Ähnliche Stimmung wie in den USA: Ein von Rechtspopulisten angeheizter Mob randaliert tagelang in den Niederlanden. Wie konnte es so weit kommen?

Geballte Staatsmacht gegen die Anti-Corona-Proteste in Amsterdam.

Nachdem die konservative Regierung unter Mark Rutte eine Ausgangssperre verfügt hatte, um die Zahl der Covid-Infektionen in den Niederlanden einzudämmen, kam es Ende Januar 2021 in elf niederländischen Städten zu Krawallen. Die ersten Gewaltakte ereigneten sich in kleinen religiösen Gemeinden wie Urk, einem traditionsverhafteten Fischerdorf im Osten des Landes. Aufgrund der eng vernetzten Gemeinschaft mit großen Familien, einer vom Handwerk dominierten Wirtschaft mit vielen sozialen Kontakten und der Weigerung, Gottesdienste einzustellen, wurde die dortige Bevölkerung von der Pandemie besonders hart getroffen.

Überwiegend junge „Urker“, die sich am Wochenende eher durch deutlich weniger gottesfürchtiges Verhalten hervortun, setzten die örtliche Covid-Teststation in Brand und griffen die Polizei an. In kleineren Gemeinden im Süden des Landes tranken sich jüngere Leute Mut an und begannen einen Aufstand gegen die „Diktatur“. Es folgten größere Städte wie Amsterdam, Eindhoven und Enschede, wo gar das örtliche Krankenhaus angegriffen wurde und die Bereitschaftspolizei in voller Besetzung die Ausgangssperre durchsetzen musste.

Natürlich fällt einem dabei automatisch der Mob aus Trump-Anhängern ein, der am 6. Januar gewaltsam in das US-Kapitol eindrang, einen Polizisten tötete und offenbar plante, Vizepräsident Pence und die demokratische Mehrheitsführerin im Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi, umzubringen.

Wie konnte es so weit kommen? Die Niederlande sind weltweit bekannt für ihren gesellschaftlichen Frieden und ihre „Polder-Demokratie“: In Politik und Gesellschaft ist die Tradition tief verwurzelt, vor der Umsetzung einer politischen Maßnahme alle Beteiligten anzuhören; das führt dazu, dass auch die Opposition konstruktiv und friedlich agiert. In den letzten Jahrzehnten jedoch bröckelt dieses kulturelle und wirtschaftliche Gefüge der „Konsensdemokratie“ – wie Arend Lijphart es nennt – unter dem Druck populistischer Rhetorik, die das Vertrauen in traditionelle Institutionen und Behörden untergräbt.

Wie andere Populisten in Europa auch ereifern sich Geert Wilders (Freiheitspartei PVV) und der noch extremere Populist Thierry Baudet (Forum für Demokratie, FvD), Präventivmaßnahmen wie eine Ausgangssperre richteten sich „gegen die Freiheit“, was indes vom politischen Kartell aus Regierung und konstruktiven Oppositionsparteien „ignoriert“ werde. Auf seinem Twitter-Account polterte Baudet, seine Partei werde sich auch weiterhin gegen diese „absurde freiheitsbeschränkende Maßnahme“ wehren.

Je weiter rechts sich jemand politisch einordnet, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie oder er sich an die Maßnahmen hält.

Solche Anti-Establishment-Parolen kommen bei der finsteren Koalition aus Verschwörungstheoretikern, Impfgegnern und der extremen Rechten gut an. Diese Koalition, die sich in der Corona-Pandemie gefunden hat, produziert mit Desinformation in den sozialen Medien eine explosive Stimmung aus Unzufriedenheit und Misstrauen, die auch die gewalttätigen Krawalle angeheizt hat. Obwohl sich die politische Rechte und mehr noch die extremistischen Populisten gern als Verfechter von „Recht und Ordnung“ darstellen, unterminieren sie konsequent die Spielregeln von Demokratie, Verfassung, Rechtsstaat und Pressefreiheit. Diese Entwicklung ist weltweit zu beobachten.

Zwar haben Baudet und Wilders die Krawalle in Urk und anderen Gemeinden verurteilt. Sie gossen jedoch Öl ins schwelende Feuer, als sie die gesamte politische Elite als ein geschlossenes Kartell geißelten, das die „wahren Interessen des Volkes“ verrate, und bewährte Maßnahmen wie das Tragen von Masken, Ladenschließungen und die Beschränkung sozialer Kontakte als eine unzumutbare Beschneidung der Freiheitsrechte und erste Schritte in eine „Diktatur“ kritisierten.

