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Autor Gisbert Kuhn

Man muss wirklich kein übermäßig phantasiebegabter Ironiker sein, um eine Parallele zwischen den gallischen Comic-Helden um Asterix und Obelix in ihrem Kampf gegen die Römer und dem aktuellen Widerstand des wallonischen Regionalparlaments im belgischen Namur gegen das geplante Freihandelsabkommen (Ceta) zwischen der Europäischen Union und Kanada zu konstruieren. Das Bild drängt sich ja geradezu auf. Und, keine Frage, man ertappt sich ja selbst bei einem Lächeln. Natürlich ist die Sympathie immer bei David und nicht bei Goliath. Und, klar, freut man sich, wenn es einem schwachen Kleinen gelingt, einen starken Großen sozusagen an der Nase durch die Manege zu ziehen und ihn damit dem (je nach Humorsinn) empörten, staunenden oder belustigten Publikum zu präsentieren.

Unwürdig und beschämend

Es überrascht daher ja auch nicht, dass dieses Geschehen zwischen Brüssel, Namur und Ottawa in der Öffentlichkeit – das heißt in Sonderheit: in den so genannten sozialen Medien – von einer gehörigen Portion Schadenfreude begleitet wird. Dagegen wäre auch überhaupt nichts einzuwenden, wenn sich die lautstarke Kritik, die beißende Satire oder auch der Protest gegen irgendeinen politischen Schildbürgerstreich der „Eurokraten“ richten würde. Was sich allerdings im Moment abspielt, ist in vielfacher Weise unwürdig und beschämend, aber auch dumm und Ausdruck politischer Verantwortungslosigkeit.  Es ist zwar richtig: Masse ist nicht unbedingt Klasse, und eine Mehrheitsmeinung ist nicht zwangsläufig auch richtig. Aber die Behauptung, dass die Blockade eines von 28 EU-Mitgliedländern gebilligten internationalen Vertrages durch ein belgisches Provinzial-Parlament Ausdruck gelebter Demokratie sei, verkennt entweder den Kern demokratischen Handelns oder aber hat von belgischer Innenpolitik keine Ahnung. Möglicherweise trifft sogar beides zu.

Wer den von außen gespendeten Beifall an der Provinzposse im Nachbarland auf die angebliche Sorge um Demokratie abklopft, entdeckt meistens sehr schnell, dass in Wirklichkeit handfeste Partikularinteressen  bestimmter Gruppen mit politischem oder wirtschaftlichem Hintergrund im Spiel sind. Das ist ja auch gar nicht verwerflich. Nur sollte dann niemand behaupten, es ginge ihm, oder ihr, oder welcher Vereinigung auch immer allein um das hehre Ziel demokratischer Sauberkeit. Jeder auch nur einigermaßen politisch interessierte Mensch weiß doch, dass Lobby-Arbeit und versuchte Einflussnahme auf politische Entscheidungen gang und gäbe sind. Es ist deshalb die wichtigste Aufgabe von politischen Entscheidern, klug und möglichst ausgewogen zu befinden, welcher Beschluss, welches Abkommen oder welche Regelung am Ende den klügsten, vielleicht auch nur den am wenigsten falschen Kompromiss darstellt.

Erbärmlicher Zustand der EU

Hier soll nicht für oder gegen das EU/Kanada-Abkommen Stellung bezogen werden. Jeder, der will, kann sich ausgiebig im Internet oder in den Zeitungen kundig machen – wenngleich nur die Allerwenigsten das tun werden. Viel entscheidender ist, dass sich die beschriebenen Vorgänge abspielen in einer Europäischen Union, die sich in einem erbärmlichen Zustand befindet. Und dies, obwohl die EU mit ihren (noch) 28 Mitgliedern und rund 500 Millionen Bürgern die weltweit größte Handelsmacht darstellt und (wenn sie es denn nur wollte) mit ihrem Militärpotential auch ein gewichtiger außenpolitischer Faktor wäre. So war es eigentlich ja auch gedacht, als sich die ursprünglich einmal als 6-er-Verein gegründete Gemeinschaft nach und nach für weitere Mitglieder öffnete. Und genau so hatte man sich die Union vor allem nach dem Ende der Ost/West-Spaltung vorgestellt – als einen Friedens- und Wohlstandsfaktor mit starker positiver Ausstrahlung nach außen.

