Die Niederlage in Afghanistan hat das Ansehen des Westens schwer beschädigt. Kann Russland davon profitieren? Eine Sicht aus Moskau.

BLUTBAD IN KABUL: US-Präsident Biden droht ISIS-K-Terroristen mit Vergeltung

Die erste Rede, die US-Präsident Joe Biden nach dem Chaos und den katastrophalen Szenen in der wieder unter die Kontrolle der Taliban geratenen afghanischen Hauptstadt Kabul hielt, enthielt für Russland implizit so manche wichtige Botschaft. Biden lieferte in dieser Rede eine neue Interpretation der Mission der USA in Afghanistan und anderen Ländern, in denen Washington sich vorgenommen hat, den Übergang zur Demokratie zu überwachen.

Die Vereinigten Staaten verabschieden sich aus ihrer Verantwortung für das Endergebnis, denn US-Soldaten, so Biden, „können und sollten nicht in einem Krieg kämpfen und sterben, den die afghanischen Streitkräfte selbst nicht zu führen gewillt sind“. Biden definierte die US-Mission um und erklärte, diese Mission hätte ausschließlich darauf abgezielt, nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 für Amerikas Sicherheit zu sorgen. Die USA hätten nie das Ziel verfolgt, einen Staat aufzubauen oder eine Demokratie zu errichten.

Welche Schlüsse kann Russland aus dieser Uminterpretation des US-Auslandseinsatzes ziehen, in der eine neue Selbstbeschränkung zum Ausdruck kommt? Die Sowjetunion hat von 1979 bis 1989 ebenfalls einen verheerenden Krieg in Afghanistan geführt. Als sie 1989 den Rückzug antrat, tat sie dies nicht einfach deswegen, weil sie den Krieg nicht gewinnen konnte. Ihr Rückzug fiel in eine Zeit, in der die UdSSR in einer tiefen inneren Krise steckte und die Menschen von ihrem eigenen Land bitter enttäuscht waren.

Die Strategie der Sowjetunion und die Strategie der Amerikaner waren ähnlich: Beide wollten „die Herzen und Köpfe“ der afghanischen Bevölkerung gewinnen – mit dem Unterschied, dass die Werte der Sowjets „Sozialismus“, „Gleichheit“ und „Entwicklung“ hießen, während das Schlagwort der USA „Demokratie“ lautete. Abgesehen vom militärischen Vorgehen, sahen die Baustellen, auf denen Schulen und Krankenhäuser aus dem Boden wuchsen, verblüffend ähnlich aus.

Die Strategie der Sowjetunion und die Strategie der Amerikaner waren ähnlich.

Nicht anders verhielt es sich mit den Hochschulprogrammen für Tausende von Studierenden, mit den Waffen für die Streitkräfte oder mit den Konzerten, Bibliotheken und Museen für die Intelligenzija. Doch es ist schwer, die Herzen und Köpfe einer fremden Nation zu erobern, wenn einem gerade die Herzen und Köpfe der eigenen Bevölkerung abhandenkommen. Und auch der Rückzug der USA aus Afghanistan fällt in eine Zeit, in der die Amerikaner intensiv über sich selbst nachgrübeln.

Die Regierung von George W. Bush hatte natürlich noch ein anderes Motiv, in Afghanistan einzumarschieren. Ihr ging es nicht nur darum, die Verantwortlichen für die Anschläge vom 11. September zu bestrafen und den Amerikanerinnen und Amerikanern zu zeigen, dass sie in Zukunft vor Angriffen geschützt sein würden. Bushs zweite Motivation bestand darin, den Teil der Welt, von dem die Bedrohung ausging, umzukrempeln und die Gefahr an der Wurzel zu beseitigen.

