EURO 2016: gut oder schlecht für Brexit?
Fragen von Hannes Alpen an Prof. Dr. Philip Corr
Wie sich die Fußball-EM auf das Referendum auswirken könnte.
Könnten Erfolg oder Misserfolg der britischen Nationalmannschaften bei der Fußball-Europameisterschaft Einfluss auf den Ausgang des Brexit-Referendums haben?

Es spricht vieles dafür, dass Fußballländerspiele kurzfristige Auswirkungen auf die Gemütsverfassung der Bevölkerung haben. Beispielsweise konnte die Forschung belegen, dass es nach einem Sieg der Nationalmannschaft in dem jeweiligen Land am nächsten Tag zu einem Aufschwung an der Börse kommt, während die Aktienmärkte nach einer demütigenden Niederlage schwächeln. Es ist daher zu erwarten, dass sich die Ergebnisse bei der EM auch in gewisser Weise auf das anstehende EU-Referendum auswirken werden.
Unter Berücksichtigung dieser Faktoren kann die psychologische Theorie und Forschung vorhersagen, welchen Einfluss das gute oder schlechte Abschneiden der britischen Nationalmannschaften bei der EM wahrscheinlich haben wird. Sollten England (oder auch Wales und Nordirland) bereits in der Vorrunde ausscheiden, wird sich Enttäuschung breitmachen. Diese könnte auch mit einer Verärgerung einhergehen, die sich gegen andere Völker bzw. in diesem Fall gegen andere europäische Mannschaften richtet. Die Menschen, die sich schon entschieden haben, für oder gegen den Austritt Großbritanniens aus der EU zu stimmen, wird das vermutlich nicht umstimmen. Aber die nicht unerhebliche Zahl von Unentschlossenen könnte davon durchaus in ihrem Abstimmungsverhalten beeinflusst werden.
Eine Niederlage der britischen Teams ist ein negatives Erlebnis, das den Mechanismus der „Verlust-Aversion“ in Gang setzt.
Eine Niederlage der britischen Teams ist ein negatives Erlebnis, das den Mechanismus der „Verlust-Aversion“ in Gang setzt. Dieses Phänomen bezieht sich darauf, dass wir den Dingen, die wir besitzen oder zu besitzen glauben (z.B. die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft), einen größeren Wert beimessen. Diejenigen Briten, die eine EU-Mitgliedschaft als vorteilhaft für sich erachten, werden diese Vorteile nicht aufgeben wollen, und die EM wird diese Menschen besonders beeinflussen. Die unmittelbare psychologische Reaktion auf eine Niederlage beim Fußball wäre eine Handlungsweise, mit der die Möglichkeit weiterer Verluste verringert wird. Unentschiedene Wähler dieser Gruppe werden in dem Fall wohl eher für einen Verbleib in der EU stimmen. Allerdings findet all dies nicht in einem Vakuum statt. Es zählen nicht nur die Ergebnisse, sondern auch das, was rund um die Spiele passiert. Insbesondere gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Fans der gegnerischen Mannschaften werden mit Sicherheit zu einer „Die-und-Wir“-Haltung beitragen.
Vermutlich spielt auch die Persönlichkeit der Wähler eine Rolle. Die ängstlichen und besorgten sehen eher die Vorteile des Verbleibs in der EU, während die Wähler mit einer trotzigeren und aggressiveren Stimmung sich mit größerer Wahrscheinlichkeit für den Austritt entscheiden. Aus psychologischer Warte ist davon auszugehen, dass die unentschlossenen Wähler zur erstgenannten Kategorie gehören und stark von der Verlust-Aversion betroffen sind. Sie werden sich lieber an das Altbewährte klammern, selbst wenn sie erhebliche Zweifel an den Tugenden und Lastern der EU hegen.
Wird ein gutes Abschneiden eher der „Remain“-Kampagne oder der „Leave“-Kampagne helfen?
In dem unwahrscheinlichen Fall, dass England, Wales oder Nordirland besonders erfolgreich sind, würde ein „Wohlfühlfaktor“ ins Spiel kommen, dessen Auswirkungen allerdings komplex und schwer vorhersehbar sind. Diese Situation wäre wirklich interessant. Ist man guter Stimmung und nicht von einer negativen Verlust-Aversion betroffen, ist man sehr viel aufgeschlossener und spielt in Gedanken verschiedene Optionen durch. Angst und Ärger lösen jedoch in der Regel negative Denkweisen aus. Daher würde jeder von der EM ausgehende Wohlfühlfaktor eine negative Voreingenommenheit mindern und dafür sorgen, dass die Menschen die EU-Frage rationaler durchdenken können. Die mit dem Verbleib in der EU assoziierten negativen Ansichten (wie die Angst vor Masseneinwanderung) würden dann in den Hintergrund und die Vorteile des Verbleibs in den Vordergrund rücken.
