Die Linke muss sich den Sorgen über Einwanderung stellen.

©www.pixabay.com

Das linke Lager steht ebenso wie die westlichen Demokratien im Allgemeinen zwei zentralen Herausforderungen gegenüber. In wirtschaftlicher Hinsicht ist es inzwischen allgemein Konsens, dass sich die Linke zu sehr in eine neoliberale Richtung bewegt hat. Sie muss jetzt ihren Kurs ändern, um die steigende Ungleichheit zu bekämpfen, die soziale Mobilität zu verbessern und den Wohlfahrtsstaat zu stärken. Bei den sozialen Themen, insbesondere bei der Einwanderung und der nationalen Identität, hat es allerdings keine vergleichbare Neubewertung gegeben. Allein der Vorschlag, eine solche sei nötig, provoziert oft heftige Reaktionen.

So haben Tony Blair, Hillary Clinton und Matteo Renzi die europäische Linke im Guardian dazu gedrängt, ihre Einstellung zur Einwanderung zu überdenken. Blair argumentierte: „Man muss die berechtigten Sorgen wahrnehmen und auf sie reagieren. Wenn man keine starke Position zur Einwanderung vertritt, kann man sich heute in Europa nicht mehr zur Wahl stellen, da sich die Menschen über dieses Thema Sorgen machen.“ Auch Clinton drängte Europa, „sich um die Migration zu kümmern, da diese den Brand entzündet hat“. Nicht alle, die in den Westen einwandern möchten, sollten dies auch tun könnten, „außer sie haben Anrecht auf Asyl, das bei uns seit Hunderten von Jahren gesetzlich verankert ist“. Auf jeden Fall müssten diejenigen, die unsere nationale Sicherheit bedrohen, abgewiesen werden. Die Migranten, die bereits hier sind, sollten die Sprache lernen, Steuern zahlen, Gesetze befolgen und sich in der Schlange hinten anstellen. Die Reaktion auf diese Aussagen kam schnell und drastisch. So laute eine Schlagzeile: „Hillary Clintons kalter Pragmatismus spielt der extremen Rechten in die Hände“.

Ein ähnlicher Sturm der Entrüstung blies über einen Artikel von Andrea Nagle hinweg, in dem sie die Einstellung der amerikanischen Linken zur Einwanderung kritisierte. Sie zeigte, dass die Linke mit dem Protestruf „Kein Mensch ist illegal“ implizit die moralische Forderung nach Abschaffung der Grenzen und souveränen Nationen unterstützt – eine Position, die allgemein mit politisch rechts stehenden Verfechtern des freien Marktes in Verbindung gebracht wird. „Aber welche Auswirkungen hätte eine ungehinderte Einwanderung auf die allgemeine öffentliche Gesundheitsversorgung, die Ausbildung oder eine staatliche Arbeitsplatzgarantie? Und wie können die Progressiven diese Ziele auf überzeugende Weise in der Öffentlichkeit präsentieren?“ Auch Nagle wurde mit Erwiderungen wie „Unter Linken darf Nationalismus keinen Platz haben“ konfrontiert.

Will die Linke die Sorgen über die Einwanderung und ihre Vereinnahmung durch die Rechte entkräften, muss sie bessere Argumente und Maßnahmen finden als bisher.

Solche Reaktionen helfen der Linken nicht. Sie hindern sie vielmehr daran, der Bedrohung von rechts zu begegnen, da sie die Sorgen der Wählerinnen und Wähler nicht berücksichtigen, sondern ignorieren. Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa ist die Einwanderung für die Wähler eines der wichtigsten Themen. In den meisten Ländern ist eine Mehrheit dafür, sie zu begrenzen. Und was noch besorgniserregender ist: Viele Bürgerinnen und Bürger sagen, Einwanderung würde ihr Land auf eine Art verändern, die sie nicht mögen. Viele linke Wählerinnen und Wähler meinen, die Position ihrer Parteien gegenüber Einwanderung unterscheide sich von ihrer eigenen. Probleme können nicht gelöst werden, wenn man sich ihnen nicht stellt. Will die Linke die Sorgen über die Einwanderung und ihre Vereinnahmung durch die Rechte entkräften, muss sie bessere Argumente und Maßnahmen finden als bisher.

Einige dieser Sorgen sind wirtschaftlicher Natur. Einwanderung, ebenso wie die Globalisierung und der technologische Wandel, ist im Ganzen betrachtet für die Gesellschaft positiv. Doch werden ihre Vorteile vor allem in kosmopolitisch-städtischen Gebieten mit hoch gebildeten Eliten wahrgenommen, während sich die Nachteile am stärksten im ländlichen Raum und in anderen Gebieten zeigen, in denen weniger gebildete und qualifizierte Arbeiterinnen und Arbeiter leben. Es gibt Hinweise darauf, dass die Menschen in niedrig qualifizierten Beschäftigungsverhältnissen den Wettbewerb mit den (ebenfalls gering qualifizierten) Neueinwanderern um wirtschaftliche Ressourcen am stärksten spüren. Dies könnte daran liegen, dass das Angebot an gering qualifizierten Arbeitnehmern durch die Einwanderung stärker gesteigert wurde als das an Hochqualifizierten und dass ordentlich bezahlte Arbeitsplätze für weniger gut ausgebildete Menschen heutzutage selten sind.

