Diebstahl an der Zukunft
Gefährlich und kurzsichtig: Warum die Militarisierung Deutschlands keine industriepolitische Lösung ist.

Der US-Präsident Eisenhower warnte bereits 1953 vor den Kosten der Aufrüstung. „Jede hergestellte Waffe, jedes vom Stapel gelassene Kriegsschiff, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an jenen, die hungern und nicht gespeist werden, an jenen, die frieren und nicht gekleidet werden.“ In der aktuellen politischen Debatte werden steigende Ausgaben für die Verteidigung bisweilen als „industriepolitische Chance“ und Rüstungsinvestitionen als Wachstumsmotor verkauft. Ist das die Zukunftsagenda, die uns aus der Krise retten soll? Die Transformation unseres Wirtschaftssystems in eine Art Kriegswirtschaft wird weder die deutsche Industrie nachhaltig beleben noch die eigentlichen Ursachen der industriellen Krise lösen. Im Gegenteil: Sie bindet dringend benötigte Ressourcen, Fachkräfte und politische Energie in einer Industrie, die strukturell auf permanenten Konflikt angewiesen ist und deren Produkte bestenfalls ungenutzt in Depots verstauben.
Wenn es um Investitionen in die Verteidigungsfähigkeit geht, wird zu Recht die Oligopolstellung der Rüstungsindustrie kritisiert: Steigende Nachfrage führt hier zwangsläufig zu höheren Preisen. Keine Branche ist derart konzentriert wie die Rüstungsindustrie: In den USA gehen über 50 Prozent der Pentagon-Ausgaben an nur fünf Konzerne. Europa produziert zwar viele unterschiedliche Waffensysteme verglichen mit nur wenigen Modellen in den USA – doch die Vielfalt täuscht: Statt echten Wettbewerb zu schaffen, dominieren in jedem europäischen Land nationale Champions faktisch konkurrenzlos. Das Ergebnis: monopolistische Preise ohne Skaleneffekte. In Deutschland und in Frankreich machen die jeweils zwei größten Rüstungsunternehmen jeweils rund 70 Prozent der Branchenumsätze aus. Ob ein Teil der Lösung des Problems in der Ausnahme von Schuldenregeln und der Fütterung des Oligopols mit dreistelligen Milliardenbeträgen liegt, sei dahingestellt. Die Dominanz weniger Mega-Konzerne in der Waffenproduktion bedeutet zudem, dass jeder dieser Top-Player mehr Geld für Lobbyarbeit und Einflussnahme zur Verfügung hat. Mehr Produktionsstätten und Beschäftigte in politisch wichtigen Regionen schaffen zusätzlichen Druck auf Abgeordnete.
Wenn Verteidigungsindustrie tatsächlich so strategisch wichtig ist, wie behauptet wird, stellt sich eine grundsätzliche Frage: Warum sollte sie in privaten Händen bleiben? Die Idee ist nicht neu: Franklin D. Roosevelt forderte im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs hohe Steuern auf „excess profits“ und warnte, niemand solle sich durch Krieg bereichern. Im 18. Jahrhundert wurde die Rüstungsproduktion weitgehend verstaatlicht – nicht zuletzt um zu verhindern, dass Waffen an verfeindete Armeen verkauft wurden. Nationale Verteidigung kann nicht den Anreizen privater Unternehmen überlassen werden. Rüstungsunternehmen sind auf staatliche Abnahmegarantien, Produktionshilfen und Forschungsförderung angewiesen – eine Sozialisierung von Kosten und Risiken. Gleichzeitig bleiben Gewinne und strategische Entscheidungen privat. Der Steuerzahler investiert, die Aktionäre kassieren.
Nationale Verteidigung ist ein öffentliches Gut und eine Kernfunktion des Staates.
