Nasenstüber im Zwischenzeugnis ?
von Dieter Weirich

Wäre die Ampel nicht gescheitert, hätten am kommenden Sonntag 13,7 Millionen Wähler im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen ihre Stimme sowohl für den Bund als auch für ihre Städte und Gemeinden abgeben können. Nun kann die schwarz-rote Regierungskoalition in Berlin erstmals ein Zwischenzeugnis nach etwas mehr als hundert Tagen von den Wählern zwischen Rhein und Weser ausgestellt bekommen.
Freilich darf man diesen ersten Stimmungstest nach der Bundestagswahl nicht überbewerten, spielen bei lokalen Abstimmungen doch oft engere heimatliche Probleme eine zentrale Rolle. Ernst wird es erst 2026, wenn im März die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz und nach der Sommerpause die landespolitischen Entscheidungen in Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern anstehen.
Vertraut man Meinungsumfragen, werden in NRW die AfD, die mit 14 Prozent ihr letztes Ergebnis verdreifachen könnte und die klar über die Fünf-Prozent-Grenze kommenden Linken die Profiteure des bevorstehenden Urnengangs sein. Mit prozentualen Abschlägen müssen die Berliner Regierenden rechnen. Nasenstüber für die Volksparteien sind freilich zu erwarten, einen „blauen Durchmarsch“ wie im Osten teilweise befürchtet wird es aber nicht geben.
Stärkste Partei dürfte die CDU bleiben, die mit 32 Prozent rechnen kann, der SPD wird in ihrer einstigen Hochburg eine weitere Dezimierung vorausgesagt, am schlimmsten könnten freilich die Grünen gerupft werden, die in Aachen und Bonn Oberbürgermeister stellen, deren Wiederwahl unsicher ist. Die größte Ratsfraktion könnte die Öko-Partei allerdings in Köln stellen, wo die parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reker nicht mehr kandidiert.
Die entscheidende Frage für die SPD ist, wie rot das Ruhrgebiet bleibt. Die Genossen haben mit Sören Link und Thomas Westphal in Duisburg und Dortmund populäre Oberbürgermeister, in Bochum und Gelsenkirchen stellen sich die Amtsinhaber freilich nicht mehr zur Wahl, den sozialdemokratischen Bewerbern fehlt es also am Amtsbonus.
Die CDU setzt auf den beliebten Rathauschef Stephan Keller in Düsseldorf und Thomas Kufen in Essen, bei den Landratswahlen und der Bestimmung über die Kreistage wird die Union wahrscheinlich mehrheitlich das Bild beherrschen.
Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als „liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.
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