Rezension von Dr. Aide Rehbaum

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Susanne Abel: Stay away from Gretchen-Eine unmögliche Liebe

Susanne Abel © Hanna Witte Photography

Die Regisseurin etlicher Dokumentationen fürs Fernsehen hat einen sorgfältig recherchierten Roman vorgelegt. Ihr Aufhänger war ein altes Ehepaar, das 2015 mit Tränen in den Augen Spenden in einem Flüchtlingsheim ablieferte mit der Begründung, sie wüssten als ehemalige Ostpreußenflüchtlinge ganz genau, wie sich die Migranten fühlten. Daraufhin stürzte sich Abel auf die Flüchtlingswelle der Nachkriegszeit, hat Zeitzeugen befragt, Tagebücher ausgewertet, zitiert eindrucksvoll mit Quellenangaben zeitgenössische Politikeraussagen, Zeitungen, Radiosendungen und Slogans. Den Nachgeborenen gewährt der Text ein Schlaglicht auf eine Zeit, in der sowohl die Flüchtlinge als auch die Ansässigen mit mehr oder weniger Geschick ums Überleben kämpften.

Die Rahmenhandlung zieht schnell ins Thema hinein. Tom Monderath, ein bekannter, von sich und seiner Wichtigkeit überzeugter Nachrichtensprecher, wird von der Tatsache ausgebremst, dass seine vierundachtzigjährige Mutter dement wird und er sich auf einmal um sie statt um Weltpolitik und Einschaltquoten kümmern muss. Der Beginn dieser Krankheit wird authentisch in einer Aneinanderreihung lockerer Szenen geschildert. Auf den ersten Blick scheinen ihre Bemerkungen lustig, auf den zweiten machen sie ihn stutzig.

Zumal er in Abwesenheit seiner Mutter in ihrer Wohnung Kisten aus seinem ehemaligen Kinderzimmer entleert und dabei auf Fotos und Briefe stößt, die ihm Rätsel aufgeben. Seine Mutter hat Geheimnisse. Alte Geheimnisse. Die Autorin verarbeitet hier die Situation mit ihrer eigenen Mutter, die erst durch Alzheimer von ihrer Vergangenheit überwältigt wurde. Bekannte Tatsache ist aber auch, dass von den Eltern verschwiegene Traumata die Kindergeneration belasten.

In diesem Fall zieht der Journalist Tom mit Hilfe seiner Kollegin Jenny, die speziell mit Recherchen auf zwei Kontinenten Erfahrung hat, alle Register für die Aufklärung der Familiengeschichte, die den wesentlichen Teil der Spannungskurve ausmachen. Stück für Stück wird Tom erklärlich, warum seine Mutter so wenig Empathie und Energie für ihn hatte und mehrfach in der Psychiatrie behandelt werden musste. Sein Verständnis für sie wächst, doch die neue Nähe wird durch die Krankheit relativiert.

In einem kompakten Rückblick wird der Leser in das Heidelberg der Nachkriegszeit versetzt, wohin es die aus Ostpreußen Geflüchteten verschlagen hat. Man erlebt die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen allgemein, den Zusammenbruch der anerzogenen Werte, aber auch die Einstellungen gegenüber der Besatzungsmacht. Das Drama spitzt sich zu, als drei Menschen zum Spielball von deutschen Behörden, Familie und strukturellem Rassismus in der amerikanischen Armee werden und man sie um ihr Lebensglück betrügt.

Abgesehen von dem vielleicht etwas zu modernen Stil für Dialoge der 40er Jahre, berührt der Stoff besonders jene Leser, die entweder Betroffene damaliger „Willkommenskultur“ waren, mit Zeitzeugen zu tun haben oder mit ähnlichen Erfahrungen konfrontiert sind.

 

 

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

EUR 20,00 € [DE], EUR 20,60 € [A]
dtv Allgemeine Belletristik
Originalausgabe, 528 Seiten, ISBN 978-3-423-28259-8
18. März 2021

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