Der große gemeinsame Nachbar

Viele Mongolen identifizieren sich mit dem ukrainischen Kampf um die Abgrenzung von Russland. Gleichzeitig fürchtet man die Abhängigkeit von China.

Das Altai-Gebirge ist Teil der Grenze zwischen Russland und der Mongolei.

In rein geographischer Hinsicht liegen die Mongolei und die Ukraine auf ungefähr denselben Breitengraden, allerdings einige Tausend Kilometer voneinander entfernt. Ulaanbaatar pflegt sowohl zu Kiew als auch zu Moskau stabile Verbindungen. Entsprechend reagierte die mongolische Regierung auch auf die russische Invasion in der Ukraine.

Einerseits hat die Mongolei in den letzten Monaten mit Infrastrukturabkommen und hochrangigen diplomatischen Treffen ihre Verbindungen zu Russland gestärkt und bleibt offiziell neutral. Bei den beiden Abstimmungen der UN-Vollversammlung zur Benennung und Verurteilung der russischen Invasion hat sie sich enthalten. Andererseits finden im Land Demonstrationen zur Unterstützung der Ukraine statt. Trotz anfänglicher polizeilicher Unterdrückung haben sich diese Proteste in den vergangenen Tagen ausgeweitet und verstärkt. Neben ukrainischen werden dort auch mongolische Nationalsymbole gezeigt.

Da ihr Land in russischsprachigen Kontexten manchmal immer noch als die „sechzehnte Republik“ (der ehemaligen UdSSR) bezeichnet wird, identifizieren sich viele Mongolen mit dem ukrainischen Kampf um die klare Abgrenzung von Russland.

Da ihr Land in russischsprachigen Kontexten manchmal immer noch als die „sechzehnte Republik“ (der ehemaligen UdSSR) bezeichnet wird, identifizieren sich viele Mongolen mit dem ukrainischen Kampf um die klare Abgrenzung von Russland. Die Bezeichnung zeigt, dass die Unabhängigkeit von den russischen Gegenübern allzu oft nicht anerkannt wird. Wie die ukrainische ist auch die mongolische Geschichte mit der russischen verwoben. Bis heute bestehen viele familiäre und soziale Verbindungen. Wichtige physische Infrastrukturen sind eng miteinander verflochten.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij selbst hat einen Teil seiner Kindheit in der mongolischen Stadt Erdenet verbracht, wo sein Vater am Aufbau und an den frühen Betriebsjahren des gleichnamigen Bergbau- und Metallkomplexes beteiligt war. Damals war das Bergwerk die größte Tagebaumine in ganz Asien. Von dort wurde Kupfererz direkt zu den Schmelzöfen in Kasachstan transportiert und Molybdän gefördert, das für hochwertige Stahllegierungen benötigt wird.

Nach einer Studentenrevolution 1989 und 1990 fanden in der Mongolei erstmals demokratische Wahlen statt. Seitdem hat das Land ein System weitreichender internationaler Beziehungen aufgebaut. Neben „strategischen Partnerschaften“ mit seinen beiden Nachbarn Russland und China verfolgt es auch eine Politik der „Drittnachbarn“. In diesem Rahmen pflegt es gute Verbindungen zu den USA und den NATO-Ländern – darunter auch zu anderen ehemaligen Mitgliedern des Warschauer Pakts.

Mit der Revolution von 1989 und 1990, die das mongolische Politbüro zu Wahlen zwang, entwickelte sich eine Tradition regelmäßiger Demonstrationen auf dem großen Süchbaatar-Platz von Ulaanbaatar. Sie fanden vor dem Hauptregierungsgebäude statt, wo sich nun das Parlament versammelt. Bis 2005 stand dort auch das Mausoleum für den „mongolischen Lenin“ Damdiny Süchbaatar und den „mongolischen Stalin“ Chorloogiin Tschoibalsan. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2020 und 2021 gelang es der Mongolischen Volkspartei – dem Rivalen der Demokratischen Partei, die von den demonstrierenden Studenten 1989/90 gegründet worden war – ihre politische Dominanz zu festigen. Prominente Demonstrationsteilnehmer wurden verhaftet. Seitdem haben die Demonstrationen stark nachgelassen. Eine Entwicklung, die natürlich durch die Pandemiemaßnahmen – wie die Einschränkung der Versammlungsfreiheit – verstärkt wurde.