In psychologischer Hinsicht liegen die Dinge aber selten so einfach. Insofern der „Wohlfühlfaktor“ mit Belohnungssensitivität/-reaktivität zusammenhängt, kann er auch die Neigung hervorrufen, für den Austritt aus der EU zu stimmen. Das klingt vielleicht paradox, ist es aber nicht unbedingt. Denn schließlich geht es bei Belohnungssensitivität, dem Streben nach Chancen und so weiter vor allem um Ressourcen, und da diese nur eingeschränkt vorhanden sind, muss man um sie kämpfen. Dies ist vor allem im Fall von rechtsgesinnter Voreingenommenheit zu beobachten, die mit Persönlichkeitsmerkmalen verbunden ist, die wiederum mit Belohnungsverarbeitung zusammenhängen. Aus diesem Grund könnte ein erfolgreiches Abschneiden der Nationalmannschaft auch die Tendenz fördern, die EU verlassen zu wollen.
Es kommt darauf an, wie sie gewinnen oder verlieren – wird es als Fairplay erlebt oder als die schmutzigen Tricks von „denen in Europa“?
Aber nichts von alldem ist wirklich sicher. Auch der größere Zusammenhang dieser Europameisterschaft kann zum Dreh- und Angelpunkt des endgültigen Abstimmungsverhaltens werden: wie andere Mannschaften erlebt werden und wie die Medien über die Ereignisse berichten. In dem Fall kommt es weniger darauf an, ob die britischen Nationalmannschaften gewinnen oder verlieren, sondern vielmehr darauf, wie sie gewinnen oder verlieren – wird es als Fairplay erlebt oder als die schmutzigen Tricks von „denen in Europa“?
Mit Unsicherheit behaftet sind diese Vorhersagen des Weiteren aufgrund der Gewalt bei dieser Europameisterschaft, über die in den Medien so ausführlich berichtet wird. In Großbritannien werden die Gewalttäter als nahezu militärische russische Hooligans dargestellt, die gezielt britische Fans angreifen. Viele Wähler könnten daraus den Schluss ziehen, dass wir zusammenhalten und uns gemeinsam gegen die russische Aggression wehren müssen – russische Politiker ließen ja schließlich auch verlauten, dass die Russen sich verteidigen sollten, wenn sie beleidigt würden. Das trägt nicht gerade zu einer Entschärfung der Situation bei, aber hilft möglicherweise der Kampagne für den Verbleib, dass den Briten suggeriert wird, sie müssen Teil einer starken EU bleiben.
Welches Gewicht hat die Psychologie in dem Referendum überhaupt im Vergleich zu rationalen Entscheidungen?
Aus der Verhaltensökonomie und den Entscheidungswissenschaften im Allgemeinen wissen wir, dass unbewusste, automatische kognitive Prozesse wichtiger sind als bewusstes Denken – und zwar viel wichtiger, als wir bislang vermuteten. Der erstgenannte Prozess ist eine schnelle, auf einem Bauchgefühl beruhende Entscheidungsfindung, während Letztere langsam, mühsam und schwierig ist. Angesichts der Komplexität der Sachlage, über die in diesem EU-Referendum entschieden wird, werden die meisten Leute davor zurückschrecken, zu intensiv über die Fragen nachzudenken, und sich vielmehr davon leiten lassen, was sich für sie richtig anfühlt. Das Problem dabei ist, dass die reine Vernunft an den Rand gedrängt werden und stattdessen blinde Leidenschaft das Zepter schwingen könnte.
Die Debatten in Großbritannien fußen ohnehin schon auf nicht-rationalen Prozessen.
Die Debatten in Großbritannien fußen ohnehin schon auf nicht-rationalen Prozessen. Das für den Verbleib kämpfende Lager beutet die „Verlust-Aversion“ und „die Angst vor dem Ungewissen“ aus. Der an der Spitze der „Remain“-Kampagne stehende britische Premierminister David Cameron greift permanent in diese psychologische Trickkiste, was eine wirklich effektive Strategie sein kann. Vermutlich steigert Cameron den Effekt der Verlust-Aversion, indem er die Frage auf eine persönliche Ebene bringt und immer von „Ihrer“ EU spricht und davon, dass die Dinge, die den Briten verloren gehen könnten, „Ihnen“ gehören. In der an alle Haushalte verschickten Regierungsbroschüre heißt es: „Es ist eine wichtige Entscheidung, die sich noch jahrzehntelang auf Sie, Ihre Familie und Ihre Kinder auswirken wird.“ Um dieser Botschaft Nachdruck zu verleihen, verweist die „Remain“-Kampagne nicht nur auf die wirtschaftlichen, sondern auch auf die persönlichen Folgen eines EU-Austritts: eine Verteuerung der Urlaubsreisen, Reisebeschränkungen, Probleme, das Rentenalter im EU-Ausland zu verbringen, sowie niedrigere Renten in Großbritannien und sinkende Investitionen ins Gesundheitssystem. Niemand mit gesundem Menschenverstand würde ein solches Risiko eingehen.
