-Liverpool-Trainer Jürgen Klopp als von Armin Laschet geprägt

Auch die Autoren, die in der Tradition von Peter Halls und David Soskices Varieties of Capitalism (Spielarten des Kapitalismus) den Standpunkt vertreten, dass eine „Koordinierte Marktwirtschaft“ nach deutschem Vorbild mindestens genauso erfolgreich sein kann wie eine liberale Marktwirtschaft nach angloamerikanischem Muster, verbinden dies – wenn auch weniger zugespitzt – mit einem kritischen Blick auf ihre eigenen Länder. Kampfners Buch lässt sich ebenfalls dieser Traditionslinie zuordnen, denn es vermittelt die Wut und Betrübnis darüber, dass die britische Regierung unter Boris Johnson sich von der Welt abkoppelt, und will eine ernstzunehmende Alternative aufzeigen.

Und was bedeuten vor diesem Hintergrund die aktuellen Fehlschläge der deutschen Pandemiebewältigung? Manche rechten Euroskeptiker quittieren die Missgriffe der EU bei der Impfstoffbeschaffung mit mehr oder weniger offener Häme, auch wenn die britische Boulevardpresse sich eher über die (deutsche) EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen empörte als über die deutsche Regierung. Die Exportstoppdrohung wurde mit schrillen Worten zurückgewiesen, zumal massiv der Eindruck entstand, dass diese Drohung eher auf hausgemachte Schwächen der EU und nicht auf ein unangemessenes Verhalten Großbritanniens zurückzuführen war.

Für die Brexiteers in Großbritannien sind die Unterschiede bei den Impfprogrammen der Beweis, dass der EU-Austritt ihres Landes eine richtige Entscheidung war.

Für die Brexiteers in Großbritannien sind die Unterschiede bei den Impfprogrammen der Beweis, dass der EU-Austritt ihres Landes eine richtige Entscheidung war. Sie zeigen angeblich, welche Möglichkeiten sich für ein Land eröffnen, wenn es sich von der Brüsseler Bürokratie befreit. Die Meinungen über die EU sind in Großbritannien nach wie vor gespalten, aber die Zahl der Briten, die ihr Land gerne wieder in der EU sehen würden, ist in den vergangenen Wochen geschrumpft.

Dass die Deutschen Schwierigkeiten haben, eine koordinierte Reaktion auf die dritte Welle der Pandemie zustandezubringen, wird in der öffentlichen Diskussion weniger zur Kenntnis genommen. Die Namen der Regierungschefinnen und -chefs der deutschen Bundesländer kennt in Großbritannien so gut wie niemand, und der Begriff „Föderalismus“ wird weithin falsch verstanden – nämlich so, als ginge es ausschließlich darum, Befugnisse an die regionale Regierungsebene abzugeben, und nicht darum, dass viele Befugnisse zwischen regionaler und gesamtstaatlicher Ebene geteilt werden. Dass in Großbritannien dieses Verständnis des Begriffs „Föderalismus“ vorherrscht, liegt nicht nur daran, dass dort die USA der Hauptbezugspunkt sind, sondern auch an dem eindeutig feindseligen Verhältnis zwischen der britischen Regierung in Westminster und der schottischen Regierung in Edinburgh.

Das aktuelle Deutschlandbild der meisten Beobachter im Vereinigten Königreich wird wohl eher von FC-Liverpool-Trainer Jürgen Klopp als von Armin Laschet geprägt (wenngleich Klopps Ansehen in den vergangenen Monaten eine ähnliche Abwärtsentwicklung durchgemacht hat wie das deutsche Corona-Management). Im Großen und Ganzen haben die Briten ein positives Bild von Deutschland, und daran werden dessen aktuelle Probleme bei der Pandemiebewältigung wohl nicht viel ändern. Bemerkenswert ist übrigens auch, dass in der britischen Medienberichterstattung über den Impfstoff von BioNTech/Pfizer sehr häufig auf die türkischen Wurzeln der BioNTech-Gründer hingewiesen und den Briten damit die Vielfalt der heutigen deutschen Gesellschaft vor Augen geführt wurde.

Das aktuelle Deutschlandbild der meisten Beobachter im Vereinigten Königreich wird wohl eher von FC-Liverpool-Trainer Jürgen Klopp als von Armin Laschet geprägt.

Wer herausfinden will, wie sich die Pandemie auf das Deutschlandbild im Ausland auswirkt, sollte also einen Schritt vom Tagesgeschehen zurücktreten und wird feststellen, dass sich außerhalb der medialen Meinungsblase das Deutschlandbild der Allgemeinheit nur langsam verändert. Eine starke meinungsbildende Wirkung haben natürlich nicht nur die internationalen Kommentare über Deutschland: Einige der deutschen Stimmen, die auf die bei der Pandemiebewältigung sichtbar werdenden Schwächen der föderalen Ordnung hinweisen oder die Entscheidungen der Regierung kritisieren, sind alles andere als glühende Anhänger des Föderalismus oder der Großen Koalition.

Genauso wie Deutschlands vergleichsweise effektive Reaktion auf die erste Welle zum Teil auch glücklichen Umständen zu verdanken war (zum Beispiel der Tatsache, dass unter den Erstinfizierten viele junge und gesunde Skifahrer waren), konnten die führenden Politiker auch nicht viel dafür, dass die Ausbreitung der ansteckenderen Virusvariante B1.1.7 zeitlich mit dem Unmut der Bevölkerung über die nicht endenwollenden Lockdowns zusammenfiel. Und so wie Hans-Werner Sinns 2007 erschienenes Buch Ist Deutschland noch zu retten? von der anschließenden wirtschaftlichen Erfolgsphase Lügen gestraft wurde, werden pauschale Verallgemeinerungen über das deutsche Regierungssystem, die der aktuellen Situation geschuldet sind, sich womöglich ebenfalls als kurzlebig erweisen.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Ed Turner ist Dozent am Aston Center for Europe der Aston University in Birmingham. Er forscht zu deutscher Politik mit dem Schwerpunkt auf Föderalismus, öffentlicher Politik und Dezentralisierung.

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