Von Michael Stallkamp

Die Red Bull Arena in Leipzig ©RB-Leipzig

Vor dem montäglichen Abendspiel in Leipzig habe ich viel Zeit, die Stadt zu erkunden. Dabei wird mir überdeutlich, Leipzig ist nicht nur eine Bücherstadt sondern auch eine Stadt der Bratwurst. In der Innenstadt sehe ich buchstäblich an jeder Ecke einen umlagerten Verkaufsstand. Touristen und Einheimische sind die Kunden. Schon die Kleinsten werden, kaum dass sie des Kauens mächtig sind, mit Wurst im Kinderwagen gefüttert. Voller freudiger Erwartung fahre ich ins Stadion, in die Red Bull Arena.

Von der Straßenbahnhaltestelle der Arena gehe ich über die große Leipziger Festwiese auf eine klassizistisch anmutende sehr breite Treppe zu, steige ca. 80 Stufen empor und stehe vor dem historischem Glockenturm (Werner-Seelenbinder-Turm) des ehemals 100.000 Zuschauer fassenden Leipziger Zentralstadions. Die Sportstätte war nach dem Krieg auf und mit den Trümmern der stark zerstörten Stadt errichtet worden. Dahinter zeichnet sich die Dachkonstruktion des bereits hell erleuchteten neuen Stadions ab.

Die heutige Red Bull Arena wurde 2004 innerhalb des alten Stadionwalls angelegt. Glockenturm und Haupttribühnengebäude blieben in ihrer 50er Jahre Architektur erhalten. Sie wirken einschüchternd martialisch und bilden einen auffallenden architektonischer Gegensatz zum leicht und schwungvollen modernen Bauwerk. Das neue Stadion steht also auf dem ehemaligen Spielfeld, umgeben von dem riesigen begrünten alten Stadionwall. Diese Gestaltungsidee ist außergewöhnlich, hat allerdings für uns Besucher ihren Preis. Weitere 200 sehr steile Stufen müssen erklommen werden, bis der Wall besiegt ist. Das schaffen viele jüngere und ältere Fußballanhänger nur unter deutlich hörbarem Keuchen und mit mehreren Pausen. Dann endlich ist der Aufstieg geschafft, und ich befinde mich fast auf der Höhe des Stadiondaches. Jetzt genieße ich einen grandiosen Blick in das beeindruckende moderne Oval. Doch, was ist das? Mit Schrecken stelle ich fest, dass die Zugänge zu den Unter- und Oberrängen der Gegentribüne alle von einem sich in mittlerer Stadionhöhe befindenden Umlauf abzweigen. Dieser Umlauf ist zwar über mehrere Brücken erreichbar, aber erst nachdem ich zuvor wieder 100 Stufen hinabgestiegen bin. Fußball in Leipzig ist wahrlich nichts für Fußkranke.

Will uns hier der Hauptsponsor und Namensgeber der Arena nachhaltig sein Getränk andienen, das doch Flügel verleihen soll? Oder schimmert da das bekannte Faible des Sponsors für Extremsportarten durch? Das Treppensteigen hat meinen Hunger auf Bratwurst eindeutig gesteigert. Ich bin froh, dass der erreichte Umlauf auch die Heimstatt von Bratwurst- und Getränkeständen ist. Glücklicherweise kann ich hier bar oder mit meiner Kreditkarte bezahlen und muss nicht anstehen, um erst noch eine Arenakarte zum bargeldlosen Bezahlen zu kaufen. Endlich beiße ich in die erste Wurst und – bin begeistert. Die lange dünne Stange ist markant gewürzt, ohne salzig und fettig zu schmecken. Sie ist stark gebraten, aber immer noch saftig im Biss. Die angenehmen Röstaromen harmonieren auf das Trefflichste mit dem krossen geschmacksstarken Brötchen.

©pixabay.de

Ungläubig kaufe ich an einem anderen Verkaufsstand eine weitere Bratwurst. Auch diese schmeckt so gut wie die erste. Was für eine Wohltat nach den schlechten Würsten der letzten Wochen. Ich misstraue meinen Geschmacksnerven immer noch ein wenig und kaufe eine dritte Wurst. Wieder werden meine positiven Eindrücke bestätigt. Die sehr nette Wurstverkäuferin erzählt mir stolz, dass ich eine heimische Wurst aus Delitzsch lobe.

Beschwingt mache ich mich auf den Weg, um weitere 60 Stufen zu meinem Sitzplatz empor zu steigen. In diesem Moment verdränge ich erfolgreich, dass ich sämtlichen bezwungenen Stufen auf dem Rückweg ja noch einmal begegnen werde.

