Rezension von Dr. Aide Rehbaum

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Abdulrazak Gurnah: Ferne Gestade

© Mark Pringle

Der Klappentext des 2001 erstmals publizierten Romans des Nobelpreisträgers lässt eine Migrantengeschichte vermuten. Oberflächlich betrachtet bildet diese jedoch nur den Rahmen, der darüber hinaus in den 1990er Jahren zwei Männerschicksale verknüpft.

Die Geschichte Latif Mahmuds nimmt vor dreißig Jahren seinen Anfang, als er ein Stipendium zum Studium in der DDR bekommt. Er landet in Dresden, wo die Ausländer aus den „Bruderländern“ erstmal kaserniert werden. Die Studenten schauen mit Verachtung auf das Land, wo sie nicht einmal feste Schuhe kaufen können. Möglicherweise verarbeitet Gurnah Berichte aus zweiter Hand, sonst wäre der Part plastischer und eindrücklicher gelungen. Latifs deutsche Brieffreundin entpuppt sich als Mann, bei dessen Mutter findet er etwas Anschluss. Mit dem Bekannten flüchtet er von Dresden in den Westen und weiter nach Großbritannien, ein Erzählstrang, der leider schnell abgehandelt ist. Was im Westen passiert. Vergleiche der Länder oder Mentalitäten, erfährt der Leser nicht.

Saleh Omar, Latifs Gegenspieler, ist Inhaber eines Möbelgeschäfts, der während der Kolonialzeit und den Jahren danach in verschiedenen Gefängnissen sitzt, weil er die Abschiebung nach Oman ablehnt. In fortgeschrittenem Alter flüchtet er unter falschem Namen direkt nach Großbritannien und ist den verschrobenen Ansichten und Erwartungen hilfsbereiter, aber voreingenommener Sozialarbeiter ausgeliefert. Weil ihm beim Visaantrag jemand einredete, er müsse verheimlichen, dass er Englisch spricht, braucht er einen Übersetzer. Die Bürokraten der Einwanderungsbehörde meinen, er spräche eine ausgefallene Sprache, und fordern ausgerechnet Latif aus London an. Omars falscher Name ist nun nicht zufälligerweise der von Latifs Vater.

Die Erzählungen der beiden Männer bilden den Schwerpunkt des Buches. Der Leser muss sich einlassen auf das gemächliche Fortschreiten der Handlung, wobei leicht der Faden verlorengeht, wer gerade erzählt. Der Leser bekommt zwar kein Bild von Sansibar, aber viel vom Wertegerüst und Sozialgefüge, Vorlieben und Sehnsüchten zweier muslimischer Familien mit. Ein Dilemma zieht sich bereits seit mehreren Generationen durch die Geschichten ihrer Vorfahren und verbindet die beiden auf unangenehme Art und Weise miteinander. Es geht um Betrug, Verführung eines jungen Mannes, schwierige Ehen, Krankheiten und Rechtsvorstellungen in orientalisch-blumigem und weitschweifigem Philosophieren. Dass der gemeinsame Ausgangspunkt Sansibar ist, wird nur wenig deutlich, der Autor selbst scheint seiner Heimat entfremdet. Die deutsche Kolonialzeit wird gar nicht erwähnt, die britische wenig und politische Entwicklungen danach werden nur gestreift.

 

Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 im Sultanat Sansibar) wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat bislang zehn Romane veröffentlicht, darunter »Paradise« (1994; dt. »Das verlorene Paradies«; nominiert für den Booker Prize), »Admiring Silence« (1996; »Donnernde Stille«), »By the Sea« (2001; »Ferne Gestade«; nominiert für den Booker Prize und den Los Angeles Times Book Award), »Desertion« (2006; »Die Abtrünnigen«; nominiert für den Commonwealth Writers’ Prize) und »Afterlives« (2020; »Nachleben«; nominiert für den Walter Scott Prize und den Orwell Prize for Fiction).

 

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Aus dem Englischen von Thomas Brückner
Originaltitel: By the Sea
Hardcover mit Schutzumschlag, 416 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-328-60260-6
Erschienen am  14. März 2022
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