Diese Personalisierung macht die Botschaft wirkungsvoller und untergräbt die Rationalität. Sie bringt die seit langem bekannten und in der Konsumentenpsychologie erfolgreich eingesetzten Tricks einer effektiven Kommunikation zur Anwendung. Dabei wird die periphere (emotionale) Ebene der sich verändernden Gefühle und Motivationen angesprochen und nicht die zentrale (auf Informationen beruhende). Anders gesagt, man setzt dabei nicht auf Fakten, um die Menschen umzustimmen, sondern verändert ihre Gefühlslage und dabei auch ihre Einstellungen, Überzeugungen und ihr Verhalten. Das Problematische an der Verwenung dieser Tricks in einer demokratischen Debatte ist, dass die Psychologie dieser Überzeugungsarbeit die Fakten der EU-Debatte verdrängt.
Angstgefühle werden von beiden Lagern geschürt.
Angstgefühle werden von beiden Lagern geschürt. Beispielsweise ist der führende Politiker der „Leave“-Kampagne, Nigel Farage, davon überzeugt, dass Großbritannien sicherer wird, wenn es aus der EU austritt. Aus seinem Kampagnenbus, mit dem er durch Großbritannien tourt, erklingt die Erkennungsmelodie des Films „Gesprengte Ketten“, in dem es um eine Gruppe Kriegsgefangener geht, die aus einem Lager in NS-Deutschland ausbricht. Natürlich soll mit dieser Melodie ein euphorisches Gefühl erzeugt werden, das mit der Befreiung aus den europäischen Zwängen assoziiert wird. Farage macht sich die Angst vor sexuellen Übergriffen zunutze, indem er auf die Ereignisse in Köln verweist, und führt abstraktere Bedrohungen ins Feld: Die Einwanderung ohne Sicherheitsüberprüfungen sei „eine Gefahr für den Zusammenhalt unserer Gesellschaften“.
Aber auch die „Remain“-Kampagne bedient sich der Angstmacherei als Überzeugungsmittel. In einer beliebten Fernsehsendung erklärte Cameron kürzlich: „Innerhalb der EU werden wir nicht nur stärker und sicherer sein, es wird uns auch besser gehen.“ Damit impliziert er, dass ein Austritt Angst machen muss. Das steigerte er noch mit seiner Aussage: „… einen Sprung ins Ungewisse ist der falsche Schritt für unser Land“.
Für das „Leave“-Lager ist die psychologische Kriegsführung weitaus schwieriger. Die mit einem EU-Austritt verbundene Angst vor dem Ungewissen und die Verlustaversion spielen den Unentschiedenen in die Hände. Sie werden denken: „Warum das Risiko eingehen?“
Die tatsächliche Gefahr für das „Remain“-Lager besteht jedoch darin, dass viele Menschen innerlich zerrissen sind, ob sie für den Austritt aus oder den Verbleib in der EU sind, und sich aus diesem Grund möglicherweise der Stimme enthalten. Dagegen werden sich die Befürworter eines Austritts mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit zu den Wahllokalen in den Schulen oder Gemeindesälen aufmachen und ihre Stimme abgeben. Da auch jüngere Leute häufig nicht zur Wahl gehen, verliert das „Remain“-Lager möglicherweise viele Wähler, die eigentlich lieber in der EU bleiben würden.
Das EU-Referendum wird sich als ein realer Test erweisen, inwiefern die allgemeine Öffentlichkeit ihre Wahlentscheidung auf die Fakten fußen kann, statt allein auf das Bauchgefühl zu setzen. Angesichts des ungewissen Ausgangs der Europameisterschaft sollten die Politiker im Hinterkopf behalten, dass das Spielen mit dem Feuer psychologischer Tricks auch bedeuten könnte, dass sie sich dabei selbst böse Verbrennungen zuziehen könnten.
Prof. Dr. Philip Corr lehrt Psychologie an der City University London. Er ist zudem einer der Mitbegründer der British Society for the Psychology of Individual Differences (BSPID). Schwerpunkte seiner Forschung sind Neurowissenschaften und Verhaltensökonomie.
Hannes Alpen ist Referent in der Internationalen Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung und leitet die Redaktion des Online-Journals Internationale Politik und Gesellschaft (IPG).