Politik: Anker in der Wüste

Im krisengebeutelten Sahel mausert sich Marokko derzeit zum wichtigsten Sicherheitspartner. Somit wird das Königreich auch für Europa immer wichtiger.

Marokko will die Raketen in seinen F-16-Kampfjets einsetzen.

In der krisengebeutelten arabischen Welt ist das nordwestafrikanische Königreich Marokko ein Hort der Stabilität und Verlässlichkeit. So präsentiert sich das Land zumindest gerne selbst. Abgesehen von einem Dauerstreit mit dem Nachbarn Algerien hält man sich aus großen Konflikten gerne heraus. Im Schatten des Nachbarn mausert sich Marokko derzeit jedoch zum Sicherheitspartner Nr. 1 im Sahel.

In Westafrika sichert sich Rabat seit geraumer Zeit mit viel strategischer Geduld verstärkten religiösen Einfluss durch die Ausbildung von Imamen und durch die Förderung eines gemäßigten Islams. Hinzu kamen Sicherheitsabkommen und militärische Zusammenarbeit, alles begleitet von einer Wirtschaftsdiplomatie, die mit zahlreichen nationalen Direktinvestitionen in der südlichen Nachbarschaft einherging. Gerade weil die Region durch Dschihadismus, Menschen-, Drogen- und Waffenhandel und vor allem durch die Militärcoups in Mali, Burkina Faso und Niger unter Spannung steht, führt für die Entwicklung des Sahel kein Weg an Marokko vorbei. Vier geopolitische Faktoren begünstigen dabei den wachsenden Einfluss des Königreichs.

Erstens hinterließ der Abzug der französischen Truppen aus Mali, Burkina Faso und Niger, beschleunigt durch starke antifranzösische Bürgerbewegungen, ein Sicherheitsvakuum im Sahel. Marokko wiederum hat Expertise in der Terrorismusbekämpfung, ein starkes Militär und renommierte Militärakademien, die auch vermehrt Militärs aus Subsahara-Afrika ausbilden. Der wachsende militärische Einfluss Marokkos im Sahel bekommt dadurch eine fast schon post-koloniale Note im Kontrast zur ehemaligen Kolonialmacht aus Europa.

Zweitens suchen die neuen Militärregime in Mali, Burkina Faso und Niger regional nach verlässlichen Partnern, um ihre Position zu stärken. Der marokkanische Botschafter in Mali, Hassan Naciri, war der erste Diplomat, der direkt nach dem Coup von 2021 Kontakt zu den neuen Machthabern aufnahm. Eine der ersten Auslandsreisen des neuen nigrischen Premierministers wiederum führte ihn nach Rabat, begleitet von zahlreichen Militärs, die marokkanische Militärakademien durchlaufen haben. Während die Welt mit Sorge auf die neuen Machthaber blickte, wurden sie in Marokko mit offenen Armen empfangen.

Drittens trieben die wirtschaftlichen und politischen Sanktionen der ECOWAS gegen Mali, Burkina Faso und Niger die Länder in die wirtschaftspolitische Isolation. Als Reaktion auf die Sanktionen beschlossen die Übergangsregierungen, sich aus der ECOWAS zurückzuziehen. Marokko, dessen Antrag auf ECOWAS-Mitgliedschaft seit 2017 auf Eis liegt, nutzte das Momentum mit der Initiative „Zugang zur Atlantikküste“. Den Ländern soll die marokkanische Straßen-, Hafen- und Eisenbahninfrastruktur zur Verfügung gestellt werden.

Die drei Sahel-Länder haben sich erst kürzlich zu einem neuen Sicherheitsbündnis, der „Allianz der Sahel-Staaten“, zusammengeschlossen. Eigentlich geht es um die Stärkung der regionalen militärischen und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit; die Allianz hat jedoch auch ambitionierte Zukunftspläne. Nichts weniger als die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion zwischen den Ländern ist vorgesehen. In den Augen Marokkos könnte der Hafen von Dakhla als Industriezone Nukleus eines neuen regionalen Wirtschaftszentrums werden, das für Westafrika als Tor zur Welt fungiert. Damit würde Marokko seine Herrschaftsansprüche über die Westsahara weiter zementieren und Tatsachen schaffen. Es wäre ein Coup der etablierten Süd-Süd-Strategie.