Die zentrale Frage lautet nicht, ob der Staat innovieren kann, sondern ob Innovation vom öffentlichen Interesse oder von Aktionärsrenditen gesteuert werden soll. Nationale Verteidigung ist ein öffentliches Gut und eine Kernfunktion des Staates. Wenn dieser Sektor tatsächlich ausgebaut werden soll, dann unter demokratischer Kontrolle und ohne Profitmotiv. Sonst verzerren finanzielle Anreize für Waffenproduktion die Verteidigungspolitik; ein gefährlicher Interessenkonflikt. Eine Vergesellschaftung der Rüstungsindustrie ist keine Patentlösung für alle Probleme, aber sie würde zumindest sicherstellen, dass strategische Entscheidungen am öffentlichen Interesse und nicht am Shareholder-Value ausgerichtet werden.
Eine militarisierte Wirtschaft schafft ihre eigene Logik: Sie ist strukturell darauf angewiesen, dass irgendwo auf der Welt ständig Krieg herrscht – nicht nur für den Export, sondern auch zur Systemerprobung und Nachfragesicherung. Die politische Abhängigkeit liegt auf der Hand: ohne Kriege keine Nachfrage, ohne Nachfrage keine Arbeitsplätze. Zu unterscheiden ist zwischen einer aufgeblähten Rüstungsindustrie, die wirtschaftlich von Konflikten lebt, und bestimmten sicherheitspolitischen Grundfähigkeiten, die jeder souveräne Staat unabhängig von einer Kriegswirtschaft benötigt. Basisfähigkeiten wie Luftverteidigung oder Cyberabwehr rechtfertigen jedoch keine industriepolitische Illusion, in der Aufrüstung als Wachstumsmodell verkauft wird.
Die Antwort auf hybride Kriegsführung sind keine Panzer, sondern soziale Resilienz. Funktionierende öffentliche Dienste, bezahlbare Energie, gute Arbeit und sozialer Zusammenhalt schützen gegen Destabilisierungsversuche. Eine Priorisierung der Rüstungsindustrie bei der Bindung technischer Fachkräfte kann langfristig zulasten der gesellschaftlichen Resilienz in Bereichen wie Gesundheit, Bildung und ziviler Innovation gehen. Deutschland steht vor der größten wirtschaftlichen Transformation seit der Industrialisierung. Jeder Ingenieur, der Waffensysteme entwickelt, fehlt woanders. Dekarbonisierung, Erneuerbare, Verkehrswende, Verwaltungsdigitalisierung – all das erfordert genau die hoch qualifizierten Fachkräfte, die nun systematisch in die Rüstungsindustrie gezogen werden sollen. Rüstungsausgaben mobilisieren enorme Mittel, schaffen aber kaum nachhaltigen wirtschaftlichen Nutzen: Ein Panzer erzeugt keine Energie, fördert keine Innovation und baut keine Infrastruktur.
Rüstungsausgaben entfalten nur begrenzte gesamtwirtschaftliche Effekte und binden Kapital, das außerhalb des militärischen Sektors kaum produktiv wirkt. Demgegenüber zeigen Studien, dass Investitionen in Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und erneuerbare Energien deutlich höhere Beschäftigungs- und Wertschöpfungseffekte haben. Sie wirken lokal, sind weniger importabhängig und erzeugen reale Wertschöpfung. Selbst die oft beschworenen „Dual-Use-Innovationen“ taugen kaum als Argument, denn zivile Forschung wäre ohne militärische Umwege effizienter, transparenter und gesellschaftlich sinnvoller. Jeder seltene Rohstoff, der in ein Raketenlenksystem wandert, fehlt bei Batterien, Elektromotoren oder beim Netzausbau. Kurz gesagt: Geld für Waffen verpufft.
Ein besonders fataler Aspekt der Verteidigungsagenda ist der Versuch, die Krise der Automobilindustrie mit Rüstungsproduktion zu „lösen“.