So entstand die Idee eines neuen Nahen Ostens, der sich dem Kreis der pro-westlichen Demokratien und Verbündeten anschließen würde. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte Amerika den Höhepunkt seiner Macht erreicht: Die USA waren als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen und hatten keine Rivalen mehr. Mit dem Rückzug aus Afghanistan und dem Irak gestehen sie nun ein, dass es unmöglich ist, allein durch einen Eingriff von außen das Wunder der Demokratie zustande zu bringen.

Die Bush-Administration, die beide Kriege begann, orientierte sich damals an den Erfahrungen der Vorgängerpräsidenten, die nach dem Zweiten Weltkrieg über die Transformation der totalitären Regime in Deutschland und Japan gewacht hatten. Die Situation nach 1945 mit der aktuellen Situation zu vergleichen, war ein kapitaler Fehler. Deutschland, Österreich, Italien und Japan hatten möglicherweise – bevor sich totalitäre Regime dort durchsetzten – in manchen Punkten hinter anderen Ländern hinterhergehinkt, aber trotzdem handelte es sich um durchaus moderne Gesellschaften mit funktionierenden Rechtsordnungen und umfassender Erfahrung im Aufbau eigener parlamentarischer und demokratischer Institutionen.

Durch ihre Kriegsniederlage wurden sie weniger auf einen neuen (rechten) Pfad gesetzt, als vielmehr wieder auf den früheren Pfad zurückgeleitet. Eine solche Vorgeschichte gibt es im Nahen Osten nicht. Im Gegenteil: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind alle Modernisierungsexperimente in der Region gescheitert – ob es sich nun um weltliche Monarchien, sozialistische Militärregime (beides war in Afghanistan versucht worden, bevor die USA intervenierten) oder islamische Demokratien handelte, den weitgehend erfolglosen Arabischen Frühling eingeschlossen.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind alle Modernisierungsexperimente in der Region gescheitert.

Diese Experimente in Nahost machen deutlich: Wer glaubt, man könne mehr oder weniger an jedem beliebigen Ort demokratische Wunder wirken, wenn man von außen kommt und sich nur richtig bemüht, der irrt sich. Was dabei herauskommt, ist nicht Japan, sondern Afghanistan. Solche Wunder gelingen nur von innen heraus, und der Weg dorthin ist in der Regel weit.

BLUTBAD IN KABUL: US-Präsident Biden droht ISIS-K-Terroristen mit Vergeltung

Diejenigen, die jeden Fehlschlag des Westens gern in einen Sieg für Russland ummünzen wollen, sind stets darauf erpicht, den frei gewordenen Platz auf der Landkarte für sich zu okkupieren – und werden in den meisten Fällen schon bald auf ein ähnliches Debakel zusteuern. Außerdem bedeutet der Rückzug aus Afghanistan nicht, dass der Westen seine Positionen anderswo ohne Weiteres aufgeben wird (auch wenn er dort nicht zwanzig Jahre gekämpft hat). Nachdem es ihnen gelungen war, Al-Qaida auszuschalten, hatten die USA in Afghanistan keine wichtigen Interessen mehr, die sie bis zum Äußersten hätten verteidigen müssen — aber das heißt nicht, dass sie nicht anderswo solche Interessen haben und sich dort ebenso verhalten würden wie in Afghanistan.

Es wäre leichtfertig und regelrecht gefährlich, wenn die Strategen im Kreml automatisch davon ausgehen würden, eine taktische Niederlage an einem Ort würde sich in allen möglichen anderen denkbaren Situationen wiederholen. Im Gegenteil: Wenn die USA jetzt davon reden, dass sie den Krieg, der eigentlich nicht ihrer ist, beenden und die Sicherheit ihres eigenen Landes zur obersten Priorität erheben, sollte man das nicht allzu wörtlich nehmen. Sobald sich die Gelegenheit ergibt, ihr verlorenes Prestige als Schutzmacht und Verbündete wiederherzustellen, werden die USA diese Gelegenheit mit neuem Elan nutzen.

