von Günter Müchler

Dr. Günter Müchler

Wer im Sommer 2025 ein Bild von Israel in der Welt zeichnen will, steht vor der Aufgabe, einen eklatanten Widerspruch zu verarbeiten: Israel hat seinen unmittelbaren Feinden, einem nach dem anderen, die Grenzen aufgezeigt. Die iranische atomare Bedrohung ist eingedämmt. Die dschihadistischen Prätorianergarden, Hisbollah und Hamas, sind entscheidend geschwächt. Noch nie stand der jüdische Staat militärisch so stark da wie jetzt. Zugleich aber suchen Israels alte Freunde, einer nach dem anderen, das Weite. Sogar in Deutschland bröckelt die Unterstützung. Mit seiner Absage an eine „Zwangssolidarität“ gegenüber Israel hat Bundesaußenminister Johann Wadephul ein Tabu verletzt.

Eine der wenigen guten Nachrichten, die die Jerusalemer Regierung in den letzten Tagen erreichte, kam ausgerechnet von arabischen Absendern. In einer gemeinsamen Erklärung distanzierten sich 17 arabische Staaten, darunter auch Ägypten und Katar, die als Vermittler für eine Waffenruhe im Gazastreifen fungieren, in aller Form von der Terror-Miliz Hamas. Die siebenseitige Erklärung verurteilt den blutigen Terroranschlag vom 7. Oktober 2023, was für sich genommen schon bemerkenswert ist. Sie fordert darüber hinaus das politische Aus für die Hamas: „Im Rahmen der Beendigung des Krieges im Gazastreifen muss die Hamas ihre Herrschaft im Gazastreifen beenden und ihre Waffen mit internationalem Engagement und Unterstützung an die Palästinensische Autonomiebehörde übergeben.“

Der Lichtblick ging beinahe unter in einer Kaskade diplomatischer Rückschläge, die die Regierung in Jerusalem zuletzt einstecken musste. So kündigte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron feierlich (in drei Sprachen) die Anerkennung eines autonomen Palästinenserstaates an. Sie soll im September bei der nächsten Vollversammlung der Vereinten Nationen erfolgen. Zuvor hatten bereits drei andere europäische Staaten diesen Schritt vollzogen: Norwegen, Spanen und Irland. Weltweit sind es damit an die 150 Staaten, die ein sonderbares Gebilde namens Palästinenserstaat mit diplomatischem Brief und Siegel beglaubigt haben, ein Gebilde, das allerding mit einem Staat im herkömmlichen Sinne nichts zu tun hat.

Macrons „Palästinenserstaat“ besteht aus zwei räumlich voneinander getrennten Teilen, dem Westjordanland und dem Gazastreifen. Im ersteren „regiert“ eine Autonomiebehörde, die mit ausländischem Geld durchgefüttert und angeführt wird von der unvermeidlichen und zutiefst korrupten Fatah. Demgegenüber befindet sich der Gazastreifen in der Hand der islamistisch-terroristischen Hamas, die der Fatah spinnefeind ist. Für eine Zwei-Staaten-Lösung, die das Gedankenkonstrukt für die derzeitigen politischen Bemühungen bildet, ist die Hamas im Übrigen kategorisch nicht zu haben. Für sie gibt es nur einen einzigen Staat in Palästina, einen, der „from the river to the sea“ reicht und in dem für Juden kein Platz ist.

Angesichts dieser Voraussetzungen kommt Macrons Anerkennungsofferte, die ihm eine heftige Replik aus Jerusalem eingetragen hat, bestenfalls deklamatorische Bedeutung zu. Sie wird die Tagesordnung im Nahen Osten nicht verändern. Umso mehr stellt sich die Frage nach den Motiven. Ein Motiv – Rücksichtnahme auf die islamischen Mitbürger – wird man im Élysée weit von sich weisen. Plausibel wäre es trotzdem. Der islamische Bevölkerungsanteil Frankreichs ist hoch (wie genau, will man im laizistischen Frankreich gar nicht wissen), viel höher als der jüdische, und er nimmt weiter zu. Der Krieg in Gaza bringt die Muslime in Wallung, auch solche, die keinerlei Sympathie für die Hamas hegen. Damit wächst die Angst vor neuen Anschlägen in Frankreich und überall in Europa. Diese Gefahr zu mindern, indem man der islamischen Welt ein Zeichen des Entgegenkommens schickt, wäre eine nachvollziehbare Handlungsweise. Die Sprecher der muslimischen Gemeinschaft in Frankreich haben Macrons Entspannungsmimik Beifall gezollt.