Ein besonders fataler Aspekt der Verteidigungsagenda ist der Versuch, die Krise der Automobilindustrie mit Rüstungsproduktion zu „lösen“. Der Vorschlag, Automobilzulieferer sollten auf militärische Produktion umstellen, ignoriert fundamentale ökonomische Realitäten und die Geschichte. Nach dem Kalten Krieg scheiterten viele Konversionsversuche von Rüstungs- zu Zivilproduktion an fehlender Marktkenntnis und mangelnder Wettbewerbsfähigkeit. Der umgekehrte Weg von zivil zu militärisch birgt die gleichen Risiken.
Drei Gründe sprechen dagegen: Erstens entstehen Pfadabhängigkeiten: Investitionen in Produktionsanlagen und Know-how binden Unternehmen langfristig an die Rüstungsproduktion. Zweitens werden die strukturellen Schwächen der Automobilindustrie nicht gelöst, sondern zementiert, weil die nötige Transformation verschleppt wird. Drittens brauchen Automobilzulieferer keine Konversion zu Waffenproduktion, sondern eine Transformation zu nachhaltiger Mobilität: Dort liegen langfristige Zukunft und wachsende Märkte.
Die deutsche Automobilindustrie verfügt weiterhin über beträchtliche Exportkraft, Know-how und Kapital. Was fehlt, ist nicht militärische Ersatzproduktion, sondern eine konsequente Modernisierung hin zu nachhaltiger Mobilität. Rüstung kann keine Zukunftsmärkte ersetzen, aber die Transformation blockieren. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) nennt hohe Energie- und Arbeitskosten als Hauptprobleme der deutschen Industrie. Die Umstellung der Produktion auf Militärgüter wird diese Probleme nicht lösen. Günstige, saubere Energie ist der Schlüssel zur Reindustrialisierung, nicht die Konversion zu Waffenproduktion. Strukturpolitisch ist die Auto-Rüstungs-Konversion ein Irrweg. Sie bietet kurzfristige Linderung für einzelne Betriebe, verschärft aber langfristig die strukturellen Probleme und verhindert die notwendige ökologische Transformation der Industrie.
Deutschland und Europa stehen vor einer fundamentalen Weichenstellung bei der Prioritätensetzung. Die Gefahr ist nicht nur, dass vermehrt militärisch investiert wird, sondern dass die Militarisierung der Wirtschaftspolitik die sozial-ökologische Transformation in die zweite Reihe drängt. Wenn Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse ausgenommen werden, während für Klimaschutz, Bildung und Gesundheit weiter Haushaltsdisziplin gilt, dann ist die Priorisierung eindeutig. Wenn Ingenieure und Fachkräfte systematisch in die Rüstungsindustrie gelenkt werden, fehlen sie in den Bereichen, die unsere Zukunft langfristig sichern. Wenn politische Energie und öffentliche Aufmerksamkeit von Aufrüstungsdebatten absorbiert werden, verliert die ökologische Transformation an Dringlichkeit.
Es geht um die Frage, was im Zentrum der Industriepolitik steht und was an den Rand gedrängt wird. Eine Wirtschaftspolitik, die Aufrüstung als „Chance“ begreift und ihr unlimitierte Ressourcen zur Verfügung stellt, während die existenzielle Herausforderung der Klimakrise und der damit einhergehenden sozial-ökologischen Transformation als nachrangig behandelt wird, hat ihre Prioritäten falsch gesetzt.
„Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Eine sozialdemokratische Industriepolitik heute müsste diesem Geist folgen: Investitionen in Kooperation statt Konfrontation, in Transformation statt Destruktion. Eisenhowers Warnung von 1953 gilt heute mehr denn je: Jeder für Waffen ausgegebene Euro ist ein Diebstahl an der Zukunft – an besseren Schulen, Krankenhäusern, Klimaschutz und sozialer Sicherheit. Es ist ein Diebstahl am Genie unserer Wissenschaftler und an den Hoffnungen unserer Kinder, die eine lebenswerte Zukunft verdienen.

Julian Rossmann hat Politikwissenschaften an der Universität Wien studiert. Derzeit arbeitet er im EU-Büro der FES in Brüssel. Politisch aktiv ist er bei der Federation of Young European Greens.