In Zeiten steigender wirtschaftlicher Risiken und sparsamer Regierungen machen sich die Bürger tendenziell auch Sorgen über die fiskalen Belastungen durch die Einwanderung. Laut Arlie Hochschild, Katherine Cramer und anderen lehnen insbesondere Arbeiter und andere Mitglieder des „Prekariats“ Neuankömmlinge ab, die sich ihrer Ansicht nach bei Sozialleistungen „vordrängeln“. Wie es in einem Bericht über die Lage in Deutschland und Frankreich ausgedrückt wurde: „So lange die Menschen Angst vor ihrer Zukunft haben, werden sie auch skeptisch sein, Fremden zu helfen.“ Entsprechend geben Wählerinnen und Wähler oft „überforderte öffentliche Dienste“ oder finanzielle Aspekte als Gründe dafür an, dass sie Einwanderung ablehnen.

Es ist nicht das Gleiche, populistische Parteien abzulehnen oder schlicht die Sorgen zu ignorieren, von denen sie leben.

Neben wirtschaftlichen Sorgen muss die Linke auch Ängsten über die Assimilierung und die Bedrohung der nationalen Identität ins Auge sehen. In den letzten Jahren sind Einwanderer aus sehr unterschiedlichen Kulturen gekommen und dies in nie dagewesener Anzahl. Sogar in den USA, die eine lange Einwanderungsgeschichte haben, kam es zu Rückschlägen, als die Einwanderung das heutige Niveau erreichte. Auch wenn viele Mitglieder der linken Elite die Nation als ein rückständiges oder gar gefährliches Konstrukt betrachten, sind die meisten Bürgerinnen und Bürger anderer Meinung. Die Europäer sind weiterhin stolz auf ihre nationalen Identitäten und glauben, „für das Wohl unseres Landes ist es erforderlich, dass sich Einwanderer an die Sitten und Traditionen dieses Landes anpassen“. Laut Wissenschaftlern sind Sorgen und Ängste über die sozialen und kulturellen Folgen der Einwanderung ein entscheidender Einflussfaktor auf die Einstellung gegenüber der Einwanderung – vielleicht sogar der größte.

Berücksichtigt man diese Sorgen, bedeutet dies nicht automatisch, dass man damit die Fremdenfeindlichkeit oder den Rassismus der populistischen Rechten übernimmt oder „normalisiert“. Es ist nicht das Gleiche, populistische Parteien abzulehnen oder schlicht die Sorgen zu ignorieren, von denen sie leben. Es ist die Aufgabe der linken Parteien und der Demokratie im Allgemeinen, Erklärungen und Lösungen für gesellschaftliche Probleme und Unzufriedenheit anzubieten. In der Vergangenheit hat die Tendenz, die Sorgen über die Einwanderung und die nationale Identität zu ignorieren oder herunterzuspielen, nicht dazu beigetragen, das Wachstum des Populismus zu stoppen. Vielmehr könnte diese Entwicklung den Aufstieg der Rechten sogar noch beschleunigt haben, weil die Populisten diese Themen so noch stärker ausbeuten konnten.

Glücklicherweise entwickelt sich gerade ein „Rückschlag gegen den Rückschlag“ und so bekommen diese Themen immer mehr Beachtung. Neben Blair, Clinton, Renzi und Nagle haben auch John Judis, Francis Fukuyama, William Galston, Michael Bröning und andere Autorinnen und Autoren kluge Bücher und Artikel über Einwanderung und die nationale Identität geschrieben. Die Linke darf solche Ideen und Handlungsvorschläge – und die Sorgen und Ängste ihrer Wählerinnen, Wähler und der anderen Bürger – nicht ignorieren. Sie muss sich mit ihnen beschäftigen. Ein entscheidendes Merkmal populistischer Wähler ist die Überzeugung, Politiker, Parteien und Regierungen würden sich nicht um sie kümmern. Um diese Überzeugung im Allgemeinen und die Ängste vor Einwanderung sowie vor der Bedrohung der nationalen Identitäten im Besonderen zu entkräften, muss die Linke unverkennbare, positive und praktikable Antworten auf die Einwanderung finden. Nur so kann sie den dystopischen Konzepten der Rechten etwas entgegensetzen. Tut sie dies nicht, überlässt die den Rechten die Definition und die Ausrichtung der Debatte.

Diejenigen, die immer noch skeptisch sind, sollten sich an die eigene Geschichte der Linken erinnern. Vor etwa einem Jahrhundert, kurz vor dem Ersten Weltkrieg und der schlimmsten Periode der europäischen Geschichte, wurde die internationale sozialistische Bewegung zerstört und viele ihrer Parteien auf tragische Weise durch den Nationalismus gespalten. Zwar befinden wir uns momentan nicht an einem derart kritischen Wendepunkt. Damit wir uns nicht in diese Richtung bewegen, muss die Linke aber die Sorgen und Ängste der heutigen Gesellschaften erkennen und auf sie reagieren.

Sheri Berman ist Professorin für Politikwissenschaft am Barnard College der Columbia University. Ihre Forschungsinteressen umfassen europäische Geschichte und Politik; die Entwicklung der Demokratie; Populismus und Faschismus; und die Geschichte der Linken.

- ANZEIGE -