Ein anderes und mindestens genauso gewichtiges Motiv ist die Passion, die im Gazastreifen abläuft, sind die Bilder apokalyptischer Zerstörung und der unendlich vielen hungernden, leidenden oder getöteten Menschen. Wie selbstverständlich werden die Opfer auf das Konto der israelischen Kriegführung gebucht, was erklärt, weshalb im Westen manche Regierung es für zwingend notwendig oder doch für klug hält, auf Distanz zu gehen und aufzuhören, ein Freund und Unterstützer Israels zu sein. Selbst Israelis wenden sich ja von Israel ab. „Der Leichenberg erinnert uns an den Abgrund, in den wir gestürzt sind“, sagt Etgar Keret, Schriftsteller aus Tel Aviv.

Der Eindruck einer maßlosen israelischen Kriegführung kommt nicht von ungefähr und ist nur schwer aus dem Feld zu ziehen. Er entsteht aufgrund tatsächlicher Handlungen, hängt aber auch zusammen mit der Art, wie dieser Krieg geführt und wie er wahrgenommen wird. Das häufig zitierte Wort, dass in jedem Krieg zuerst die Wahrheit stirbt, trifft auf den aktuellen Konflikt in besonderer Weise zu. In diesem Krieg hatte die Wahrheit von Anfang an nicht den Hauch einer Chance.

An der Kriegführung in Gaza ist nichts normal. Militärexperten sprechen von einem „asymmetrischen“ Krieg. Was das bedeutet, wird uns seit zwei Jahren allabendlich in den Fernsehnachrichten vorgeführt. Man sieht zertrümmerte Wohngebäude, israelische Armeesoldaten, israelische Panzer. Und man sieht die Opfer. Keines der Opfer trägt Uniform. Dass im Krieg stets zwei Armeen miteinander kämpfen, gilt für diesen Krieg offenbar nicht. Wie heißt es in der „Dreigroschenoper“? Denn die einen sind im Dunkeln, und die anderen sind im Licht. Hamas-Kämpfer sah man in den Nachrichtensendungen des deutschen Fernsehens nur ein einziges mal. Das war, als abgehärmte, zum Austausch bestimmte israelische Geiseln in demütigender Weise zur Schau gestellt wurden. Sonst blieb die zweite Rolle im Kriegstheater unsichtbar, unbesetzt. Sie wurde (und wird) von denen eingenommen, die sichtbar sind, das heißt von der Zivilbevölkerung. Gegen wen kämpft Israels Armee? Nach den Bildern zu urteilen gegen Zivilisten, gegen Alte, Frauen und Kinder.

Die Wahrheit ist: Die Hamas hat Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen und ganze Stadtvierteil untertunnelt. Ihre Kämpfer leben im Untergrund, mutmaßlich gut genährt dank abgezweigter Hilfslieferungen karitativer Organisationen. Schießen sie? Vielleicht ja, vielleicht nein. Sie müssen es gar nicht: In Fernsehbilder übersetzt, ist jeder Bombeneinschlag in einem Krankenhaus, ist jede Leiche von Unbeteiligten, für die Hamas das, was in einem normalen Krieg ein unschätzbarer Geländegewinn ist. Man darf annehmen, dass die Hamas genau auf diese Logik setzte, als sie durch das Massaker am 7. Oktober 2023 Israel einen Krieg aufnötigte, den sie, die Hamas, von Anfang an „asymmetrisch“ führen wollte.

Im „asymmetrischen“ Krieg steht die journalistische Berichterstattung vor einer besonderen Herausforderung. Sie muss mit Worten vermitteln, was die Bilder nicht hergeben können. Im Gaza-Krieg müsste sie erklären, weshalb er so verstörend anders geführt wird als andere Kriege. Weshalb es keine Bilder von Hamas-Kämpfern gibt. Man müsste die leidenden Menschen nicht nur in ihren Totenklagen abbilden. Man müsste sie fragen, was sie über die Hamas denken, die sie kommandiert. Und wenn solche Fragen nicht möglich sind, müsste man erklären, warum. Ein einziges Mal sah man im Fernsehen Bilder von einer Demonstration in Gaza. Über das, was später mit den Demonstranten geschah, erfuhr man nichts. Auch wenn das Urteil vielleicht etwas pauschal ist: Man kann der journalistischen Berichterstattung den Vorwurf nicht ersparen, statt das „Asymmetrische“ an diesem Krieg zu entlarven, es noch zu bestärken. Man zeigt die Bilder, über die man verfügt, und führt die Zuschauer, ohne es zu wollen, auf den Leim, den die Hamas gelegt hat.