Ich sitze inmitten Fußballbegeisterter verschiedenster Altersstufen, die sich auf ihren Stammplätzen freuen, alte Bekannte wieder zu treffen. Leider verstehe ich aufgrund ihres doch sehr ausgeprägten Dialektes wenig von den lebhaften Gesprächen. Sie merken schnell, dass ich ein Zugereister bin, finden die Idee meiner Bratwurstliga genial und kommunizieren fortan mit mir im allerfeinsten Hochdeutsch.

Gemeinsam erleben wir schon vor dem Anpfiff eine große Show. In Leipzig wird geklotzt und nicht gekleckert. Mit dröhnender Rockmusik werden die Mannschaften zum Aufwärmen begrüßt. Dass gleich fünf Assistenztrainer das Aufwärmprogramm der Heimmannschaft betreuen, habe ich noch nirgendwo erlebt. Bald taucht der perfekt durchgestylte Stadionsprecher auf. In seinem roten Sakko, weißem Hemd, seiner roten Krawatte, der schwarzen Hose und den roten Schuhen sowie aktueller Frisur repräsentiert er hervorragend die Leipziger Roten Bullen. Er hat das Talent, sofort Kontakt zu den Zuschauern herzustellen und bietet zunächst eine Rückschau auf die vergangenen erfolgreichen Spiele an. Gebärdendolmetscher kommentieren das Geschehen auf den Videowänden.

Ich bin völlig erstaunt, dass dann die Hymne der Hoffenheimer Gäste gespielt wird. Buhlt hier jemand um die Fairplay-Medaille des DFB? Zur Erinnerung: Der Mainzer Stadionsprecher hat diesen Preis 2012 dafür bekommen, dass er den Gästefans erlaubt, die eigene Mannschaftsaufstellung im Chor den Gastgebern lauthals entgegenzuschmettern. Es passt zur großartigen Leipziger Selbstdarstellung, dass dies hier im Stall der Roten Bullen noch gesteigert wird. Dann folgt die heimische Hymne, schwungvoll und rockig. Die Zeile „Wir sind gekommen, um zu bleiben“ interpretiere ich als selbstironischen Bezug zum immer noch von vielen misstrauisch beäugtem Engagement des übermächtig erscheinendem Sponsors Red Bull.

Die Hymne wird mit größter Intensität vom ganzen Stadion gesungen, auch die Haupttribüne macht mit, selbst beim energischen schwungvollen Wedeln mit den Vereinsschals. Das ist begeisternd und steht den Ritualen in Köln und Dortmund keineswegs nach. Auch als neutraler Zuschauer habe ich Gänsehaut, und das liegt nicht an den rapide sinkenden Außentemperaturen. Die außergewöhnliche Begeisterungsfähigkeit des Publikums wird auch während des Spiels immer wieder unter Beweis gestellt. Mit enthusiastischem rhythmischen Klatschen verstärken die heimischen Zuschauer immer wieder die Gesänge der Fankurve.

Das Spiel ist von den ausgeklügelten taktischen Matchplänen der Trainer geprägt und endet schließlich mit einem 1:1. Die Heimmannschaft wird trotz des Unentschiedens von den Zuschauern gefeiert. Zufrieden mit dem bisher Erlebten mache ich mich auf in den erneuten Kampf gegen die Stufen. Kurz überlege ich, ob ich mich dafür mit Sekt, Weiß-, Rotwein oder Bier motivieren soll. Auch Glühwein wäre noch im Angebot. Aber bevor ich mich entschieden habe, werde ich sanft von den zufriedenen Zuschauergruppen Richtung der ersten Treppe geschoben.

In der Straßenbahn Richtung Innenstadt finde ich dankbare Gesprächspartner, die fast dialektfrei, mit mir das Erlebte analysieren. Die Leipziger sind einfach froh, erstklassigen Bundesligafußball erleben zu dürfen. Sie honorieren, dass nach der durchaus erfolgreichen Fußballvergangenheit in der sozialistischen DDR nun ein neuer heimischer Verein bis zur Champions League durchmarschiert ist. Dabei stört sie überhaupt nicht, dass diese Entwicklung einem durch und durch kapitalistischem Marketingprojekt des Red Bull Konzerns geschuldet ist.

Die Leipziger Stadionwurst springt auf einen vorläufigen dritten Platz hinter München und Leverkusen, aber knapp vor Mainz.

Wird fortgesetzt.

- ANZEIGE -