Die politische Rechte, die sonst die Niederschlagung von Protesten durch Polizei und sogar Armee lautstark fordert, prangerte diesmal die Wiederherstellung von Recht und Ordnung durch die lokalen Kräfte als autoritäre Maßnahme an. Wilders und besonders Baudet streuen Zweifel an der Gefährlichkeit der Pandemie oder leugnen die Todesfälle durch das Virus und verbreiten, dass man „den Statistiken nicht glauben“ könne. Die Regierung zerstöre absichtlich die Existenzgrundlage der Menschen. Selbstverständlich werfen die Populisten auch den Mainstream-Medien vor, nicht nur die Gefahren durch die Pandemie „bewusst aufzubauschen“, sondern auch über die Klimakrise „Lügen zu verbreiten“. Staatliche und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten wie die NOS, heißt es, seien eher „staatliche Propagandaapparate“ als freie und kritische Medienorgane.

In einer Studie, die meine Kollegen und ich über die Akzeptanz der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus in den Niederlanden durchgeführt haben, konnten wir klar nachweisen, dass sich die politische Orientierung auf die Bereitschaft auswirkt, sich an staatliche Vorgaben zu halten, Institutionen zu vertrauen und die Politik zur Linderung wirtschaftlicher Not zu unterstützen. Je weiter rechts sich jemand politisch einordnet, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie oder er sich an die Maßnahmen hält. Zwar gibt es auch in der extremen Linken Ablehnung, doch der harte Widerstand gegen staatliche und politische Präventivmaßnahmen in den Niederlanden ist in der extrem konservativen (und religiösen) Rechten des politischen Spektrums angesiedelt.

Menschen mit extrem rechter und konservativer Einstellung neigen auch eher zu der Ansicht, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen so negativ sind, dass sie Maßnahmen zur Senkung der Infektionsraten nicht rechtfertigen. In ihrer ablehnenden Haltung verbinden die Extremisten eine tief sitzende wirtschaftliche und politische Unzufriedenheit mit Ressentiments gegen die Pandemiemaßnahmen. Ein (kleiner) Teil der Bevölkerung sieht in diesen Maßnahmen keinen Schutz für andere, sondern eine Einschränkung ihrer Rechte und gar Freiheitsberaubung. So lässt sich die Covid-Pandemie problemlos für populistische Unzufriedenheit instrumentalisieren.

Eine tiefere Ursache für den Aufstieg von Extremismus und Populismus und die zunehmende Polarisierung westlicher Gesellschaften liegt jedoch in den enormen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen.

Eine tiefere Ursache für den Aufstieg von Extremismus und Populismus und die zunehmende Polarisierung westlicher Gesellschaften liegt jedoch in den enormen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen. Die Ängste und Unsicherheiten in weiten Teilen der Gesellschaft resultieren überwiegend aus einer Machtverlagerung hin zu einer neuen, eher multikulturell ausgerichteten Generation. Diese jungen Leute sind offener für eine multikulturelle Gesellschaft, in der Identitäten fließend und erwerbbar sind.

Dagegen nehmen ältere Generationen mit einer eher statischen und zugeschriebenen Identität einen Status- und Machtverlust wahr. In den Jahrzehnten stagnierender Löhne und Renten, Kürzungen im Gesundheitswesen und im Bereich sozialer Dienstleistungen ist einer breiten Mittelschicht die Hoffnung abhandengekommen, dass es „ihre Kinder einmal besser haben werden als sie“. Vor allem fürchten sie, dass ihnen der Boden entgleitet und wirtschaftliche Sicherheit und materieller Wohlstand verloren gehen.

Viele Menschen in der Unter- und Mittelschicht unserer Gesellschaft sehen sich nicht nur von wirtschaftlicher Unsicherheit bedroht, sondern finden sich auch in der öffentlichen Debatte nicht wieder. Diese „geschröpfte Klasse“ ist mental gefangen zwischen der Angst vor einem weiteren wirtschaftlichen Niedergang und der Furcht, dass gesellschaftlicher Aufstieg für sie und ihre Kinder nicht mehr möglich ist. Viele verbinden die von der Pandemie verstärkte wirtschaftliche Unsicherheit mit einer Ablehnung von (Arbeits-)Migranten und Flüchtlingen.

Ihre Gefühlslage ist kompliziert, doch es läuft darauf hinaus, dass sie die Gesellschaft und die Wohlstandsverteilung als ungerecht empfinden. Verstärkt wird diese Wahrnehmung durch eine kleine reiche und mächtige Oberschicht, die dank der Macht ihres Geldes unverhältnismäßig viel Einfluss auf die konkreten politischen Maßnahmen ausübt. Das schmälert den Zuspruch für das politische System und untergräbt das Vertrauen der Öffentlichkeit in Institutionen und Verfahren.