Die Bilder wirken. Sie sind unerträglich. Westliche Politiker, die auf die Zustimmung der Bürger angewiesen sind, können sie nicht einfach ignorieren. Leichter ist für sie, sich in der fabrizierten Schieflage einzurichten. Kürzlich sorgte ein internationaler Appell zu sofortiger Einstellung der Kampfhandlungen in Gaza für Aufsehen. Er richtete sich unverkennbar an die Adresse Israels. Ganz nach der in den Medien gebetsmühlenartig wiederholten Lesart, der Krieg dauere nur deshalb an, weil Netanjahu den Prozess gegen seine Person aussitzen wolle. Eine schlichtere Deutung ward selten gehört! Wäre es nicht an der Hamas, das unendliche Leid der eigenen Bevölkerung zu beenden? Sie, die den Konflikt anzettelte, hätte ihn ohne die Zivilbevölkerung als Schutzschild nicht eine Woche überstanden. Warum legt sie nicht spätestens jetzt, nach zwei Jahren und mehreren zehntausend Ziviltoten, die Waffen nieder? Warum gibt sie die Geiseln nicht frei, die noch lebendig sind?

Die deutsche Bundesregierung hat den internationalen Appell nicht unterzeichnet. Aus den Reihen der Opposition und der mitregierenden Sozialdemokratie trug ihr das schwere Vorwürfe ein. Merz hat sich auch der Anerkennungs-Initiative Macrons nicht angeschlossen. Ob er das Wegbröckeln der Solidarität hierzulande stoppen kann, ist freilich ungewiss. Je länger der Krieg dauert, desto kritischer blickt auch die deutsche Öffentlichkeit auf Israel. Nach dem jüngsten ARD-Deutschlandtrend sagen mittlerweile fast zwei Drittel (63 Prozent der von infratest dimap Befragten), die militärische Reaktion Israels gehe zu weit. Und fast drei Viertel (73 Prozent) halten es für nicht gerechtfertigt, wenn von den militärischen Aktionen Israels gegen die Hamas auch die palästinensische Zivilbevölkerung betroffen ist.

Auch auf der politischen Ebene hat das Abstandnehmen begonnen. Dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo der Aufnahme diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel vor 6o Jahren gedacht wird. Die Rufe von links, Israel mit Sanktionen zu bestrafen und die Waffenlieferungen einzustellen, nehmen an Lautstärke zu. Eine Sondernummer leistete sich Bundesaußenminister Johann Wadephul (CDU), als er – hoffentlich nur ein fauxpas – vor einer „Zwangssolidarität“ mit Israel warnte. Man möchte die Leute nicht kennen, die Wadephul bei diesem Wort heimlich Beifall spendeten!

Glücklicherweise haben sich der Kanzler und mit ihm die meisten CDU-Politiker der breiten Freundesflucht nicht angeschlossen. Ein palästinensischer Staat soll nach Merz erst dann anerkannt werden, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen sind. Dazu gehört, dass der jüdische Staat ohne Angst leben kann (übrigens sollten auch die jüdischen Deutschen in ihrem Land ohne Angst leben können!). Diese Linie ist konsequent. Man kann die Regierung in Jerusalem kritisieren. Tatsächlich macht sie es den Freunden Israels außerordentlich schwer, indem sie den Krieg maß- und ziellos führt. Israel wird diese Kritik aushalten. Israel ist eine Demokratie, die einzige in der Region. Es gehört zum Westen. Israel in einer extrem schwierigen Situation zu unterstützen, ist eine Pflicht, die aus der deutschen Schuld am Holocaust herrührt. Darüber hinaus liegt es im deutschen Eigeninteresse, einen Partner bei der Stange zu halten, der für die Ausrüstung der Bundeswehr so wichtig ist.

Dr. Günter Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.