Es ist anders gekommen, und jeder kann es sehen. Die EU hat sich übernommen, ließ im Inneren Probleme zu, die sie nicht mehr bewältigen kann. Dabei hat es an frühzeitigen Warnungen nicht gefehlt. Immer wieder ist von den verschiedensten Seiten angemahnt worden, es müsse endlich eine ernsthafte Debatte über die „Endlichkeit“ der Gemeinschaft geführt werden. Das bedeutet, nicht nur über die Frage, wie weit sich „Europa“ geografisch ausdehnen könne, sondern mindestens ebenso, ob überhaupt und wenn ja in welchem Maße die „alten“ Länder des Kontinents in der Lage sein würden, Menschen mit anderer Kultur, Religion, Lebensweise und Sozialeinstellung zu verkraften. Und zwar so, dass diese Integration friedlich erfolgt und im Großen und Ganzen als Bereicherung Aller empfunden wird. Diese Diskussion ist nie erfolgt. Stattdessen kam es 2003 zum so genannten „big bang“, der EU-Erweiterung um gleich 10 süd- und osteuropäische Staaten (dazu 2007 noch um Rumänien und Bulgarien), die zu erheblichen Teilen weit von den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Standards der Gründerländer entfernt waren.

Zunehmend nationalistische Strömungen

Das berühmte „Rheinische Grundgesetz“ sagt in seinem Artikel 3: „Et het noch ömmer jot jejange“ – ins Hochdeutsche übersetzt: „Es ist noch immer gut ausgegangen“. Das mag auf das Rheinland (meistens) zutreffen. Jedoch nicht für die Europäische Union. Nicht nur, aber vor allem im Gefolge des Flüchtlingsandrangs aus den nahöstlichen und nordafrikanischen Kriegs- und Krisenregionen ist aller Welt sichtbar geworden, welche gewaltigen Risse innerhalb der EU-Gesellschaften bestehen. Überdies zeigt sich besonders in den Mitgliedländern Mittel- und Osteuropas, wie wenig Neigung dort an der Überwindung der Grenzen und Nationalismen besteht. Teilhabe am finanziellen und wirtschaftlichen Wohlstand – Ja. Annahme der gemeinschaftlichen Sicherheitsgarantien – Selbstverständlich. Aber ansonsten möge sich „Brüssel“ aus den ungarischen, polnischen oder tschechischen Angelegenheiten gefälligst raushalten!

Freilich ist diese Neigung, ja möglicherweise gar Sehnsucht nach der eigenen, nationalen Insel der Glückseligkeit keineswegs nur in den beschriebenen „neuen“ Mitgliedstaaten ausgeprägt. Auch hierzulande scheint sie immer mehr zuzunehmen. Dabei sind die Überwindung der Grenzen, die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft der zivilisierten Länder, der wirtschaftliche Aufschwung, das Erleben von Demokratie und Frieden doch nicht zuletzt für uns Deutsche ein nach dem verheerenden Krieg geradezu ungeahntes Glück und über Jahrzehnte völlig unstreitig gewesen. Was also ist der Grund für die allgemeine Unzufriedenheit, ja sogar für die Hassausbrüche im Internet und bei Demonstrationen? Es kann doch wirklich niemand wünschen, dass es hierzulande den Menschen wieder wirklich dreckig gehe, damit sie zur Besinnung zurück fänden! Und das würde, ohne Frage, der Fall sein, wenn es unseren Nachbarn nicht gut erginge. Haben die zurückliegenden, friedlichen Jahrzehnte leichtsinnig gemacht? Lassen sie Werte wie Anstand, Miteinander usw. vergessen? Zur Zeit scheint“ Europa“ völlig durchgedreht . Aber für nicht geringe Teile unserer Gesellschaft gilt dies nicht minder.

Gisbert Kuhn

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