Ebenfalls gefährlich ist es, sich angesichts der Niederlage eines geopolitischen Rivalen schadenfroh die Hände zu reiben und mit den Taliban zu sympathisieren (und sei es auch nur unabsichtlich). Viele Kommentatoren in Russland und in der Ukraine versuchen, die Logik der Geschehnisse in Afghanistan auf heimatnähere Orte zu übertragen: Entweder sagen sie voraus, dass die Amerikaner aus Kiew flüchten werden, so wie sie jetzt Kabul verlassen, oder es wird prognostiziert, dass die Russen aus Donezk abziehen.

Die Taliban sind eine ernstzunehmende Größe – nicht zuletzt deswegen, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes nichts zu verlieren haben

Die Taliban sind eine ernstzunehmende Größe – nicht zuletzt deswegen, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes nichts zu verlieren haben, was man von den meisten anderen Nationen nicht behaupten kann. Zwischen den militanten Islamisten und selbst den konservativsten postsowjetischen Hitzköpfen liegen Welten, und ihre antiamerikanische Einstellung macht die Taliban nicht automatisch zu Freunden Moskaus und ihrer zentralasiatischen Nachbarn. Es sei daran erinnert, dass das vorherige Taliban-Regime in Afghanistan seinerzeit als einzige Regierung der Welt die tschetschenische Republik Itschkerien anerkannte, als die abtrünnige russische Region sich unter Schamil Bassajew und Aslan Maschadow selbst zum Staat ausrief.

Russland wird sich jetzt entscheiden müssen, ob es sich mit den Taliban weiterhin gut stellt oder wie in den 1990er Jahren seine traditionellen Verbündeten im Norden Afghanistans unterstützt – die afghanischen Usbeken und Tadschiken, die bereits die ersten Anzeichen von Widerstand zeigen. Selbst wenn Moskau es diesmal mit einem ausgewogeneren Vorgehen versucht, werden die Taliban den Verdacht nicht loswerden, dass Russland im Norden gegen sie agiert.

Auf westlicher Seite gibt es eine Gefahr, die sich dazu spiegelbildlich verhält: die Gefahr, dass Anhänger des „Great Game“ versuchen könnten, die Niederlage der Amerikaner zu internationalisieren: Warum sollte man die Taliban, nachdem sie die Amerikaner geschlagen haben, nicht als Nächstes die Russen schlagen lassen – und anschließend die Chinesen und die Regime in Zentralasien? Zum Glück sind diese Stimmen vorerst sehr deutlich in der Minderheit gegenüber jenen, die erkennen, wie gefährlich solche Positionen sind.

Auf den ersten Blick mögen die politischen Kreise und die Öffentlichkeit in nicht-westlichen Ländern einschließlich Russlands es als schlechte Nachricht empfinden, dass die USA, was ihre Mission im Ausland betrifft, auf ein zurückhaltenderes Modell umschalten. Letztlich könnte das Umdenken aber auch sein Gutes haben. Wenn der Westen seine Begierde, andere Gesellschaften nach dem Vorbild seiner eigenen Werte und Institutionen von außen umzumodeln, tatsächlich zügelt, eröffnen sich dadurch neue Möglichkeiten.

Dann könnten nämlich andere Länder ohne Furcht von diesen Werten und Institutionen Gebrauch machen, weil diese dann nicht mehr als Tricks und geopolitische Fallen einer fremden Macht gelten, die expandieren will. Sie würden wieder zu dem werden, was sie ursprünglich in den westlichen Gesellschaften einmal waren, als diese selbst sich noch auf dem Weg zu Macht und Aufklärung befanden: wichtige Instrumente der eigenen gesellschaftlichen Weiterentwicklung und inneren Modernisierung.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Alexander Baunov ist Experte für internationale Politik, Journalist, Publizist und ehemaliger Diplomat. Seit 2015 ist er Senior Fellow am Carnegie Moscow Center und Chefredakteur von Carnegie.ru.

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