Andrew Silke über die Psychologie der Gewöhnung und eine überraschende Lehre aus Nordirland.

Nizza, Paris, Brüssel, Orlando, Bagdad, Beirut, Bangladesch… Terroranschläge nehmen kein Ende. Kann man sich trotz allem irgendwann an die Gewalt gewöhnen?

Nizza
Terror zum Feuerwerk in Nizza: Der LKW des Attentäters

Kurz gesagt: Ja. Die Gesellschaften auf der ganzen Welt erweisen sich als erstaunlich widerstandsfähig, wenn sie sich mit wiederholten terroristischen Angriffen konfrontiert sehen. Man geht davon aus, dass die psychologischen Auswirkungen der weiter eskalierenden Gewalt verheerend sind; stattdessen scheinen sich die Gemeinschaften tatsächlich anzupassen. Häufige Anschläge führen zu etwas, was Psychologen als Gewöhnung (Habituation) bezeichnen.

Wie wirken sich häufige Terrorakte in psychologischer Hinsicht auf die betroffenen Gesellschaften aus?

Hierbei muss unterschieden werden zwischen den Menschen, die unmittelbar von einem terroristischen Anschlag betroffen sind, und denjenigen, die zwar Teil der gleichen Gesellschaft sind, aber nicht direkt von der Gewalt betroffen sind. Terrorakte können sich in psychologischer Hinsicht enorm auf direkte Opfer auswirken. Wenn man bei einem Angriff körperliche Verletzungen erleidet, erleidet man gleichzeitig auch ein schweres psychologisches Trauma. Je schwerer man verletzt ist, umso schwerer ist auch das Trauma. Opfer leiden unter einer Vielzahl schwerwiegender Angststörungen, Depressionen und verschiedenen anderen negativen psychologischen Folgen.

Betrachtet man jedoch Menschen, die keine direkten Opfer sind und sich nicht in deren Umfeld befinden, werden diese negativen psychologischen Folgen schwächer. Das trifft sogar in Regionen zu, in denen ein ungewöhnlich hohes Niveau terroristischer Gewalt herrscht.

Ein Beispiel: In der westlichen Welt haben nur wenige Regionen Terrorismus in dem Ausmaß erlebt, wie er in Nordirland im Zeitraum zwischen 1970 und den späten 1990er Jahren auftrat. Man fürchtete, dass die Gewalt Nordirland in psychologischer Hinsicht regelrecht verkrüppeln würde. Viele Jahre lang ereigneten sich fast stündlich Terroranschläge. Der befürchtete psychologische Kollaps der Bevölkerung trat jedoch nie ein. Selbst auf dem Höhepunkt der Unruhen in Nordirland bewiesen die Nordiren ein erstaunliches Maß an Widerstandsfähigkeit gegenüber der Gewalt.

Warum war das so?

Ein Grund dafür war die schiere Menge an terroristischen Anschlägen, die sich ereigneten. Die Angriffe erfolgten so regelmäßig, dass sie ein Teil des normalen Lebens wurden. Menschen gewöhnten sich an die Gewalt. Die Gewalt überraschte nicht mehr, war nicht mehr schockierend oder unerwartet.

Man fürchtete, dass die Gewalt Nordirland in psychologischer Hinsicht regelrecht verkrüppeln würde. Viele Jahre lang ereigneten sich fast stündlich Terroranschläge. Der befürchtete psychologische Kollaps der Bevölkerung trat jedoch nie ein

Darüber hinaus schlossen sich die Gemeinschaften aufgrund der regelmäßigen Anschläge enger zusammen. Angesichts einer gemeinsamen Gefahr identifizierten sich Einzelpersonen stärker mit der Gemeinschaft um sie herum.

Kann der Terror Gesellschaften also niemals im tiefsten Inneren erschüttern?

Psychologisch gesehen wirken sich diese Angriffe am stärksten in Gesellschaften aus, die normalerweise friedlich sind und in denen Terrorangriffe selten geschehen. Wenn sich in einer solchen Gesellschaft ein besonders blutiger Terrorakt ereignet, erleidet die Gesellschaft einen Schock. Wenn sich ein gleichermaßen blutiger Angriff in einem Land ereignet, in dem regelmäßige Terroranschläge an der Tagesordnung sind, wirkt sich das wesentlich weniger aus.