So herrschte in Rabat lange die Angst vor, russische Wagner-Aktivitäten könnten sich in der Region ausbreiten.

Viertens zog sich Mali im Januar 2024 aus dem Abkommen von Algier zurück, das 2015 zwischen der malischen Regierung und den Azawad-Rebellen unter Vermittlung Algeriens unterzeichnet wurde, um den Krieg in Mali von 2012 zu beenden. Hintergrund sind Vorwürfe gegen Algerien, separatistische Bewegungen in der Sahelzone zu unterstützen und sich in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen. Ob nun zutreffend oder nicht, für Marokko ist das Zerwürfnis ein gefundenes Fressen und ein Grund mehr, die Charmeoffensive in der Region zu verstärken.

Obwohl Marokko nie Mitglied der G5-Sahel war, eines 2014 von Mauretanien, Mali, Niger, Burkina Faso und Tschad gegründeten regionalen Entwicklungsverbunds, hatte es mit Sicherheits- und Militärabkommen doch die Rolle eines privilegierten Partners inne. Gemeinsamer Kampf gegen Terrorismus, gemeinsame Ausbildung von Militäroffizieren und gemeinsame Militärübungen sind also kein Neuland in den Beziehungen. Davon profitiert das Königreich nun auch nach der absehbaren Auflösung der G5-Sahel als Reaktion auf die Austritte von Mali 2022 sowie Niger und Burkina Faso 2023.

Mit Mali bestehen seit Jahren zahlreiche Abkommen, die hauptsächlich die Ausbildung malischer Offiziere und Unteroffiziere, den Austausch von Geheimdienstinformationen und die Lieferung von militärischer Ausrüstung betreffen. Auch mit Burkina Faso verbindet das Land eine enge Militärkooperation. Sowohl der derzeitige Präsident des Landes, Ibrahim Traoré, als auch Generalleutnant Sidiki Daniel Traoré, militärischer Berater des Stabschefs des Verteidigungsministeriums von Burkina Faso und bis 2023 Kommandeur der UNMUSCA-Truppe, haben eine militärische Ausbildung in Marokko erhalten.

Wie wichtig gerade die regionalen Geheimdienstkooperationen Marokkos im Sahel für Deutschland sein können, hat nicht zuletzt die Freilassung des lange entführten deutschen EZ-Mitarbeiters  Jörg Lange in Mali bewiesen. Das täuscht natürlich nicht darüber hinweg, dass sich der marokkanische Altruismus mit einer ordentlichen Portion Eigeninteresse in der bisweilen handgreiflichen Auseinandersetzung mit Algerien vermischt. Die langfristigen Ziele Rabats mögen andere sein, aber das heißt nicht, dass es da nicht Gemeinsamkeiten mit den Europäern gäbe. So herrschte in Rabat lange die Angst vor, russische Wagner-Aktivitäten könnten sich in der Region ausbreiten. Was das betrifft, ist Marokko klar im westlichen Lager verortet, verfügt aber gleichzeitig über privilegiertere Zugänge zu den neuen Machthabern vor Ort und hat über seinen Sicherheitsapparat einen reellen Einfluss.

Bislang ist das nordafrikanische Königreich für Europa hauptsächlich als Energiepartner und Migrationsbremser im Fokus. Während die EU-Länder gegenüber Marokko in diesen Fragen jedoch fast als Bittsteller erscheinen, wäre eine europäische Unterstützung Marokkos bei der Konstruktion dieser südlichen Sicherheitspartnerschaft im Sahel etwas, das dem gegenübergestellt werden könnte. Das könnte zum einen ein konkreter Beitrag zur Zeitenwende südlich des Mittelmeeres sein. Zum anderen könnte das eine Versicherung gegenüber einer kritischen Abhängigkeit von Marokko zum Beispiel in Migrationsfragen sein, bei denen die Toleranzbereitschaft europäischer Gesellschaften aktuell zu schrumpfen scheint.

Manuel Gath ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Marokko. Zuvor war er für das Themengebiet Europäische Integration im Referat Internationale Politikanalyse zuständig.

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