Politisch aufgegriffen werden die Ängste der Unter- und Mittelschicht von extremistischen und populistischen systemkritischen Bewegungen: Trump, Wilders, Baudet und andere beschwören die Vision einer glorreichen Vergangenheit herauf, in der die „weiße“ Bevölkerung wirtschaftlich und kulturell dominant war. Populisten verstärken ihre Botschaften durch hysterische und verlogene Social-Media-Aktivitäten einschließlich des Mikrotargeting anfälliger Gruppen, formulieren aber weder konkrete politische Forderungen, noch überführen sie ihre Ideen in praktische Maßnahmen, mit denen sie ihrer Anhängerschaft helfen könnten: Ihr politisches Projekt beschränkt sich auf einen unablässigen und ständig eskalierenden Kulturkrieg gegen „Globalisten“, „Sozialisten“ und „Verräter am wahren Volk“.

Populisten verstärken ihre Botschaften durch hysterische und verlogene Social-Media-Aktivitäten.

Damit liefern sie ohne jeden Zweifel ein Rezept für gewaltsame Aufstände. Zwar unterscheiden sich die Krawalle in den Niederlanden deutlich von den Geschehnissen in Washington – nur sehr wenige Niederländer besitzen Schusswaffen –, doch herrscht eine auffällig ähnliche Stimmung. Auch wenn die Gruppe derer, die die Pandemiemaßnahmen entschieden ablehnen, in den Niederlanden noch recht klein ist, grassiert durchaus eine Denkweise und Gesinnung, der zufolge ein „Krieg“ tobt und „sich das Land in die falsche Richtung bewegt“. Sobald gewaltbereite rechtsextreme Gruppierungen mitmischen und wütende Mobs organisieren wie den, der am 6. Januar das US-Kapitol stürmte, beginnt eine neue Phase des demokratischen Niedergangs.

Man kann diese Entwicklungen aus zweierlei Blickwinkel betrachten. In einer optimistischen Sicht der Dinge stärkt die Covid-Pandemie das Vertrauen in eine gemäßigte und pragmatische Politik mit praktikablen Lösungen, die darauf abzielen, dem Gemeinwohl (Gesundheit und Sicherheit) Priorität einzuräumen, auch wenn sie massive wirtschaftliche Probleme mit sich bringen – diese Abwägung wird von den Menschen unterstützt.

Eine pessimistischere Sichtweise wäre, dass das populistische Projekt durch die Covid-Pandemie befördert wird. Populisten erhalten die Gelegenheit, hysterisch das nahe Weltenende und die Zerstörung der Zivilisation zu beschreien. Sie zeichnen ein apokalyptisches Bild der Niederlande und anderer liberaler Demokratien, in denen angeblich eine arrogante Elite aus Politikerinnen, Journalisten und Wissenschaftlerinnen das Sagen hat. Diese „Intrige“ zerstöre die „boreale“ (also weiße) Welt, statt die wahre niederländische (oder französische, amerikanische, englische, deutsche und so weiter) Bevölkerung zu schützen.

Baudet bedient sich offen antisemitischer und nationalsozialistischer Phrasen, wenn er erklärt, dass der niederländische „Selbsthass“ eine „Umvolkung“ mit sich bringe, weil eine „ungezügelte Einwanderung die homöopathische Verdünnung des niederländischen Volkes“ nach sich ziehe. Er ruft zu Gewalt gegen die „Arroganz“ der Elite auf und fordert eine „Auferstehung des niederländischen Volkes“. In der europäischen Zusammenarbeit sehen die Populisten, wie schon die Brexiteers, eine Schwächung der nationalen Souveränität statt eines Koordinierungsmechanismus zur Lösung internationaler Probleme wie der Pandemie und des Klimawandels.

„Es wird nie wieder einen Holländer geben“, lautet ein berühmter Spruch Baudets. Hier stimme ich ihm zu: Die populistische Rhetorik und die manipulative Aushöhlung demokratischer und konstitutioneller Prinzipien zerstören unsere klassische weithin bewunderte Konsensdemokratie, unseren pragmatischen und unideologischen Ansatz zur Bewältigung sozialer Probleme. Mit einem Führungspersonal wie Baudet und Wilders wären die Niederländer schon vor vielen Jahrhunderten abgesoffen.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

André Krouwel ist Professor für Vergleichende Politik und Kommunikation an der Vrije Universiteit Amsterdam und Gründer des Unternehmens Kieskompas, welches politische Informationen für Wähler aufbereitet und Online-Wahlhilfen entwickelt.

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