Wir sollten jedoch die allgemeinen Auswirkungen nicht überbewerten. Selbst nach einer Katastrophe wie den Anschlägen vom 11. September erholte sich die amerikanische Gesellschaft insgesamt rasch. In den Tagen direkt nach den Anschlägen zeigten sich häufige Stressreaktionen und das Angstniveau war hoch; diese Symptome hielten jedoch nicht an, und bei den meisten Menschen normalisierten sie sich auf Niveaus wie vor den Anschlägen. Man kann sagen, dass die Angstzustände von intensiver Berichterstattung in den Medien verstärkt werden, aber auch dieser Effekt nimmt mit der Zeit wieder ab.

Das klingt fast nach Angebot und Nachfrage. Kann man im Hinblick auf die Auswirkungen von Terrorismus von Inflation sprechen? Sprich, verringern häufig auftretende Terrorangriffe den Schock und damit die Wirksamkeit von Terrorismus?

In einem Land, in dem sich Terroranschläge wöchentlich oder sogar täglich ereignen, reduzieren sich die psychologischen Auswirkungen eines Anschlags für die nicht direkt Betroffenen. Terroristische Angriffe werden zu einem akzeptierten Normalzustand des täglichen Lebens. Dieser Akzeptanzmechanismus ist der gleiche wie bei Autounfällen oder alltäglichen Gewaltverbrechen. Natürlich ist es schrecklich, wenn es Ihnen oder Ihren Angehörigen oder Freunden passiert, aber es ist eines der Risiken im Leben, die man akzeptiert.

Die Medienberichterstattung kann sich hierbei jedoch destabilisierend auswirken. Starke mediale Aufmerksamkeit fördert den weitverbreiteten Glauben, dass Terrorangriffe sowohl häufiger als auch gefährlicher sind, als es tatsächlich der Fall ist. Westliche Gesellschaften überschätzen die Anzahl der tatsächlich stattfindenden Terroranschläge und das Risiko, persönlich Opfer eines solchen Anschlags zu werden, massiv. Wenn Menschen sich viele Medienberichte zu einem Terrorangriff anschauen, kann das zu psychologischen Problemen wie Schlafproblemen, Alpträumen, Angstgefühlen oder Depressionen führen, selbst wenn diese Personen nicht am Anschlagsort waren und keines der direkten Opfer kannten.

Man darf nicht vergessen, dass Terroristen sich äußerst stark für die Medien interessieren. Eines ihrer Ziele ist, die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, und sie variieren ihre Taktiken und Angriffe, um dieses Ziel mit maximalem Erfolg zu erreichen. Wenn Terroristen also sehen, dass eine bestimmte Art von Anschlag besonders viel Aufmerksamkeit in der Presse bekommt, werden sie damit beginnen, diese Taktik immer öfter zu kopieren. Die IRA beispielsweise war immer darauf aus, Anschläge zu verüben, die sie selbst als „spektakulär“ bezeichnete, da sie erkannte, dass die meisten ihrer Bombenanschläge und Erschießungen nur wenig Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit erhielten.

Kann man eine Routinereaktion der westlichen Öffentlichkeit auf terroristische Angriffe erkennen? Und was sagt das über uns aus?

Die Reaktion der Öffentlichkeit in den westlichen Ländern entspricht im Großen und Ganzen der Reaktion der Öffentlichkeit in anderen Ländern. Der Unterschied liegt darin, dass sich in dieser Region – zum Glück für den Westen – Terroranschläge nicht so häufig ereignen wie in anderen Teilen der Welt. Der Nachteil ist, dass sich die westlichen Gesellschaften nicht an Terrorismus gewöhnt und daher nicht die gleiche Widerstandsfähigkeit entwickelt haben. Dementsprechend wirkt sich ein schlimmer Anschlag in Europa wesentlich stärker psychologisch aus als ein ähnlicher Angriff in einigen Regionen des Nahen Ostens. Die meisten von uns würden jedoch, wenn vor die Wahl gestellt, lieber in einer Gesellschaft leben, in der Terrorangriffe selten aber schockierend sind, als in einem Land, in dem sie häufig passieren, dafür aber schon alltäglich sind.

Die Fragen stellte Michael Bröning.

ipg-logo-Kopie1-150x92SilkeProf. Dr. Andrew Silke ist Experte für Terrorismusbekämpfung. Er leitet das Institut für Kriminologie der University of East London und ist Programmdirektor für Terrorismusstudien. Silke berät das britische Kabinett und die Vereinten Nationen.

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