Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Peter Wensierski: JENA PARADIES. Die letzte Reise des Matthias Domaschk

Der Journalist hat akribisch neben der Auswertung von Stasi-Akten und Kirchenunterlagen Zeitzeugen befragt, beteiligte MfS-Mitarbeiter aufgesucht, Freunde des Toten aufgetrieben. Aus den Erkenntnissen entstand eine genaue Abfolge, ergänzt und kursiv hervorgehoben durch belegbare Gedanken der Ermittler, Zitate aus Briefen und Tagebüchern und Erinnerungen an Reisen, Verhöre, Überwachungsprotokollen von Matthias Domaschk, die seine Bekannten bestätigten.

Die Handlung ist schnell erzählt: Ein paar junge Leute aus Jena fahren mit dem Zug nach Berlin zu einer Geburtstagsfeier. Weil sie vorher schon politisch auffällig waren, befürchtet jedoch die Staatssicherheit, sie könnten den anstehenden Parteitag stören. Die Polizei holt sie aus dem Zug und verhört sie mehr als 48 Stunden lang. Der Tod von Matthias wird für die Staatsmacht zum peinlichen Zwischenfall, der vertuscht werden muss. Ähnlichkeiten mit dem Naziterror und dem Stalinismus sind nicht zufällig. Hier wie da funktionierte das System durch ein unglaubliches Netzwerk von Denunzianten und Zuträgern. Vom Kindergarten bis zum Chef im Betrieb: Volkspolizei, Hausbuchführer, Transportpolizisten, freiwillige Helfer der Deutschen Volkspolizei, Angestellte in den Rathäusern und in Restaurants, Sicherheitsbeauftragte oder das Führungspersonal in Betrieben. Jedes Rädchen im Getriebe erfuhr nur das Minimum an Gründen für Anordnungen.

Leser*innen fragen sich, was aus den Hunderttausenden an Nachbarn, Kollegen oder gar Verwandten nach der Wende geworden ist, die die Ein-Parteien-Macht unterstützten? Sind die identisch mit denjenigen, die enttäuscht von der Politik sind, weil sie Verantwortung für sich selbst übernehmen sollen und es nicht auf die Reihe kriegen? Oder sind es die, die allergisch auf alles reagieren, was von oben kommt? In der DDR verleugnete man den Balken im eigenen Auge, Nazis waren nur im Westen. Wie simpel, der gewohnten Praxis einfach ein anderes Mäntelchen umzuhängen und die Parolen auszutauschen. In der Generation Domaschk häuften sich Menschen, die nicht länger willens waren, des Kaisers neue Kleider unkommentiert zu lassen und nach Alternativen suchten statt sich in private Nischen zu verkriechen.

Eltern wurden gezwungen, sich von ihren Kindern zu distanzieren, man bestrafte sie mit Karriereeinbrüchen und entzog ihnen Vergünstigungen. Ein empfehlenswertes Buch für jeden, der das im Detail noch nicht wusste. Es entsteht das bedrückende Bild einer Diktatur, die Angst hatte selbst vor leeren Plakaten, weder Humor noch Ironie vertrug und schon gar nicht Kritik. Ohne Bewertung schildert der Autor sachlich, was verdeckte oder offensichtliche Beschattung mit den jungen Leute machte, die die ständige Indoktrination, die hohlen Lippenbekenntnisse, erzwungene Selbstkritik, die öffentliche Phrasendrescherei ankotzte.

 

Verlag: Ch. Links Verlag
Veröffentlichung: 14.03.2023
ISBN: 978-3-96289-186-2
Format: Hardcover mit Schutzumschlag und Abbildungen
Anzahl Seiten: 368
Sprache: Deutsch
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