Seit der russischen Invasion in der Ukraine wird in der Mongolei wieder demonstriert.

Doch seit der russischen Invasion in der Ukraine wird wieder demonstriert. Am 28. Februar versammelte sich auf dem Süchbaatar-Platz eine Gruppe von etwa zwanzig Demonstranten mit einem langen gelb-blauen Banner, das eindeutig die ukrainische Flagge darstellen sollte. Dort gerieten sie mit der Polizei und Mitgliedern ultranationalistischer Gruppen aneinander. In den Tagen danach wehte eine ukrainische Flagge von den Speichersilos der Firma Altan Taria, einem großen mongolischen Mehlproduzenten. Das Unternehmen soll wegen dieser pro-ukrainischen Unterstützungsaktion von der Polizei aufgesucht worden sein. Seit Anfang März mischt sich die Polizei jedoch in Demonstration in Solidarität mit der Ukraine nicht mehr ein.

Am 25. März versammelten sich Demonstranten vor der russischen Botschaft in der Mongolei und forderten den russischen Botschafter auf, das Land zu verlassen. Die Botschaft hatte zuvor über die Sozialen Medien Beiträge veröffentlicht, die sich gegen „die Mongolische Demokratische Partei und andere Unterstützer der liberalen amerikanischen Hegemonie“ richteten. Darin wurde der ehemalige Trump-Berater Roger Stone mit der Aussage zitiert, in der Ukraine gebe es von den USA finanzierte „Biowaffen-Labore“.

Die Sorgen vor den Auswirkungen des Krieges steigen: In der Mongolei sind kaum noch ausländische Währungen erhältlich.

Zuletzt wurden die Demonstrationen zunehmend intensiver: Nicht nur die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine werden nun betont, sondern auch diejenige der Mongolei. Ebenso wird eine gewisse Solidarität mit Burjatien, Kalmückien und Tuwa gezeigt. Diese Republiken der Russischen Föderation sind nach den dort ansässigen Titularethnien benannt, die eng mit den mongolischen Völkern verflochten sind. Die Republiken werden häufig in einem panmongolischen Zusammenhang betrachtet. Berichten zufolge bestehen die russischen Invasionstruppen in der Ukraine hauptsächlich aus Soldaten aus diesen und anderen verarmten „ethnischen“ Republiken der Russischen Föderation.

Hier gibt es bei den Demonstranten gewisse Überschneidungen mit den Positionen jener Mongolen, die sich für „Neutralität“ aussprechen oder sogar die russische Regierung oder Vladimir Putin selbst unterstützen. Viele treibt die Sorge um die mongolische Unabhängigkeit von China um. Bedenken werden auch mit Blick darauf geäußert, wie sich die Sanktionen gegen Russland auf die mongolische Wirtschaft auswirken könnten. In der Mongolei sollen seit einigen Tagen kaum noch ausländische Währungen erhältlich sein. Internationale Flugverbindungen, die schon unter den Covid-Maßnahmen gelitten haben, wurden noch stärker eingeschränkt, seit Moskau den russischen Flugraums für europäische Fluggesellschaften gesperrt hat. Und das wird erst der Anfang sein.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Marissa J. Smith ist Kulturanthropologin und spezialisiert auf die Politik und Wirtschaft der Mongolei sowie des postsowjetischen Eurasiens. Sie schreibt regelmäßig für Mongolia Focus und The Diplomat.

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